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WIRRWALD

von Fred H. Schόtz



"Halt!" rief eine bei aller Melodik energisch klingende Stimme und eine nervige, wenngleich schmale Hand schob sich mir entgegen. Mit der Handfläche zu mir gekehrt. Beides, Stimme sowohl wie Hand, gehörten einem Jüngling von schmaler Statur und einer Haartracht wie Prinz Eisenherz, nur daß sein Haar nicht schwarz sondern eher honigfarben war. Er trug ein silbrig schimmerndes Hemd über einer lachsfarbenen Strumpfhose und seine ebenfalls silberfarbenen Schuhe zierten gefährlich aussehende Schnabelspitzen und spitzige Sporen. Ich sah aber keinerlei Waffen an ihm, nicht einmal einen Dolch, und daraus schloß ich, daß er wohl ein Knappe war. Das hieß, ich war im Mittelalter gelandet und der Vergleich mit Prinz Eisenherz war vielleicht sogar berechtigt. Nur daß er mir Einhalt gebot, als ich mich gerade anschickte, die Brücke zu überqueren, wollte mir nicht schmecken.
Die dunklen Nächte seit Rakus' Dahinscheiden waren mir gehörig aufs Gemüt geschlagen. Ich bin nun mal ein Eulentyp, einer der erst des nachts richtig auflebt, und Mondlicht gehört dazu wie der Bart zum Geißbock. Zudem fühlte ich mich schuldig daran, daß Rakus aus Selbstzweifel vergangen war. Wer genau wissen will wie's war, kann's in meiner Geschichte "Mondlicht" nachlesen. "Ist sie tot?" fragte ich daher und fürchtete die Antwort.
Lili wiegte das feine Köpfchen. Man muß es gesehen haben, um zu begreifen wie niedlich das wirkt. "Nein, Herr," entgegnete sie, "ich glaube nicht. Göttinnen können nicht sterben."
"Aber, wo ist sie," rief ich, und so wie ich es rief, hatte ich vergessen, daß ein Fragezeichen dazu gehört. "Ihr Nachen befährt nicht mehr das Himmelswasser und das Licht ihrer Lampen geht bereits zur Neige!"
Rakus' Lampen, das sind die Sterne am Himmelszelt.
Lili senkte den Blick. "Im Limbo?" flüsterte sie und ihre zarte Gestalt erschauerte. Sie ahnte, wie meine Antwort lauten würde.
"Limbo?" rief ich voller Entsetzen und ich muß gestehen, daß ich meine Stimme nicht mehr unter Kontrolle hatte. Das Wort gellte in meinen Ohren. "Lili, wir müssen sie herausholen!"
"Ja, Herr." Lili erschauerte noch stärker, ja, sie zitterte regelrecht. Lili war schon im Limbo gewesen; sie wußte, was ich verlangte und was uns bevorstand.
So kam es, daß wir uns diesem jungen Mann gegenüber sahen, der uns den Weg verwehrte. Wollte er einen Zoll kassieren? Wegelagerer waren im Mittelalter nichts seltenes, aber sicherlich war er keiner; der Junge war einfach zu gut gekleidet.
"Halt," wiederholte er, "Sie können hier nicht durch!"
Na, das wollen wir doch mal sehen! "Warum nicht?"
"Die Brücke ist morsch," entgegnete er. "Sie würde unter ihrem Gewicht einstürzen. Und in den Raser zu stürzen würde Ihren augenblicklichen Tod zur Folge haben!"
Der Raser war so geheißen, weil er als Wildwasser durch eine enge tief eingeschnittene Schlucht raste, und die Brücke hier war die einzige Möglichkeit, auf die andere Seite zu gelangen. Was er sagte war daher ein beachtenswerter Grund. Wenn es wahr war. "Und darum stehen Sie hier und warnen alle Leute?" Mal sehen, was er dazu sagte.
Er schüttelte den Kopf. "Nein. Ich warne nur Sie!"
Oho! Was für einen Grund konnte er haben, ausgerechnet mich vom Überqueren der Brücke abzuhalten? "Niemanden sonst? Warum nur mich?"
Er zögerte und gerade als er den Mund öffnete, sagte Lili: "Ich kann drüber!"
Der Jüngling starrte sie verblüfft an. "Wa-? Nein, das wäre Selbstmord!"
"Ach was," sagte Lili.
"Los!" sagte ich.
Jetzt starrte er mich an. "Ihr müßt verrückt sein!"
Da mußte ich lachen. "Hören Sie, wenn Lili sagt, daß sie es kann, glaube ich es! Lili weiß genau, wozu sie fähig ist."
Ein Widerstreit der Gefühle spiegelte sich auf seinem Gesicht. Er biß sich auf die Lippen, stand unschlüssig. Plötzlich blickte er auf. "Wenn dem so ist, will ich mit! Ich wollte schon immer mal die andere Seite sehen."
"Haben Sie denn keine Angst?" fragte ich erstaunt. "Eben haben Sie noch gesagt, der Versuch die Brücke zu überqueren sei Selbstmord."
Sein Gesichtsausdruck war undeutbar als er sagte: "Ich riskiere lieber mein Leben, als einer verlorenen Gelegenheit hinüber zu gelangen nachzutrauern."
