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AUSFLUG

von Fred H. Schütz



Früher war alles ganz anders. Ich meine, heute ist ja alles, jeder Weg und Steg, ausgeschildert sodaß sich keiner mehr verlaufen kann, nicht einmal mehr in den wildesten Gegenden dieser Welt, aber früher …
Na ja, gut, damals, vor fünfzig Jahren, gab es hierzulande auch schon ausgewiesene Wanderwege, denn Deutschland ist ein ordentliches Land und der Hang zum Wandern wird unsereinem quasi in die Wiege gesungen, aber in den Pyrenäen? Ich bitte dich! Dort gab es damals nur wenige Straßen und die heimlichen Pfade kannten nur Schmuggler.
Jedenfalls war es damals schon ein Wagnis, daß wir uns zu einem Ausflug in die Berge entschlossen, und wenn es uns nicht darum gegangen wäre, unseren gemeinsamen Freund Roy zu besuchen, wäre er wohl auch unterblieben. Aber Roy hatte gerade in weiser Voraussicht kommenden touristischen Ansturms ein Lokal für Bergwanderer eröffnet und diesen Umstand galt es gebührend zu feiern.
Roy war natürlich sein Künstlername. Er war als Musikus ziemlich weit in der Welt herumgekommen, und wenn du mich fragst steckte schon eine gehörige Portion Luftikus in ihm - ich meine, wer kommt schon auf die Idee in tiefster Wildnis, eben da wo Fuchs und Hase ihre sprichwörtlichen Gutenachtgrüße austauschen, ein Ausflugslokal zu eröffnen!
Es sei vorweggenommen, daß er das Wagnis nie bereuen mußte. Heute parken vor seinem Lokal einheimische Kutschen ebenso wie ausländische Schlitten und die Berge ringsum hallen den Krach gut gelaunter Gastlichkeit wider, wozu Roy wie eh und je auf seiner Harmonika den Ton angibt …
Aber damals mußten wir den Weg erfragen. Einheimische die wir fragten, stutzten. "Das Berglokal?" Man tauschte stirnrunzelnde Blicke untereinander. "Was wollen Sie denn dort?" Was bewirkte, daß wir unsererseits Blicke untereinander tauschten. "Wir wollen einen Freund besuchen." Mehr Stirnrunzeln. Fremde, die Freunde hier haben? "Wen denn?" Das grenzte an Unverschämtheit, aber was will man machen? Wenn wir Auskunft haben wollten mußten wir höflich sein; vier Stunden Bahnfahrt in der Sommerhitze sollten nicht umsonst gewesen sein. "Na, der Wirt. Roy."
Schließlich wies man uns den Weg. Der war nun keineswegs eine bequeme Straße, sodaß sich unsere ursprüngliche Absicht ein Auto zu mieten und zu Roy hochzufahren quasi von selbst erledigte. Auch von einem schattigen Waldweg wie man's von Deutschland her gewöhnt ist konnte keine Rede sein, und von irgendwelchen Wegweisern auch nicht; nicht die Spur von einem Hinweisschild - kein rohes Holzbrett bemalt mit einem Pfeil und der Aufschrift "zur schönen Aussicht." Rein garnichts.
Was sich uns bot war ein besserer Maultierpfad, holprig wegen der vielen Felsbrocken die von den steilen Hängen heruntergekollert und unten zerborsten waren - eigentlich nichts anderes als eine von vielen periodisch herabstürzenden Wassermassen gerissene Schlucht. Da war kein Baum, kein Strauch, der auch nur die Andeutung von Schatten geboten hätte; nicht ein Halm wuchs hier und Wasser gab es jetzt im Sommer auch nicht.
Was mich wundert ist, daß unsere Damen nicht gleich von Anfang an der Mut verließ. Aber sie, die verwöhnten Stadtmenschen, hielten wacker mit und stelzten mit Stöckelschuh und Pflastertreter trotzig über den rauhen Grund; da war an Umkehr nicht zu denken.
Der Weg führte von Anfang an bergauf, und je weiter wir gingen um so steiler wurde er. Vorneweg schritt, schweigsam wie immer, Gregorio, den struppigen Kinnbart gen Himmel gereckt als wollte er ihn herausfordern. Die Hände hielt er wie in Gedanken verloren im Rücken verschränkt.
Der Himmel war von einem geradezu knalligen Blau wie man ihn nur im Süden kennt; ein Meer tiefsten Blaus, ungetrübt - kein Wölkchen hätte in dieser trockenen Luft eine Chance - wölbte sich über allem und verstärkte das Gefühl der Einsamkeit. Wenn schwarz den Eindruck von Farbigkeit vermittelte, so hätte man diese Himmelsbläue für schwarz ansehen können, denn alles was nicht ausgesprochen hellfarbig war mußte im flirrenden Sonnenlicht des Südens dunkler erscheinen als es ist.
