STORIES


IN DIE SCHATTEN

Folge 12

von Thomas Kager



Was bisher geschah:

Sven wurde von Unbekannten entführt und gezwungen Schaukämpfe auszutragen. Als er gemeinsam mit Wildfire und Moonshadow endlich frei kommt, stehen sie in Seattle ohne Habe und Identität praktisch vor dem Nichts. Nachdem sie einen Transportauftrag, den sie durch Ghost, dem Anführer einer Straßengang, vermittelt bekamen, abgeschlossen haben und nun etwas Geld besitzen, können sie sich daran machen, ein paar Nachforschungen anzustellen.



Aufmerksam sah sich Sven um. Es war nicht einfach, in unübersichtlichen Menschenmassen eine einzelne Person zu finden. Schon gar nicht, wenn man sie noch nie richtig gesehen hatte. Moonshadow hatte ihm zwar mit Hilfe ihrer Magie ein Bild von dem Mann gezeigt, doch das war nicht dasselbe. Ihm fehlten die typischen Bewegungen oder charakteristische Verhaltensweisen.
Von Ghosts Kontakten hatten sie erfahren, daß sich dieser Ziron öfters in diesem Einkaufszentrum herumtreiben sollte. Von diesem Dealer hatte der Penner die BTL-Chips, die Wildifre, Moonshadow und Sven bei einem ihrer Schaukämpfen zeigten. Somit war er die heißeste Spur zu den Drahtziehern ihrer Entführung und sie waren fest entschlossen, dieser Spur zu folgen.
Aber zuerst mußten sie ihn finden. Und das stellte sich als recht mühselig heraus.
Fünf Stunden schob sich Sven nun schon durch die übervollen Gänge. Bisher war die Suche ergebnislos verlaufen. Ein paar mal hatte er schon geglaubt, den Straßendealer zu sehen, doch jedes Mal wenn er sich der Person genähert hatte, hatte es sich als eine Verwechslung herausgestellt. Wildfire, die das obere Stockwerk des Geschäftszentrums zwischen dem Wohn- und dem Industriegebiet von Puyallup im Auge behielt, erging es nicht besser. Ihre Stimme über den kleinen Funkempfänger in Svens Ohr klang genauso frustriert, wie sich er fühlte. Von Moonshadow hatten sie noch nichts gehört. Sie versuchte, das Gebiet magisch zu sondieren, aber das war weitaus anstrengender und mühsamer, weil sie den Gesuchten oder besser noch, seine Aura, noch nie persönlich gesehen hatte.
Draußen mußte es schon längst dunkel geworden sein und nachdem der Menschenstrom einige Zeit etwas nachgelassen hatte, verstärke er sich nun wieder. Die Vergnügungssüchtigen hatten die Einkaufenden zum größten Teil abgelöst und Sven wurde langsam müde, doch er wagte nicht, sich ein paar Minuten Ruhe zu gönnen. Durch seine Ausbildung als Leibwächter kannte er ein paar Tricks, die ihm halfen, aufmerksam zu bleiben und er mußte sie alle nutzen.
Immer wieder musterte er die Gesichter der Vorbeihastenden und nahm das Geschehen rund um sich wahr. Er hatte inzwischen schon gut ein Dutzend Taschendiebstähle beobachtet. Der blinde Bettler drehte sich immer wieder heimlich nach den spärlich bekleideten Nutten um, die durch übermäßigen Einsatz von Kosmetik versuchten, ihr abgewirtschaftetes Äußeres zu überspielen und potentielle Freier auf sich aufmerksam zu machen. Schon eine gute halbe Stunde lagen die beiden jungen Orks in einer Ecke und schliefen lautstark schnarchend ihren Rausch aus. Zum ungezählten Male spielte der Straßenmusiker immer und immer wieder das gleiche schreckliche Lied auf der verstimmten, billigen E-Gitarre und der unermüdliche Straßenprediger hatte schon wieder eine gescheuert bekommen, weil er eine Frau zu aufdringlich zu seiner Religion der freien Liebe bekehren wollte.