Das waren kühne Worte! Ich sah ihn prüfend an. Konnte man ihm vertrauen, würde ich mich auf ihn verlassen können, wenn Not am Mann war? Ich sah mich um. "Lili, was meinst du?"
Lili machte eine Bewegung, die ich als Achselzucken deutete. Aus den Augenwinkeln konnte ich ihre Gestalt nicht deutlich sehen, aber weiter konnte ich den Kopf nicht drehen. "Es ist sein Leben," sagte sie tonlos.
Da hatte sie recht. "Na schön," sagte ich, "kommen Sie mit!"
Rasch tat er die zwei Schritte, die uns trennten und legte mir die Hand auf die Schulter. "Sie werden es nicht bereuen!"
Das war als Versprechen gemeint, beschrieb jedoch ebenso den Tatbestand.
Ich war mit Lilis Weise zu reisen längst vertraut und deshalb fiel es mir nicht ein, ihn zu warnen. Als wir die unsichtbare Wand die Dimensionen trennt durchquerten, vernahm ich keinen Laut; das ist immer so in diesem unbeschreibbaren Zustand zwischen den Welten. Einen Wimpernschlag später waren wir bereits auf der anderen Seite und da hörte ich sein Keuchen: er hatte den Atem angehalten. "He!" sagte er mit unterdrückter Stimme. Das war der einzige Kommentar den er abgab.
Das Land jenseits des Raser ist wo anders und deshalb wird es Woanders genannt. Das heißt, so wurde es von den Leuten genannt die auf "unserer" Seite wohnten. Ob's drüben Menschen gab und was für einen Namen die für ihr Land hatten war uns nicht bekannt. Es war ein desolat wirkendes Ödland wohin zu reisen es sicher einen guten Grund geben mußte. Wie zum Beispiel Rakus suchen gehen. Was von drüben wie Gestrüpp ausgesehen hatte, erwies sich als veritabler Dschungel der bis nahe an den Abgrund wucherte. Ein Weg führte von der Brücke in diese Wildnis, war aber gleich am Beginn so stark von Vegetation überwuchert, daß er kaum noch auszumachen war. Keine fünfzig Meter weiter war er zu Ende.
Für mich allein im Rollstuhl wäre ein Weiterkommen unmöglich gewesen und auch der Knappe hätte Schwierigkeiten gehabt, sich da hindurch zu kämpfen. Lili schob meinen Rollstuhl hindurch als ob wir uns auf einer ebenen wohlgepflasterten Straße befänden - dicht vor mir lösten sich Dornenhölzer, Lianen und Gestrüpp in Nichts auf und flossen hinter uns wahrscheinlich wieder zusammen, aber das konnte ich nicht sehen. Der Knappe schritt leichtfüßig neben mir; falls ihm die ungewohnt leichte Art voranzukommen suspekt erschien, sagte er nichts.
Es war heller Tag gewesen, als wir die Schlucht überquerten. Aber hier im Dschungel herrschte, verursacht von der dichten grünen Vegetation, dunkelste Nacht. Es war unheimlich still; kein Vogel sang und kein Tier schlüpfte heimlich vor uns durch das Unterholz. Nur gelegentlich ertönte gedämpftes Knacken lebenden Holzes, das womöglich unter der Last der auf ihm wuchernden Schlingpflanzen nachgab oder auch nur vom Wind in den Baumkronen hoch über uns bewegt wurde.
Es mögen hundert Jahre vergangen sein oder auch nur zehn Minuten die mir wie eine Ewigkeit erschienen, als ich vor uns Helligkeit wahrnahm: ein kleiner Lichtfleck wie ein vom Himmel gefallener Stern. Der Urwald schien ein Ende zu haben.
Gleich darauf traten wir auf eine kleine Lichtung hinaus. Mitten auf der Lichtung loderte ein Lagerfeuer und dicht daneben als ob es sich daran zu wärmen suchte, saß auf der Erde ein uraltes Weiblein - so alt jedenfalls, daß sein Gesicht einem verwitterten Erdklumpen gleich schien.
Die Alte hatte einem Felsen gleich unbeweglich dagesessen, aber jetzt öffnete sie fahlgelbe Augen die ihren Gesichtsausdruck gewiß nicht verschönerten, nahm eine Stummelpfeife aus dem verkniffenen Mund, spuckte ins Feuer das die Beleidigung mit einer hoch aufschießenden zischenden grünen Stichflamme quittierte, und keifte: "Lahmer beikommen konntet Ihr wohl nicht, he?" Die Stimme klang wie das auf Diskant gestimmte Quaken einer Kröte.
Der Knappe tat einen Schritt vorwärts. "Mütterchen, wir…"
Weiter kam er nicht. Die Alte raffte einen bislang unsichtbaren glitzernden Gegenstand vom Boden auf und warf ihn ihm zu. "Eine Woche lang geradeaus und dann im rechten Winkel nach links!"
"Ein Weberschiffchen!" Er hatte das Ding instinktiv aufgefangen und drehte es nun in Händen. Im flackernden Feuerschein glänzte es goldfarben. "Ein Weberschiffchen, was soll ich denn damit? Warum gibst du mir kein Schwert oder wenigstens einen Dolch?"
Die Alte hatte die Augen bereits wieder geschlossen. Nun öffnete sie ein Auge zu einem schmalen Schlitz und brummte: "Geht!"
