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DER KOFFER

von Susanne Stahr



Philip presste den kleinen, abgeschabten Koffer aus hellbraunem Leder an seine Brust. Auch wenn nur ein wenig Schmutzwäsche darin war, es war sein Koffer und er wollte ihn nicht verlieren. Er ärgerte sich noch immer über diesen Rüpel, der ihn am Bahnhof von Stroudsburg so brutal angerempelt hatte, dass ihm das gute, alte Stück aus der Hand gefallen war. Beinahe wären die Gepäckstücke vertauscht worden, denn der Koffer dieses ungepflegten, jungen Mannes, wahrscheinlich ein professioneller Dieb, sah seinem zum Verwechseln ähnlich. Aber Steven kannte sein Eigentum genau. Dieser lange Kratzer neben dem Griff war unverkennbar.
Seufzend ließ er seinen mageren Körper in die verschmuddelten, plastikbezogenen Polster des 3. Klasse-Waggons sinken. An den Mief nach Staub, abgestandener Luft und altem Metall hatte er sich schon gewöhnt. Noch eine halbe Stunde, dann war er wieder zu Hause. Eine halbe Stunde Galgenfrist, dann musste er Helen das enttäuschende Ergebnis seiner Reise nach Stroudsburg mitteilen. Tante Agathe war gar nie so reich gewesen wie er immer angenommen hatte. Die Erbschaft erschöpfte sich in alten Kleidern, die er gleich einer Hilfsorganisation übergeben hatte, Tante Agathes Hörgerät und einigen scheußlichen Nippes-Figuren. Das Haus war so verschuldet, dass die Bank darauf Anspruch erhob sobald die alte Lady ihren letzten Atemzug getan hatte. Der Traum von der Europareise zerrann wie ein Eiswürfel im Ausschnitt einer heißen Blondine. Helen würde wie immer ihm die Schuld zuschieben.
Gedankenverloren ließ er den Koffer zwischen den Beinen auf den Boden sinken. Was würde er darum geben, wenn er seiner Frau statt der gebrauchten Wäsche einen ordentlichen Packen Banknoten und vielleicht diese hübsche, gelbe Seidenbluse, die sie sich schon so lange wünschte, übergeben könnte!
Der Zug fuhr ratternd über eine Weiche. Philip schloss die Knie eng um den Koffer, da die Vibrationen ihn davon hüpfen lassen wollten. Vor dem Fenster zog die hügelige Landschaft Pennsylvanias vorbei. Die untergehende Sonne versah die weißen Wolken mit rosa Rändern, wie Stickereien auf einem Kissen. Einige Schwalben zogen wie Scherenschnitte über den Himmel. Ein kleiner Junge spielte auf einer Wiese mit einem Mischlingshund und winkte fröhlich dem Zug zu. Steven nahm nichts davon wahr.
Als der Zug bremste, stand er auf und ging ohne sich umzusehen zur Tür. Deshalb fiel ihm auch das Loch, das in der Bodenplatte des Waggons klaffte, gar nicht auf. In seinem Magen schien ein Knoten von Klapperschlangen zu liegen. Was sollte er tun? Helen würde einige Tage lang nicht mit ihm sprechen, das Essen versalzen oder anbrennen lassen. Nach spätestens fünf Tagen, angefüllt mit reumütigen Schuldbekenntnissen, würde ein Blumenstrauß die Sache vergessen machen. Mit hängendem Kopf stieg er aus und sah dem Zug sehnsüchtig nach. Wie gern wäre er einfach weitergefahren! Bis ans Ende der Welt.