***

"Ich hab ihn!" kam es plötzlich von Wildfire. Sven straffte sich. "Wo?"
"Obergeschoß, er kommt von Norden und geht in Richtung Zentralplatz." Sofort machte sich Sven auf den Weg. In der großen runden Zentralhalle der Mall entdeckte er Wildfire auf der Brüstung. Wie er selbst hatte sie ihre T-Bird-Lederjacke gegen eine unauffälligere schwarze gewechselt. Sie nickte leicht in eine Richtung und Sven erkannte den schwarzhaarigen Mittdreißiger in dem langen Mantel, wie er auf eine Treppe zusteuerte. Ja, das war Ziron. Während Wildfire ihm auf der Brüstung folgte, wandte sich Sven auf der unteren Ebene in die gleiche Richtung. Vor einer der Schaufenster blieb er stehen und tat so, als würde er die Waren darin betrachten, beobachtete aber durch die Reflexion im Glas, wie der Dealer die Stufen herunter kam. Sorglos ging Ziron an ihm vorbei und Sven wollte sich ihm schon an die Fersen heften, doch da stutze dieser plötzlich und dreht sich um. Überrascht riß er die Augen auf, als er Sven sah. Sven fluchte innerlich, weil er sich zu sicher gewesen war und nicht ausreichend aufgepasst hatte. Er hätte sich denken können, daß Ziron wußte, was und wer auf den BTL-Chips zu sehen war, die er verkaufte.
Der Dealer packte ein punkiges Orkmädchen, stieß sie in Svens Richtung und gab Fersengeld. Sven konnte in dem Gedränge nicht ausweichen und fing die Stolpernde auf, was aber ihrem Begleiter ganz und gar nicht zusagte. "He, nimm sofort deine Griffel von meiner Schnalle", brüllte er und schlug nach Sven. "Ich hab keine Zeit für diesen Mist", fluchte Sven und duckte sich unter der Faust des Orks durch. Schnell trat er ihm die Beine unter dem Körper weg und schubst das Mädchen auf ihren Freund. Ohne weiter auf das wütende Gebrüll zu achten, nahm er endlich die Verfolgung auf. Doch der Dealer hatte bereits einen beachtlichen Vorsprung und durch das Durcheinander, das er bei seiner rücksichtslosen Hast durch die Menge verursachte, verlor Sven immer mehr den Anschluß. Hektisch gab er Wildfire und Moonshadow über Funk Bescheid.
Sven sah Ziron schon entkommen, doch da machte der einen entscheidenden Fehler. Er flüchtete nach draußen.
War Sven im Inneren des Einkaufszentrums durch die vielen Besucher behindert, konnte er nun seine ki-verstärkten Fähigkeiten voll einsetzten. Doch da war er nicht der Einzige. Kurz sah er im Augenwinkel einen Schatten neben der Treppe herunter springen und schon raste Wildfire an ihm vorbei. Durch ihre Reflexbooster war sie noch ein wenig schneller und der Vorsprung des Flüchtenden schmolz rapide dahin. In der nächsten Seitengasse stellte sie ihn. Er versuchte zwar noch eine Waffe zu ziehen, doch zwei schnelle Schläge der ehemaligen Texas Rangerin und der Kampf war vorbei, noch ehe er richtig begonnen hatte.