Dann saß sie wieder da wie ihr eigenes Standbild. Sie nahm keine Notiz als wir uns an ihr vorbei bewegten und wieder in den Dschungel eindrangen.
Gleich darauf befanden wir uns wieder im undurchdringlichen Dunkel. Der Knappe blickte zurück und ein betroffener Ausruf entfuhr ihm. "Sie ist weg!"
"Wer?" fragte ich obwohl ich die Antwort bereits kannte.
"Die Alte! Ihr Feuer müßte noch zu sehen sein, aber es ist dunkel!"
"Sie war nie richtig da," entgegnete ich. "Hel lebt unter der Erde. Sie hat …"
"Wer?"
"Hel. Rakus' Schwester. Sie bewacht das Tor zur Dämonenwelt."
"Rakus' Schwester," wiederholte er. "Aber sie war doch da! Sie hat mir dieses Ding gegeben." Er hielt es unter meine Augen und selbst im undurchdringlichen Dunkel glänzte es schwach. "Wenn sie mir wenigstens eine Waffe gegeben hätte …"
"Es ist eine Waffe," sagte Lili.
"Das Weberschiffchen soll eine Waffe sein?" Das klang geringschätzig und war auch so gemeint. "Soll ich damit etwa fechten?" Ich hörte mehr als daß ich es hätte sehen können, wie das Weberschiffchen durch die Luft fuhr als ob er damit Schwerthiebe austeilte.
Weberschiffchen sind Geräte, wie sie früher benutzt wurden als man noch per Hand am Webstuhl arbeitete. Es sind lange schmale Gegenstände, gewöhnlich aus Holz und ungefähr fünfundzwanzig bis dreißig Zentimeter lang. Sie haben in der Mitte einen Längsschlitz in den die Spule mit dem Faden eingelegt wird. Man flicht sie von Seite zu Seite quer durch die Längsfäden des herzustellenden Gewebes und dabei wickelt sich der Faden ab. Ich konnte seine abwertende Meinung verstehen, wußte aber gleichzeitig, daß Lili weiß was sie sagt. Wenn sie es für eine Waffe ansah war es auch eine.
Der junge Mann murrte etwas das ich nicht verstand. Es war mir aber auch egal; er mußte sich mit dem abfinden was das Leben ihm vor die Füße warf. Immerhin war er klug genug, eine Armlänge des Fadens abzuwickeln und zu einer Schlinge zu binden, die er um seine linke Schulter schlang. Das Weberschiffchen baumelte unter seinem Arm.
Langsam ging es vorwärts. Ich weiß nicht, ob wir wirklich eine Woche gebraucht haben oder nur ein paar Stunden; ich schlief oft und dann wahrscheinlich längere Zeit. Schlafe mal in einem Rollstuhl, dann wirst du sehen ob das bequem ist. Schließlich taten mir alle Glieder weh. Die Dunkelheit war erdrückend und wir sprachen wenig miteinander. Hin und wieder ein paar mit gedämpfter Stimme gemurmelte Worte die bewiesen daß wir noch zusammen waren, das war alles. Gelegentlich wurde die Stille von einem trockenen Knacken gebrochen wenn der Knappe auf einen dürren Zweig trat. Er ging schweigend neben mir. Ob er jemals müde wurde, kann ich nicht sagen; er klagte nie und irgendwelche Anzeichen von Müdigkeit an ihm konnte ich natürlich nicht sehen weil es so dunkel war - er war ja kaum als Schatten zu erkennen. Ich war jedenfalls von einer Müdigkeit ergriffen, die sich mir wie Blei aufs Gemüt legte - und ich war immerhin der von uns dreien der sich am wenigsten bewegte.
Ich erwachte als Lili meinen Rollstuhl in einem scharfen Winkel nach links drehte. "Ist es noch weit, Lili?" Die Frage war rhetorisch; sie konnte ebenso wenig wissen wie ich, was vor uns lag.
"Wir müssen auf der Hut sein," entgegnete sie. Ihre Stimme klang gepreßt. Es ist schon merkwürdig, wenn ein Geist der nicht sterben kann sich so sehr ängstigt daß man es quasi körperlich spürt. Ich wandte mich um sie anzusehen, nahm aber nur den vagen Umriß ihrer Gestalt wahr; es war zu düster.
Gleich darauf stießen wir auf die erste Gefahrenquelle. Unvermittelt tat sich eine Lücke in der üppig wuchernden Vegetation auf und ein Brunnen lag vor uns, von einer brusthohen kreisrunden Mauer aus lose aufeinander geschichteten Natursteinen eingefasst. Es befand sich jedoch kein Dach darüber, sodaß absterbendes Laub und sonstiger Unrat wie er in einem Dschungel vorkommt ungehindert hineinfallen konnten.
Bei seinem Anblick spürte ich wie mir die Zunge am Gaumen klebte. Wir hatten seit dem Beginn der Reise nichts zu uns genommen, da war es kein Wunder daß mich der Durst übermannte.
Dem Knappen schien es ebenso zu ergehen. Er stieß einen freudigen Ruf aus und machte Anstalten sich auf den Brunnen zu stürzen, aber Lili hielt ihn zurück. "Halt!"