Vorsichtig führte er den Schlüssel in das Türschloss seiner Wohnung, in der Hoffnung, dass Helen es nicht hörte. Er wollte die Begegnung so lange als möglich hinauszögern. Die Strategie gelang nur teilweise. Er kam zwar ungesehen ins Vorzimmer, aber als er den Koffer auf den Kleiderschrank schieben wollte, stand seine Frau vor ihm.
"Du hast dich natürlich übers Ohr hauen lassen!", sagte sie verächtlich. "Gib mir den Koffer, Phil. Die Sachen müssen doch gewaschen werden." Ungehalten riss sie ihm den Griff aus der Hand und verschwand im Badezimmer.
Schleppenden Schrittes ging Philip in die Küche. In der Mikrowelle stand ein lauwarmes Steak in einer hellbraunen Soße, aus der undefinierbare Brocken ragten. Nach zwei Minuten warf die Soße Blasen, das Fleisch war hart wie eine Kreppsohle und das Ganze roch nach dem Putzmittel, mit dem Helen immer das Gerät reinigte. Er schlang es trotzdem hinunter. Seine Frau sollte so wenig als möglich zu beanstanden haben. Danach hatten die Klapperschlangen ihren Platz in seinem Magen einer Geröllhalde überlassen. Ob er sich einen Whiskey genehmigen sollte? Lieber nicht. Magenschmerzen waren immer noch besser als Helens Gekeife.
Langsam versank er in Selbstmitleid. Er hatte sie enttäuscht, wieder und wieder. Als sie vor sechzehn Jahren heirateten, war er voller Pläne gewesen. Doch die Realität hatte ihn bald eingeholt. Trotz seiner guten Zeugnisse bekam er nur einen schlecht bezahlten Job als Buchhalter in einem Versandhaus. Und Helen musste weiterhin als Verkäuferin arbeiten. Jetzt waren ihre ehemals wohlgeformten Beine durch das stundenlange Stehen von Krampfadern entstellt. Arme Helen! Er wollte sie auf Rosen betten. Doch was hatte sie bekommen? Eine Zweizimmerwohnung, in der die altmodischen Möbel längst abgewohnt waren, bevor noch die letzte Rate für sie bezahlt war. Widerstandslos gab er sich seinem Elend hin.
"Philip!" hörte er Helen in unerwartet sanftem Ton rufen und hob den Kopf. Seine Frau segelte mit ausgestreckten Armen auf ihn zu. Ein glückliches Lächeln brachte einen Abglanz ihrer früheren Schönheit zurück. Sie hatte die klein gemusterte Schürze abgelegt und trug jetzt eine feine, zartgelbe Seidenbluse. Und in ihrer Hand hielt sie ein dickes Bündel 100 Dollarscheine. "Es tut mir leid, Philip", schnurrte sie reumütig. "So wie du nach Hause gekommen bist, dachte ich ... naja, ich hatte einen schweren Tag ..." Sie setzte sich auf seinen Schoß und biss ihn zart ins Ohr.
Wann hatte sie das zuletzt gemacht? Ihre Sitzknochen stachen schmerzhaft in seine schlaffen Schenkel, aber er war so überrascht, dass er sie nur anstarren konnte.
"Helen, ich ..." Weiter kam er nicht, da ihm der Mund mit einem Kuss verschlossen wurde. In den nächsten Stunden bewies ihm Helen, dass das Feuer der Leidenschaft noch nicht in ihr erloschen war. Anfangs versuchte er ihr noch klar zu machen, dass es sich um ein Missverständnis handeln musste. Offenbar waren die Koffer doch vertauscht worden. Doch Helen ließ ihn einfach nicht zu Wort kommen. Und er ließ sich nur zu gerne ablenken. Erst als er viel später glücklich und erschöpft im Mondlicht dalag und auf den regelmäßigen Atem seiner Frau lauschte, kamen ihm wieder Bedenken. Wie sollte er Helen nur klar machen, dass sie das Geld zurück geben mussten? Und die Bluse? Sie passte Helen wie angegossen. Ein seltsamer Zufall.
Leise kroch er aus den Federn und schlich mit angehaltenem Atem ins Badezimmer. Ja, da war der Koffer! Helen hatte ihn neben der Waschmaschine abgestellt. Vielleicht gab der restliche Inhalt Aufschluss über den Besitzer. Neugierig klappte er den Deckel auf. Im nächsten Moment fiel sein Kinn herunter, denn der Koffer war leer. Ein schneller Blick in die Trommel der Maschine und den Wäschekorb brachten ihn auch nicht weiter. Er fand nur ein paar Höschen seiner Frau. Der Koffer konnte doch nicht nur das Geld und die Bluse enthalten haben! Mit einem mulmigen Gefühl sah er in den Mülleimer, aber darin lag nur die zerknüllte Verpackung des Steaks. Vielleicht war der Koffer doch vertauscht worden. Aber der Kratzer...? Wenn er nun aber doch vertauscht war? Schade, dass nicht mehr Geld drinnen war. So ein Koffer voll Geld, sinnierte er, das wäre das Ende ihrer Sorgen. Seufzend begab er sich wieder ins Bett.