***

Ein Schwall Wasser ins Gesicht weckte Ziron wieder auf. Hektisch versuchte er aufzustehen, doch die Stricke um seine Arme und Fußknöchel hielten ihm auf dem altersschwachen Holzstuhl fest. Seine Pistole, der Credstick, eine Handvoll optischer Chips und der restliche Inhalt seiner Taschen lagen auf dem Schreibtisch in mitten des vergammelten Büroraums. Eine alte Tischlampe leuchte ihm ins Gesicht. Dadurch konnte er nicht viel von dem erkennen, was rundherum im Dunkeln lag. Nur durch die halbblinden großen Fenster auf einer Seite schimmerte Licht.
"Schön, daß Sie wieder bei uns sind", sagte Sven auf der anderen Seite des Tisches und legte die Hände aneinander.
"Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?" wollte Ziron wissen und schnaubte das abgestandene Wasser aus Mund und Nase.
"Ich denke, Sie wissen, wer wir sind", erwiderte Sven und beugte sich etwas vor. Ziron zuckte zusammen, als sein Gesicht in den Lichtkreis tauchte. "Und was wir von Ihnen wollen, ist leicht zu erraten." Dabei stocherte er mit einem Finger in dem Haufen Chips herum.
"Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen", meinte der Dealer, doch Sven, lächelte nur böse. Er schob ein Foto, das ihn und Wildfire im Kampfstadion zeigte, an die Tischkante. Ziron warf nur einen kurzen Blick darauf.
"Auf keinem dieser Chips hier ist so etwas gespeichert. Das sind nur billige BTL-Chips aus der Massenproduktion. Doch wir wissen, daß Sie einen entsprechenden Chip einem ihrer Informanten im Industriegebiet gegeben haben."
Ziron murmelte verärgert etwas Unverständliches. Ein unerwarteter Schlag auf das Hinterhaupt warf seinen Kopf nach vorne. "Etwas deutlicher", zischte ihm Wildfire ins Ohr und baute sich neben ihm auf. Ärgerlich starrte Ziron sie an, doch als sie drohend ihre Faust ballte, schluckte er und sah wieder zu Sven.
"Das war ein Versehen. Der Chip ist viel zu gut für ihn."
"Ich will doch sehr hoffen, daß wir unser Können nicht für irgendwelche Billigware verschwendet haben", sagte Sven mit einem sarkastischen Lächeln. "Ich hoffe, unsere Show hat Ihnen zugesagt."
"Was meinen Sie?"
Wildfire fasste die Haare des Dealers an den Schläfen und riß sie grob zurück. Darunter kam eine Chipbuchse zum Vorschein. "Ts ts ts", machte Sven. "Ein BTL-Dealer, der selbst sein bester Kunde ist."
"Blödsinn. Nur weil ich mir hin und wieder etwas gönne ..."
Sven zuckte die Schultern. "Es geht mich ja auch nichts an. Wir würden aber trotzdem gerne wissen, wem wir unseren Einstieg ins Showgeschäft zu verdanken haben."
"Was, ihr wisst das nicht?" fragte Ziron ehrlich verwundert. "Ihr macht doch Witze."
Ärgerlich schlug Wildfire ihm quer über das Gesicht. "Sehen wir aus, als würden wir Witze reißen?"
"Nicht doch", tadelte Sven. "Kein Grund grob zu werden. Wenn er uns seine Quelle nennt, ist alles in bester Ordnung."
"Ihr erwartet doch nicht ernsthaft, daß ich Euch das verrate", sagte Ziron höhnisch.
"Doch, das erwarten wir", meinte Wildfire und stellte ihren Fuß auf die Stuhllehne. "Und zwar ernsthaft."
Der Dealer schrie auf, als sie den Stuhl etwas nach hinten kippte. "Hey, was soll das?"
"Kleine Schläge auf den Hinterkopf erhöhen das Denkvermögen." Damit stieß sie den Stuhl um. Ziron schrie erschreckt auf und es knackte trocken, als er mit seinem Gewicht auf seinen gefesselten Armen landete. Sein Kopf schlug auf dem Boden auf und der Schrei erstarb abrupt. Zufälligerweise lag noch eine verschlissene Decke darunter und dämpfte den Aufschlag.
"Von wem hast du die Chips?" fragte Wildfire, doch der Dealer blubberte nur etwas Unverständliches. Halb benommen schrie er erneut auf, als er ihren Stiefel auf sein Gesicht zurasen sah. Doch Wildfire zertrümmerte mit dem Tritt nur endgültig die Rückenlehne des angebrochenen Stuhles. Dann packte sie ihn und warf ihn vor Sven auf den Tisch. Es knackte, als sie ihm ihr Knie in den Rücken drückte. Sven fuhr in die Höhe.
"Was soll das?" fragte er ärgerlich und Wildfire lockerte etwas ihren Griff. Sven brachte seinen Mund ganz nah an Zirons Ohr und flüsterte: "Ich versteh dich ja. Du bekommst sicherlich Ärger, wenn du etwas verrätst. Aber sie nimmt das Ganze wirklich sehr persönlich. Und du kennst bestimmt ihre Impulsivität und ihre ungestüme Art von den Chips. Ich weiß nicht, wie lange ich sie noch zurückhalten kann, wenn du nicht ein klein wenig mit uns kooperierst."
Ziron nickte mühsam mit seinem Gesicht auf der Tischplatte. "Sehr gut. Also, wie ist der Name deines Lieferanten?"
"Ich kenne ihn nicht ....", presste der Dealer heraus. Wildfire sah Sven fragend an und dieser nickte leicht. Darauf riß sie Ziron vom Tisch und schleuderte ihn durch das Fenster in die verlassene Lagerhalle. In einem Schauer von kleinen Glassplittern stürzte er in die modernden Überreste von alten Kisten und leeren Fässern.
Wildfire setzte ihm nach, doch Sven hielt sie an der Tür auf. "Verdammt, willst du ihn umbringen?" schimpfte er.
"Warum nicht?" keifte sie zurück. "Er lügt uns doch nur die ganze Zeit an. Dem Kerl werde ich ..."
"Nichts wirst du. Hau ab und laß mich das erledigen."
Ärgerlich vor sich hin schimpfend ging Wildfire wieder zurück in das kleine Büro, während Sven sich um den stöhnenden Dealer kümmerte. "Ich hab dir ja gesagt, daß sie es sehr persönlich nimmt."
Ziron gurgelte etwas und spuckte einen Zahn aus.
"Was hast du gesagt?"
"Sarghotel .... zwei Blöcke südlich der Mall ... dort deponiert er immer die Ware .... Nummer 338 .... Code ist auf meinem Checkstick gespeichert ... ich habe ihn noch nie persönlich gesehen ... das mußt du mir glauben."
"Natürlich glaube ich dir", beruhigte ihn Sven. "Wann kommt die nächste Lieferung?"
"Morgen .... morgen Nacht ... irgendwann ... ich hol sie immer zu Mittag ab."
"Danke sehr", sagte Sven und kettete den Dealer mit einer Handschelle an ein massives Eisenregal. "Das war doch gar nicht so schwer. Wir werden uns darum kümmern und wenn alles vorbei ist, lassen wir dich wieder laufen."
Sven stand auf und wollte schon gehen, doch er drehte sich noch einmal um. "Und such dir einen anderen Job."