Sie brauchte nicht auf den Boden zu weisen um uns erkennen zu lassen daß wir besser nicht von diesem Brunnen trinken sollten. Ringsum lagen Kadaver von kürzlich oder auch schon länger verendeten Tieren. Darunter war auch das Gerippe von einem Wesen das im Leben vielleicht ein Reh gewesen war, nur daß aus seinen Kiefern Hauer wie die eines wilden Ebers ragten.
Ich fühlte mich ernüchtert. Dieses Tier durfte es einfach nicht geben, nicht auf dieser Welt - und dennoch bewiesen die bleichen, halb im Moder versunkenen Knochen daß es einmal existiert hatte.
Lili drehte meinen Rollstuhl zur Seite um an dem Brunnen vorbei zu fahren und das Gemäuer rutschte mit, erhob sich direkt vor uns. Sie versuchte es auf der anderen Seite und erzielte das gleiche Ergebnis. Sogar als sie meinen Rollstuhl ganz herumdrehte wie um mich zurück zu fahren blieb das Unding genau vor uns.
"Ein verwunschener Brunnen," murmelte ich. Ich war ungehalten.
"Der ist verhext!" sagte der Knappe und es klang als knirschte er mit den Zähnen.
"Wirf das Weberschiffchen," sagte Lili. Ihre Stimme war ruhig.
"Was?" Der Knappe warf ihr einen verblüfften Blick zu. Dabei nahm er das Weberschiffchen herunter und betrachtete es indem er es in seinen Händen drehte. Es schimmerte matt. "Warum sollte ich es wegwerfen?"
"Nicht wegwerfen." Lili ließ sich nicht beirren. "Wirf es über den Brunnen!"
"Über den Brunnen werfen?" Er sah ihr noch einmal prüfend ins Gesicht. Seine Augenbrauen waren gefurcht. Dann zuckte er mit den Achseln, wandte sich und holte aus. Das Weberschiffchen schwirrte davon wie ein Propeller. Es begann zu glühen und Lichtblitze zuckten. Dann schien es gegen irgendetwas zu prallen, wurde abgelenkt und segelte über den Brunnen zurück. Das wiederholte sich mehrmals, immer flog es in eine andere Richtung, bis es sanft in der eifrig ausgestreckten Hand des Knappen landete und das Glühen erlosch.
"Das Ding fliegt ja wie ein Bumerang!" sagte der Jüngling erstaunt. "Es ist also doch eine Waffe!"
Über die Brunnenöffnung war nun ein Netz feinster goldschimmernder Fäden gespannt, die wohl irgendwo im Gesträuch verankert waren. Es glich in verblüffender Weise einem Spinnennetz aus goldblondem Frauenhaar. Sogleich erhob sich ein Gekreische wie von tausend Katzen denen man allesamt auf den Schwanz getreten hat, und tat in den Ohren weh.
Hurtig schob mich Lili an dem Brunnen vorbei, der sich nicht mehr vom Fleck rührte. Nach ein paar Schritten sah der Knappe zurück und stieß einen erstaunten Ruf aus. "Da steht eine schwarze Fontäne über dem Brunnen!"
"Sie ist nicht schwarz," entgegnete Lili ohne anzuhalten. Sie blickte auch nicht zurück.
Ich wußte was sie meinte. In dem schwachen Licht waren Farben nicht auszumachen - das sah man zum Beispiel auch an dem Blattgewirr um uns das keinesfalls grün erschien. "Es ist eine Blutfontäne!" stieß ich hervor und Lili machte eine Bewegung die ich als Kopfnicken deutete. Sehen konnte ich das natürlich nicht.
Eilends bewegten wir uns weiter und nach einiger Zeit verklang das Gekreische.
Der Dschungel wollte kein Ende nehmen und ich begann wieder müde zu werden. Lili schob mich mit einem Tempo voran das unter normalen Umständen nicht möglich gewesen wäre, nicht in einem Dschungel. Aber Lili ist auch kein normales Wesen.
Das lenkte meine Gedanken auf den jungen Mann der scheinbar unermüdlich neben mir einher trottete. Wer war er? Was suchte er in diesem verwunschenen Land? Oder vielleicht war es wichtiger, warum er ausgerechnet mich als Reisegefährten gewählt hatte. Ich setzte auch ein paar Mal an, leckte mir die trockenen Lippen um zu sprechen, aber irgendwie schien es nicht richtig ihn direkt zu fragen. Ich bin nie einer von denen gewesen, die mit bohrenden Fragen die Leute löcherten. Was immer er mich wissen lassen wollte, er würde es mir zu gegebener Zeit sagen.
Ein lautes Geräusch riß mich aus meinem Dämmerzustand. Es knackte im Gehölz und hartes Krachen ließ vermuten, daß Bäume niedergerissen wurden. Baumkronen rauschten heftig bewegt und trockenes Geäst rieselte herunter.
Der Krach kam rasch näher und Lili hielt inne. Der junge Mann neben mir verhielt gleichfalls seinen Schritt, blieb aber vor mir stehen als wolle er uns schützen. Ich konnte nur einen Teil seiner Wange sehen, aber so wie er dastand, den Kopf lauschend vorgestreckt und die Hände in die Seiten gestemmt, bot er das Urbild gespannter Aufmerksamkeit.