Der Kaffee duftete an diesem Tag besonders gut und die Toasts waren so knusprig wie er sie am liebsten hatte. Seine Frau schien über Nacht um zehn Jahre jünger geworden zu sein. Ihre Augen leuchteten in einem helleren Blau und sie wirkte auch sonst fröhlicher und frischer als üblich. Bei dem Gedanken, ihr Glück nun zerstören zu müssen, krampfte sich sein Herz zusammen. Sollte er vielleicht die Stunde der Wahrheit noch hinauszögern?
"Was hast du denn mit deinen Sachen gemacht?" unterbrach Helen seine Gedanken. "Sie waren nicht im Koffer."
Philip blieb der Toast im Hals stecken. Der anschließende Hustenanfall gab ihm die Möglichkeit, sich eine Ausrede auszudenken. "Naja, ..." begann er schließlich zögernd. "Ich dachte, ...... das Zeug war schon so verschlissen ...."
"Du hast recht, Darling. Diese wunderbare Bluse und deine Schmutzwäsche, das hätte nicht zusammengepasst. Wir haben ja jetzt genug Geld." Sie beugte sich ein wenig vor. "Was meinst du? Für eine neue Küche müsste das Geld reichen. Es sind mehr als sechstausend Dollar." Sie hob träumerisch den Blick zur Decke. "Da könnte sich vielleicht auch noch das Wohnzimmer ausgehen. Was meinst du, Philip?"
"Nun, ich weiß nicht ...", begann er zögernd.
"Ach, du Schlimmer!", neckte sie fröhlich. "Du hättest wohl am liebsten ein tolles Schlafzimmer."
"Ich gehe mich mal rasieren", wich er aus. Er wartete nicht auf ihr Nicken und eilte ins Badezimmer.
Der Anblick, der sich ihm hier bot, ließ ihm die Haare zu Berge stehen. Die halbe Waschmaschine war verschwunden. Es sah aus wie sauber abgeschnitten. Der Koffer lehnte schief an dem Rest. Zitternd trat er einen Schritt näher und sah, dass auch ein Teil des Fußbodens fehlte. Wie konnte so etwas passieren? Automatisch griff er nach dem Koffer und stutzte. Das Ding war ungewöhnlich schwer. Das war doch nicht möglich. Letzte Nacht hatte er doch deutlich gesehen, dass er leer war, vollkommen leer. Und jetzt war er bis oben hin voll mit sauber gebündelten Banknoten.
Mit angehaltenem Atem öffnete er die Verschlüsse und hob den Deckel. "Helen!", ächzte er und sank auf die Knie.
"Was ist denn ....? Du meine Güte! Wo kommt das her?" Blitzschnell fuhren Helens Hände in den unerwarteten Segen. "Hast du in der Nacht eine Bank überfallen?"
"Nein, Schatz", stammelte er. "Es muss der Koffer sein. Sieh doch, die Waschmaschine!" Und nun sprudelte alles aus ihm heraus. Angefangen von dem enttäuschenden Erbe, dem Zusammenstoß mit dem Fremden am Bahnhof, seinem Wunsch im Zug und zuletzt seinem nächtlichen Besuch im Badezimmer. "Es muss ein Zauberkoffer sein", schloss er unsicher. "Wenn man sich etwas wünscht, frisst er ein Stück seiner Umgebung und wandelt es in das um, das man haben möchte."
"Wir sind reich, Phil", stellte sie lakonisch fest. "Wir müssen nur vorsichtig sein, wo wir wünschen. Du hast beinahe ein Loch in den Fußboden gewünscht." Lachend setzte sie sich neben ihn auf den Boden. "Wir können diese Wohnung aufgeben und uns ein Haus kaufen. Und dann machen wie Reisen. Rom! Paris! London! Oder Hawaii! Oh, Phil, ich bin so glücklich!"