***

"Weißt du alles, was wir brauchen?" wollte Wildfire wissen, als sie mit Sven das alte Lagerhaus verließ. Er nickte und wiederholte, was er erfahren hatte. "Wir hätten aber ruhig warten können, bis Moonshadow da war."
"Aber warum? Dieses 'gute Bulle, böser Bulle' funktionierte doch ganz gut", entgegnete Wildfire. "Und dieser Abschaum wird's überleben."

***

Sarghotels waren eine Entwicklung, die Ende des letzten Jahrhunderts in Japan entstand und recht bald fand man sie in den Großstädten der ganzen Welt. Die "Zimmer" dieser Etablissements bestanden lediglich aus ungefähr 1 x 1 x 2 Meter großen verschließbaren Schlafeinheiten, die wie Waben in einem Bienenstock übereinander geschlichtet waren. Recht schnell wurde für sie der Begriff "Schlafsarg" gebräuchlich. Außer einer dünnen Matratze und einer schmalen Ablagefläche, gab es am Kopfende, gegenüber der Tür, nur einen eingeschränkten Technikbereich mit Trideo, Wecker und Klimaanlage. Ausreichend für alle, die nur eine billige Unterkunft für die Nacht suchten und auf Luxus oder Service keinen Wert legten und nicht unter Raumangst litten. Im Erdgeschoß befanden sich in der Regel gemeinschaftliche Sanitärräume mit diversen Verkaufs- und Waschautomaten.
Es war ruhig in der Absteige. Ohne auf einen Gast zu treffen, erreichten sie den zweiten Stock. Der Code von Ziron war korrekt und die rechteckige Tür knapp über dem Boden schwang anstandslos zur Seite. Abgesehen von den paar Checksticks auf der Kunststoffmatratze war die Schlafeinheit leer. Die Lieferung war also noch nicht erfolgt. Irgendwann zwischen jetzt und morgen Mittag mußte demnach der Bote auftauchen. Zum Glück war die Einheit 438, die direkt über 338 lag, noch frei und Sven mietete sie sofort an.
Wildfire wartete in dem kleinen Gemeinschaftswaschraum im Erdgeschoß und Moonshadow versteckte sich im Eingangsbereich eines der gegenüberliegenden Gebäude. Über Funk hielten sie Verbindung und die Micro-Kamera, die sie versteckt in einer Ecke montiert hatten, übertrug die Außenansicht von 338 auf ihre kleinen Monitore. Durch die Anschaffung dieser technischen Hilfsmittel waren ihre finanziellen Reserven ziemlich erschöpft. Sie mußten sich dringend wieder nach einem lohnenden Auftrag umsehen.
Die Nacht verlief ruhig und ohne nennenswerte Ereignisse. Noch bevor die Sonne aufging, begann ein reger Betrieb in dem Sarghotel. Die Gäste verließen ihre Schlafplätze und zeitweise staute es sich regelrecht auf den Treppen und Sanitärräumen. Doch nach ein paar Stunden war alles wieder ruhig und so gut wie alle Schlafeinheiten leer. 338 blieb die ganze Zeit unberührt. Sven und Wildfire wechselten sich alle paar Stunden in dem gemieteten Sarg ab, damit sie sich ein wenig die Beine vertreten konnten und ließen sich etwas zum Essen kommen. Ansonsten blieb ihnen nichts als warten und sich Gedanken zu machen. Gegen Abend wiederholte sich das Spiel in Gegenrichtung. Immer mehr Schlafeinheiten wurden belegt. Doch abermals rührte sich nichts bei der, die sie überwachten.