Der Krach wurde ohrenbetäubend, und dann schob sich ein Gesicht wie aus einem Alptraum geboren aus dem Blattgewirr heraus. Ein klaffendes Maul so groß daß es einem Kleinwagen als Garage dienen konnte, bewehrt mit zwei Reihen bleckender Reißzähne, jeder mindestens so lang wie mein Unterarm, darüber zwei Augen wie die Rücklichter eines Autos - ich hätte schwören mögen daß sie rot leuchteten, aber wahrscheinlich war das nur Einbildung. Dieses Gesicht war bedeckt mit einer Haut wie der Panzer einer Schildkröte: Schuppen, die weder gelb noch grün noch braun waren und dennoch alles zusammen, als ob ein malender Affe die Farben gemischt hätte.
Das alles vermittelte sich mir in einem Augenblick, und dann ertönte ein Rasseln und Zischen wie von einem Dampfkessel mit verklemmtem Überdruckventil - das Untier fauchte uns an!
"Wirf deine Waffe!" schrie Lili und der Knappe reagierte blitzschnell. Das Weberschiffchen wirbelte Lichter versprühend durch die Luft, beschrieb einen Bogen um das widerliche Antlitz, einmal, zweimal, und kehrte gehorsam zu seinem Besitzer zurück. Spinnwebfeine goldig glänzende Fäden schnitten in die gepanzerte Haut dicht hinter dem Kopf des Drachen.
Das nervtötende Fauchen ging unvermittelt in Röcheln über, einer stotternden Motorsäge nicht unähnlich. Der gewaltige Kopf fuhr hoch und von Seite zu Seite, hin und her, ließ das gesamte Buchwerk rundum wild durcheinander wogen wie von Sturmwind gepeitscht. Abgerissene Zweige regneten hernieder, Blätter flatterten zu Boden - der spinnwebfeine Goldfaden hielt wie die Stahltaue der Golden Gate.
Ein zweiter Riesenkopf, dem ersten so ähnlich wie der eines Zwillingsbruders, fuhr aus dem aufgeregten Buschwerk, aber anstatt sich auf uns zu stürzen - ein Schnapp und du bist weg - drehte er zur Seite, riß die riesigen Kiefer so weit auseinander wie ich es nie für möglich gehalten hätte und biß seinen Bruder in den Hals.
Augenblicklich erscholl aus nächster Nähe die Dampfsirene eines Öltankers der im Begriff ist, Untiefen anzulaufen.
Höchste Zeit für uns, hier wegzukommen. Lili dachte ebenso. Sie schob mich, gibst du was hast du, an den Ungeheuern vorbei und der Knappe hielt wacker mit. Die miteinander kämpfenden Urzeitkreaturen machten den Urwald nieder, fegten durch das Unterholz und rissen ganze Büsche aus dem Boden, schlugen Bäume mitsamt den sie umklammernden Lianen nieder und verursachten einen Höllenlärm, der so weit schallte, daß er bestimmt noch bis in die Neuzeit zu hören war.
Immerhin gab mir dieser Lärm einen Hinweis auf die ungeheuren Ausmaße dieser Ungeheuer. Ein T-Rex wäre daneben wie ein Winzling erschienen …
Es dauerte eine geraume Weile bis der Krach in der Ferne verklang. Stille kehrte ein, die ich anfangs als beruhigend empfand. Diese Stille war seltsam; man hätte Geräusche vernehmen müssen: das Rauschen des Laubes und das Knacken der Stämme im Wind, Vogelrufe, vielleicht auch Rascheln wenn ein Tier durch das Unterholz schlüpfte. Diese Stille war unheimlich. Gelegentlich brach ein trockener Zweig unter dem Fuß unsers Begleiters; das klang dann jedes Mal wie ein Schuß. Dann blieb der Knappe einen Augenblick stehen und lauschte angestrengt mit vorgeneigtem Kopf. Vielleicht erwartete er ein Echo, aber nichts geschah und alles blieb still wie vorher. Schließlich blieb er mit einem Ruck stehen.
"Wartet!"
Er sprang hoch und krallte seine Hände um den niedersten Ast des nächststehenden Baumes. Dann schwang er sich empor und jetzt konnte ich sehen wozu ihm das merkwürdige Schuhwerk diente das er trug: Schnabelspitze und Sporn krümmten sich wie Vogelklauen um jeden Ast auf den er seinen Fuß stellte. Das gab ihm sicheren Halt beim Klettern und im Nu war er in der Krone des Baumes verschwunden.
Lili und ich blieben alleine auf dem Waldboden zurück. Wenn der Knappe beim Klettern irgendwelche Geräusche machte wurden sie vom Blattwerk verschluckt. Ich kam mir vor wie der letzte Mensch auf Erden.
Das merkwürdig silbrig schimmernde Hemd das er trug: wenn meine Vermutung richtig war, war es eines jener von Zwergen gefertigten Panzerhemden wie sie Tolkien im "Herrn der Ringe" beschrieben hatte - leicht wie ein Hemd aus Seide und dennoch so fest, daß es für jeden Schwerthieb und jeden Pfeil undurchdringlich war; aber würde es auch einer Kugel standhalten?