Schon am nächsten Tag kündigten sie beide ihre Jobs. Während Helen einkaufen ging, ging Phil mit dem leeren Koffer zu einem Grundstück mit einem halb verfallenen Haus. Eine Bretterwand mit einem schief in den Angeln hängenden Tor schirmte es von der Straße ab. Schnell schlüpfte Phil durch das Tor. Im Hof lag jede Menge Gerümpel herum. Um nur ja sein Geheimnis zu wahren, lehnte er den Koffer gegen einen Stapel alte Autoreifen und erleichterte sich daneben. Dabei murmelte er: "Ich wünsche mir, dass der Koffer voll Geld ist."
Vorsichtig prüfte er das Gewicht. Ja! Der Koffer war sehr schwer. So rasche er konnte, eilte er nach Hause. Dort wartete schon Helen auf ihn.
"Ich hab alles besorgt, so wie du es wolltest", berichtete sie stolz. "Und ein bisschen noch dazu", gestand sie lächelnd. "Das macht doch nichts aus."
Phil starrte sie an. Ein teurer Ring mit einem großen Diamanten glänzte an ihrer Hand. Außerdem trug sie ein neues Kleid und elegante, hochhackige Schuhe, die er noch nie gesehen hatte.
"Du siehst phantastisch aus, mein Liebes", erklärte er. "Aber wir sollten ein wenig vorsichtig sein. Hier kennen uns zu viele Leute. Am besten wird sein, wir ziehen nach Kalifornien. Dort wird sich niemand über unseren Reichtum wundern."
Verlegen biss sie sich auf die Lippen. "Du hast ja Recht", gab sie zu. "Aber es war so verlockend. All die Jahre habe ich sparen müssen .... Ach, Liebling, so schlimm war es doch gar nicht. Ich tu's auch nicht wieder, jedenfalls nicht hier, wo jeder uns kennt."
Zum Zeichen, dass er ihr nicht böse war, gab er ihr einen Kuss. "Hast du die Tasche besorgt?", fragte er.
"Natürlich." Eifrig hielt sie ihm einen Aktenkoffer aus schwarzem Leder hin.
"Sehr gut."
In den nächsten Wochen eröffnete Phil ein Konto bei der Malibu Zentral Bank, kaufte ein Haus am Strand von Malibu und buchte ein Ticket für eine Rundreise durch Europa.
Endlich saßen sie am Kennedy Airport, den magischen Koffer zwischen sich und warteten, dass ihr Flug aufgerufen wurde.
"Der Mann an den Kontrollen hat sich ganz schön gewundert, dass wir so wenig Gepäck haben", meinte Phil. "Vielleicht hätten wir doch noch einen Koffer mitnehmen sollen."
"Wozu denn?", rief Helen aus. "Der Koffer genügt doch. Er gibt uns doch alles, was wir brauchen. Oh, Liebling! Sobald wir in Paris sind, möchte ich einkaufen gehen. Ich wünsche mir Kleider von Dior und ..."
Weiter kam sie nicht. Helen und Phil waren verschwunden und mit ihnen auch die Bank, auf der sie gesessen hatten. Nur der Koffer stand da, einsam und verlassen, und voll mit Kleidern von Dior.

Ende


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