***

Es war bereits weit nach Mitternacht, als sich endlich etwas tat. Eine in Lumpen gehüllte Gestalt machte sich an der Tür zu 338 zu schaffen. Sie war ihnen schnell aufgefallen, denn für einen Stadtstreicher bewegte sie sich zu leise und zu gewandt. Nach einem sorgfältigen Rundblick öffnete sie die Schlafeinheit, nahm rasch die Checksticks, legte dafür ein kleines Paket hinein und schloß die Tür wieder. Dann schlurfte die Gestalt wieder die Treppe hinunter und verließ das Hotel.
Sven nahm sofort die Verfolgung auf, während Wildfire aus ihrer Schlafeinheit kletterte und die Lieferung kontrollierte. "Eine Menge billige BTL-Chips aus der Massenproduktion", gab sie über Funk durch. Also nicht das, was sie suchten. Sven überlegte wiederum, ob sie nicht auf der falschen Fährte waren. Der Chip, der sie gezeigt hatte, war von einer sehr guten Qualität. Viel zu gut für den Straßenverkauf, wie Moonshadow richtig gemeint hatte. Was machte so ein kleiner BTL-Dealer, wie Ziron mit so einem guten Stück? Doch sicherlich nicht weiterverkaufen. Hatte er ihn als "Werbegeschenk" bekommen? Oder als "Muster"? Vielleicht zur Belohnung für größeren Umsatz? Sie mußten später noch einmal mit Ziron reden.

***

Zum zweiten Mal innerhalb von 2 Tagen machte Sven den Fehler, sich zu sicher zu sein. Als er um eine Ecke bog, blickte er geradewegs in den Lauf einer schweren Pistole nur wenige Zentimeter vor ihm. Sofort warf er sich zurück und riß den Kopf nach hinten. Keine Sekunde zu früh, denn als der Schuß krachte, spürte Sven das Mündungsfeuer heiß im Gesicht und das Projektil dicht bei seiner Nase vorbeijagen. Seine Ohren klingelten, als er hart auf dem Asphalt aufschlug und sich sofort zur Seite rollte. Abermals verfehlte ihn eine Kugel nur um Haaresbreite. Nicht einmal seine gesteigerten Reflexe würden ihm in dieser Situation noch mehr lange helfen können. Ein dritter Schuß zerschnitt die Nacht. Doch dieser klang anders, als die beiden vorherigen.
Wildfire stand breitbeinig auf der anderen Straßenseite und zielte mit ihrer Pistole auf die reglose Gestalt. Schnell trat Sven die fallen gelassene Pistole zur Seite. Die Waffe weiter im Anschlag näherte sich Wildfire und Sven besah sich vorsichtig den Reglosen. Er war bewusstlos, atmete aber noch. Wildfire winkte hastig hinter die Ecke und gleich darauf erschien Moonshadow. Sie kniete sich neben den Verwundeten, legte eine Hand auf den Einschuß in der linken Schulter und sprach einen Heilzauber. Die Blutung stoppte fast augenblicklich.
"Danke dir", sagte Sven zu Wildfire. "Ich glaub nicht, daß ..."
"Schon okay", winkte sie schroff ab. Ihre Stimme zitterte leicht. "Laßt und von hier verschwinden."