Während mich noch der Gedanke beschäftigte, wie ein herrenloser Knappe ein so edles Kleidungsstück besitzen konnte, kam er in einer Wolke von Rindenstücken, flatternden Blättern und abgerissenen Zweigen am Stamm heruntergerutscht. Als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte drehte er sich um and sah mich mit besorgter Miene an. Er schüttelte den Kopf. "Ich verstehe das nicht. Ich hatte erwartet den blauen Himmel zu sehen und einen freien Rundblick zu haben. Stattdessen …" Er zuckte mit den Achseln. "Ich habe nur herausgefunden warum es hier unten so dunkel ist."
Asterix hätte sich zu Tode erschreckt weil er dachte der Himmel sei heruntergefallen.
"Nebel," sagte ich und der Knappe nickte. "Alles ist wie in graue Watte gehüllt. Man kann kaum einen Schritt weit sehen."
Das war eine schlechte Nachricht. Dennoch … Ich hob meinerseits die Schultern. "Machen wir, daß wir weiterkommen!"
Was sollten wir auch anders tun; umzukehren wäre töricht gewesen. Lili schob und mein Rollstuhl bewegte sich brav über den unebenen Waldboden als führe er auf Parkett. Der Knappe trottete neben mir einher …
Daß er traben mußte um mitzuhalten bewies wie rasch wir uns voranbewegten. Ohne Lilis Zauberkräfte wäre das nicht zu bewerkstelligen gewesen; Livingstone, der sich seinerzeit mit dem Buschmesser in der Hand Schritt um Schritt vorankämpfen mußte und monatelang unterwegs war bis er sein Ziel erreichte, wäre vor Neid blaß geworden. Ich dagegen fuhr in meinem Rollstuhl so bequem als säße ich im Orientexpress - durch eine Dunkelheit die ewig zu währen schien.
Die Dunkelheit war es auch die mich nicht wahrnehmen ließ, daß wir den Dschungel hinter uns gelassen hatten. Ich wurde erst gewahr, daß wir uns nicht mehr zwischen Bäumen, Lianen und Schlingpflanzen fortbewegten, als unvermittelt eine Säulenkaktee vor mir auftauchte - eine jener stachelbewehrten, absonderlichen Pflanzen die wie alte Männer mit hochgereckten Armen in der Wüste stehen.
Ich warf einen Blick nach unten und erschrak: wir rasten über ein Kakteenfeld! Hatte ich schon wegen des Dschungels meine Bedenken gehabt, jetzt wurde es zur Gewissheit: wir befanden uns nicht mehr in Mitteleuropa …
Trotz der herrschenden Dunkelheit konnte ich erkennen, daß das Kakteenpolster unter uns nicht glatt und eben wie ein Rasen war - eher wie ein Rübenacker auf dem anstelle des Rübenkrauts Kakteen wuchsen. Ich unterschied kniehohe Kugelkakteen ebenso wie Peitschenbüsche - mannshohe, dem Pampasgras ähnliche Gewächse, deren stachelige Riemen wie eine Armvoll in die Vase gestellter Peitschenstiele aussehen - verkrüppelt wirkende kleine Bäume mit sperrigem Geäst, das anstelle von Blattwerk mit fingerlangen Dornen besetzt ist, die aus Ziergärten bekannte Opuntie mit ihren riesigen stacheligen "Blättern," und hin und wieder ein Cereus - die schon beschriebene Säulenkaktee, hingestellt wie die Masten einer über Land gezogenen Telefonleitung …
Trotz des Wüstencharakters dieser Einöde verspürte ich weiterhin den feuchtheißen, moderig riechenden Hauch des Dschungels. Wie war das möglich?
Dann fiel mir das Singen auf: ein hoher, feiner Ton wie der Klang einer Feuersirene, weit entfernt am Rande des Hörvermögens und nur auf einem Ton heulend: der Gesang des Windes, der über die Dünenkämme der Wüste streicht …
Aber das war doch absurd! Hier gab es keine Sanddünen und wo Wüste war, war sie von Kaktuspolstern bedeckt! Da konnte kein Wind feinen Sand hoch wirbeln und wegtragen …
Das Singen war mehrstimmig. Feine Stimmchen die singsangartig durcheinander redeten so daß man nicht verstehen konnte, was sie sagten …
Lili hielt und ich blickte meinen Begleiter an. "Hörst du das?"
"Ja!" Der junge Mann stand mit vorgerecktem Kopf neben mir, mit angespannten Sinnen lauschend. "Was ist es?"
Ich hob die Schultern. "Sag du's mir!"
"Ein Kinderchor?"
"Kinder singen lauter." Ich schüttelte den Kopf. "Dies sind feine Stimmchen."
"Na, ein Engelschor ist das gewiß nicht!"
"Teufel auch nicht, und Elfen erst recht nicht!" Ich wandte den Kopf, versuchte Lili anzusehen. Sie trat einen Schritt vor, behielt aber eine Hand auf dem Holm meines Rollstuhls. Hätte sie losgelassen, wäre ich mitsamt Stuhl in die Kakteen gestürzt. Ich sah ihre angespannten Gesichtszüge. Wenn Lili besorgt war … Ich wagte den Gedanken nicht zu Ende zu denken.
"Wir sind nicht im Limbo!" flüsterte sie.
"Na, Prost Mahlzeit! Wo denn sonst?"
Sie setzte an, kam aber nicht zum Sprechen. "Das ratet ihr nie!" meckerte die Stimme. Ein keckerndes Lachen ertönte. Wie der Ruf einer Bekassine. Bekassinen nisten im Sumpf, dies hier war aber Wüste. Eine Halbwüste jedenfalls. Bekassinen waren hier so unnatürlich wie ein Badestrand auf dem Mond.
"Wer bist du?" rief ich und blickte mich um, aber da war niemand. "Wo bist du? Zeige dich!"
"Rate mal!" Wieder das keckernde Lachen.
"Warum versteckst du dich? Zeige dich!" Ich war aufgebracht. Freundchen, wenn ich dich in die Finger kriege …

"Ich bin genau vor dir! Warum siehst du mich nicht?" Die Stimme schien vor Hohn zu triefen.
Ich zwang mich zur Ruhe, versuchte meine Stimme zu beherrschen; sie klang dennoch unnatürlich laut in meinen Ohren. "Hast du Rakus entführt?" Die Sorge um Rakus hatte Vorrang über meine Gefühle. Meinem Ärger freien Lauf zu lassen würde zu nichts führen. Jedenfalls schaffte es mir keinen Vorteil.
"Willst du sie sehen?" Die Stimme klang höhnisch. Vor mir tat sich vage Helligkeit auf, wie das Licht eines Scheinwerfers der von viel zu schwachen Batterien gespeist ist. Rakus lag dort wie auf einem Sofa, einem Sofa aus Luft …
Sie lag mit geschlossenen Augen, den Kopf zu Seite geneigt, das bleiche Gesicht in dem fahlen Lichtschein kalkigweiß, Schweißperlen auf der Stirn. Das war kein Schlummer sondern tiefste Bewusstlosigkeit!
Mein Sichtfeld umfaßt einhundertachtzig Grad; das heißt ich kann, wenn ich geradeaus sehe, gerade noch meine beiden Schultern wahrnehmen. Deshalb sah ich aus dem Augenwinkel den Ansatz einer Bewegung und griff rasch hin, spürte das seidigfeine Metallgeflecht unter meiner Hand. "Nein!"
Er suchte sich loszureißen. "Laß mich! Ich hole sie …"
"Schau mal unter sie!" rief ich hastig, "geh nicht weiter!" Ein tiefschwarzer Schatten breitete sich unter Rakus …
"Ihr Schatten," sagte er geringschätzig, hielt aber inne.
"Das Licht ist viel zu schwach um Schatten zu werfen," sagte ich und gab meiner Stimme einen schweren Tonfall. "Es ist ein Morast!"
"Hihihi," kicherte der Unsichtbare.
"Ein Morast?" Wäre es heller gewesen hätte ich vielleicht sehen können wie mich der Knappe ungläubig anstarrte. "Ein Sumpf in der Wüste? Nein!"
"Was sonst?" murrte ich. "Vielleicht ein schwarzes Loch?" Das war scherzhaft gesagt, aber dennoch hätte ich die Möglichkeit nicht von mir gewiesen.
"Wirf das Weberschiffchen!" sagte Lili.
An der schattenhaften Bewegung erkannte ich daß sich der Knappe nach ihr umdrehte. Dann schwirrte das Weberschiffchen.
Lichtsprühend wirbelte es in einem weiten Kreis um Rakus - "Nein!" schrie die Stimme - und dann sah ich schmale Schatten aufrecht um sie herum. Rakus lag schwebend inmitten eines Schattenkäfigs. Über ihr wölbte sich eine Art Baldachin ebenso schwarz wie der Schatten unter ihr …
Ich vernahm das Knirschen schwerer Eisschollen wie sie beim Dahintreiben auf dem Fluß aneinander reiben …
"Halt ein!" schrie ich. Der Käfig bewegte sich auf uns zu und mit ihm das schwarze Loch unter Rakus. Der Knappe hielt das Weberschiffchen in der erhobenen Hand; der Goldfaden war straff gespannt wie wenn eine schwere Last daran hinge.
"Wirf noch mal!" rief Lili und der Knappe gehorchte. Das lichtersprühende Weberschiffchen umkreiste den Käfig, kehrte dann in die Hand unseres Begleiters zurück.
"Das dürft ihr nicht tun!" schrie die Stimme. Der Goldfaden zog die Pfeiler in der Mitte zusammen wie ein zu enges Mieder, und ein Quietschen und Kreischen erscholl wie von einknickenden und berstenden Stahlplatten. So stirbt ein Kriegsschiff …
"Warum nicht?" fragte ich so gelassen wie möglich. Innerlich kochte ich vor Sorge um Rakus und Wut auf den Unsichtbaren, und ich schätze Lili und der Knappe fühlten ähnlich.
"Sie ist mein!" schrie die Stimme und das klang wie das Quieken eines Schweines beim Schlachtfest.
"Rakus gehört niemandem!" sagte ich streng. "Sie ist eine Göttin und nur Boldan …"
"Den habe ich kaltgestellt," keckerte die Stimme triumphierend. "Er kann gar nichts tun!"
Ich gestehe, daß ich mich darüber schon gewundert hatte. Boldan ist der Herr des Tages wie Rakus Herrin der Nacht ist, und beide sind seit Urzeiten ein Liebespaar. Wenn Boldan nicht eingriff …
"Wieso nicht," sagte ich kühl als ob mich das alles nichts anginge.