***

Unter der Tarnung aus Lumpen war ein recht ansehnlicher Asiate zum Vorschein gekommen. Der kräftige Oberkörper war mit verschiedenen Tätowierungen verziert, die Sven an das Gerücht erinnerten, von dem Smiley ihnen vor einiger Zeit erzählt hatte. Demnach hatte ein hochrangiges Mitglied der Yakuza seine Finger bei den Vorgängen in dem ehemaligen Sportstadion im Spiel gehabt. Diese Tätowierungen ließen einen Bezug zu dieser kriminellen japanischen Organisation möglich erscheinen, beweisen konnten sie ihn aber überhaupt nicht.
Der Asiate war aus seiner Bewusstlosigkeit wieder erwacht, ignorierte sie aber komplett. Mit unbeweglichem Gesicht saß er auf den Stuhl auf dem sie ihn festgebunden hatten und ließ ihre Fragen reglos über sich ergehen. Nur ein unregelmäßiges leichtes Zucken verriet, daß ihm die Wunde Schmerzen bereitete.
Sven hätte darauf wetten können, daß der Asiate jedes ihrer Worte verstand. Doch daß eine ähnliche Vorgehensweise, wie bei Ziron erfolgreich sein würde bezweifelte er stark.
Schließlich trat Moonshadow vor den Gefangenen hin und legte die Handfläche auf seine Stirn. Als die Elfe begann, magische Worte zu formulieren, zeigte er zum ersten Mal eine Reaktion. Sven hielt es für eine Mischung aus Erstaunen und Unglauben mit einem leichten Anflug von Panik. Offenbar hatte er Moonshadow erst jetzt als Magierin erkannt. Ein regelrechter Wortschwall strömte plötzlich aus seinem Mund. Svens Japanisch war nicht mehr so gut wie früher, aber er glaubte, ein altes Gedicht zu erkennen, das der Bote unaufhörlich wiederholte. Er versuchte damit, die magische Gedankensonde zu blockieren. Es schien zu funktionieren, denn Moonshadow runzelte ärgerlich ihre Stirn und verstärkte ihre Konzentration. Aber auch der Asiate erhöhte seine Bemühungen. Er begann zu schwitzen und die Wunde in seiner Schulter brach wieder auf.
Doch die Elfe war eindeutig stärker. Ein siegessicheres Lächeln umspielte ihre Lippen, aber plötzlich riß sie die Augen auf. "Verdammt, nein!" fluchte sie und griff nach dem Kinn des Japaners, während sie einen anderen Zauber anstimmte. Ein leises Knacken war zu hören und er grinste triumphierend. Doch dann begann er die Augen zu verdrehen und unkontrolliert zu zucken. Blut aus der aufgebissenen Lippe rann ihm über das Kinn und sein Gesicht lief bläulich an. Nach ein paar Sekunden war plötzlich Ruhe.
"Verdammt!" wiederholte die dunkle Elfe verärgert. "Er hatte eine Giftkapsel im Zahn. Wenn ich es nur früher bemerkt hätte..."
"Hast du noch etwas erfahren können?" fragte Wildfire, die genauso geschockt war, wie Sven. Damit hatte keiner von ihnen gerechnet. Moonshadow schüttelte den Kopf.
"Nur vage Dinge. Zu wenig und unzusammenhängend, um damit etwas anfangen zu können."
Moonshadow steckte die Identitätskarten und Checksticks ein, die sie dem Boten abgenommen hatten. "Ich glaub zwar nicht, daß das viel bringen wird, aber vielleicht kann doch jemand etwas damit anfangen." Dann nahm sie noch ein paar Fingerabdrücke.
Rasch verließen sie den verlassenen Keller und fuhren zu dem Lagerhaus zurück, wo sie noch einmal Ziron befragten. Doch viel mehr erfuhren sie nicht von ihm. Er hatte den besonderen Chip zum "Privatvergnügen" gekauft. Von der gleichen Quelle, woher er auch seinen normale Ware bezog. Diese war aber nun versiegt und es war zu bezweifeln, daß sie erneut mit Ziron Kontakt aufnahm. Nachdem die Magierin alle seine Aussagen bestätigt hatte, ließen sie den Dealer laufen. Um Schwierigkeiten zu entgehen, würde er untertauchen.
"Das bedeutet, daß wir eine Pause einlegen müssen. Auf jeden Fall so lange, bis wir wieder genügend Geld zusammen haben, um ein paar Kontakte zu bezahlen", meinte Wildfire frustriert.
"Ja, sieht so aus", stimmte Sven zu. "Aber deshalb werden wir nicht aufgeben. Wir kriegen die Verantwortlichen noch. Es dauert nur etwas länger. Aber dann ...."
Fortsetzung folgt...


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