"Weil ich der Stärkere bin!" krähte die Stimme.
"Ach, und deshalb versteckst du dich feige?" Ich erhob meine Stimme: "Wenn du so großartig bist, warum zeigst du dich nicht?"
Ein fahlrosa Gebilde erschien, zögerlich wie ein kleiner Junge der sich vor dem strengen Vater fürchtet, ein undeutliches auf der Spitze stehendes Dreieck dessen obere Ecken sich nach oben krümmen, schmale senkrechte Augenschlitze und ein blässliches Oval: das ins Nichts führende riesige Maul …
"Nindi!" Meine Stimme krächzte. Nindi, das totale, absolut alles verschlingende Nichts! Ich hatte es geahnt, aber jetzt, mit dieser Ungeheuerlichkeit vor Augen, wurde die Ahnung zur grausamen Gewißheit …
Ich stöhnte verzweifelt und Hel spie. Sie saß neben dem lustig prasselnden Lagerfeuer, so unbeweglich als hätte sie sich keinen Zentimeter von der Stelle gerührt wo wir sie zuerst getroffen hatten, ihre gelben Augen loderten und ihre Stimme knisterte wie trockenes Laub. "Ihr hättet euch wirklich etwas beeilen können!"
Die ätzende Spucke segelte gemächlich in das offene Maul und das schnappte zu. Das Unwesen schrie wie ein tödlich verletztes Pferd - und das sind Laute, die du dein Lebtag nicht vergißt! Die Augenschlitze zuckten umher - wie Wäsche auf der Leine die in einem heftigen Wind flattert - und das unheimliche fahlrote Antlitz blähte sich auf. Es warf Zacken aus wie ein Schiff seine Anker, dann begann es zu schrumpfen. Es schrumpfte und schrumpfte bis es zum fahlrot glühendes Kügelchen wurde und dann - ping! - war es weg. Irgendwo schlug ein schweres Eisentor laut krachend ins Schloß.
Ich atmete auf, öffnete den Mund um dem Knappen zu sagen er solle Rakus herüberziehen - da fuhr ein Blitz vom schwarzen Himmel herab - ein Lichtstrahl der den Schattenbaldachin durchschlug und auf Rakus herabfiel. Er umfloß Rakus wie die Arme eines Liebhabers und hob sie sacht empor. Rakus schwebte in die Höhe, immer höher und höher, und schließlich umschloß sie der Mantel aus Licht und wir konnten sie nicht mehr sehen. Boldan hatte seine Liebste heimgeholt.
Der plötzliche Lichtstrahl in tiefster Dunkelheit erzeugte komplementäres Nachleuchten. Dieses floß auseinander und vertrieb die Finsternis. Es wurde taghell und ich schloß gequälte Augen.
Als ich sie langsam und vorsichtig, eins nach dem anderen wieder öffnete und Tränen abwischte, war Hel verschwunden und die Landschaft hatte sich verändert. Den Schattenkäfig gab es nicht mehr, auch nicht das schwarze Loch darunter, und das Kakteenfeld war einem lichten Auenwald gewichen. Die Temperatur, nicht mehr drückend und schwül, war lind und angenehm frühlingshaft. Es dauerte jedoch noch eine geraume Weile bis wir wieder Vogelsang vernahmen.
Ich seufzte erleichtert und Lili sagte leise: "Heute Nacht werden wir in Rakus' sanftem Licht baden!" Das war unser einzigster Kommentar aber er genügte völlig.
Vor uns erstreckte sich ein breiter bequemer Weg der in die Richtung führte aus der wir gekommen waren: der Weg von Woanders.
Die Heimreise war ein Kinderspiel. Nach kurzer Zeit passierten wir das Gerippe einer Kreatur die im Leben die Ausmaße eines Ozeandampfers gehabt haben mußte. Es hatte zwei Köpfe und die Kiefer des einen waren noch um den Nacken des anderen geschlossen.
Der wandelnde Brunnen war und blieb verschwunden.
Schließlich erreichten wir das Ufer eines Flusses der langsam und gemächlich vor sich hin gluckste. Hier war der wilde Raser gezähmt. Lili schöpfte aus dem kristallklaren Wasser und netzte meine trockenen Lippen ehe sie mich langsam und vorsichtig trinken ließ. Meinen heißen Durst würde ich jedoch erst zu Hause wieder richtig stillen können.
Indessen hatte sich der Knappe am Rand des Wassers hingekniet um sich gleichfalls zu erquicken. Dann legte er das Silberhemd ab, beugte sich vor, die Hände in die Flut getaucht, und ich erstarrte - wie Lots Frau, wenn der Vergleich erlaubt ist. Jetzt ergab auch die Pagenfrisur einen Sinn. "Wer bist du?" stieß ich hervor und meine Stimme muß geknarrt haben wie eine alte Tür. "Was bist du?"
Der Knappe wandte den Kopf und beim Anblick der Verblüffung in meinem Gesicht verzogen sich seine Lippen zu einem verschmitzten Lächeln. "Neugier ist wohl nicht Deine Stärke," sagte sie heiter. "Ich bin's, Marion!"

ENDE


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