Im Gegensatz reckten die Berge ringsum ihre gelbbraugrauen Hänge zum Himmel. Wären wir über die Kämme gegangen, hätten wir womöglich in der Ferne schneeige Bergspitzen zu sehen bekommen, aber wir bewegten uns auf der Talsohle zwischen Berghängen die aufgrund ihrer Neigungswinkel dennoch den Eindruck der Weite vermittelten. Hier und da war die eintönige Hellfarbigkeit von schieferblauen Streifen unterbrochen. Das waren aber keineswegs andersfarbiges Gestein sondern Schlagschatten, die weil sie dunkler waren die Farbe des Himmels widerspiegelten.
Hinter Gregorio spazierten in einer Reihe nebeneinander wie Soldaten und munter schwatzend die drei Marien. Es gab damals in Spanien kaum eine Frau, deren Name nicht in irgendeiner Weise mit Maria gekoppelt gewesen wäre. So hieß meine Schwiegermutter (Gott habe sie selig) Maria de la imaculada Concepción, was im normalen Sprachgebrauch auf Concha gekürzt wurde, und Gregorios Ehefrau zierte sich gar mit dem Namen der spanischen Nationalheiligen, Maria del Pilar. Nationalheilige deshalb, weil die Mutter Gottes seinerzeit dem Apostel Jakob auf einer Säule stehend erschien und ihn hieß, an dieser Stelle eine Kapelle zu errichten. An jenem Ort erhebt sich heute, Ende des Jakobswegs und Ziel der Pilgerreise, die Stadt Santiago de Compostela. Aber die liegt am genau entgegengesetzten Punkt Spaniens.
Auch meine Holde würde auf lange Zeit nicht das Mörchen gerufen werden, weil sie damals noch nicht deutsch sprach.
Das Schlußlicht bildete wie immer ich. Erfahrung hatte mich gelehrt, daß es wenig Sinn macht den Mund aufzumachen wenn man drei Frauen gegen sich hat; die reden dich in Grund und Boden. So folgte ich in einem gewissen Abstand, sozusagen jenseits der Schallschutzzone. Glaub's mir, das angeregte Geplauder dreier Grazien aus Spanien kann einen gewaltigen Schallpegel erreichen - besonders wenn Pilar dabei ist. Ich habe mich schon immer gefragt woher eine so kleine Figur - in Stöckelschuhen könnte Pilar vielleicht anderthalb Meter erreichen - ihre Stimmgewalt nimmt.
So widmete ich meine Aufmerksamkeit auch nicht dem Geplapper das gelegentliche Windstöße in Fetzen zu mir herübertrugen, sondern dem Naturschaupiel ringsumher. Bei aller Farbigkeit die allein der Lichtfülle zu verdanken war wirkte die Monotonie dieser Landschaft trostlos. Dennoch wußte ich genau daß was jetzt wie tot dalag durch einen einzigen Regenguß in eine so gewaltige Farbsymphonie verwandelt werden konnte, daß selbst ein Regenbogen daneben farblos und blaß erscheinen mußte.
Dann hüllten sich die steilen Hänge und schroffen Gipfel der eintönig gelbbraungrauen Berge ringsum in einen Mantel aus flammendem Rot, strahlendem Gelb, goldähnlichem Orange, zartem Rosa und schneeigem Weiß …
Ich hätte mehr auf meine Umgebung achten und schauen sollen wohin ich meine Füße setzte anstatt in Phantasien zu schwelgen, denn plötzlich hatte ich einen Stein im Schuh.
Die Füße sind eine ganze Körperlänge von Auge und Hirn entfernt und das ist wohl der Grund weshalb ein Mensch so wenig auf sie achtet. Das ändert sich schlagartig sobald du ein Steinchen im Schuh hast - plötzlich wird dir in aller Deutlichkeit vor Augen geführt wie empfindlich Füße in Wahrheit doch sind! Ich blieb wankend stehen, balancierte auf dem nicht betroffenen Fuß und rief meinen Mitreisenden hinterdrein sie möchten bitte auf mich warten.
Die taten mir jedoch nicht den Gefallen; sie gingen nichts ahnend und munter schwatzend weiter und waren alsbald um eine Ecke verschwunden. Es erübrigt sich wohl anzumerken daß wir uns nicht auf einer gerade wie mit dem Lineal gezogenen Chaussee befanden sondern in einer in zahlreichen unregelmäßigen Windungen tief ins Gebirge führenden Schlucht.
Ich hinkte, oder besser gesagt hopste, mit schmerzverzerrtem Gesicht und heftig stöhnend zum nächstbesten Felsblock der geradezu einladend in der Gegend herumlag und ließ mich ächzend darauf nieder - nicht ohne den Sitz meiner Hose zu beschmutzen, aber daran dachte ich im Moment überhaupt nicht und außerdem wurde der Umstand erst später ruchbar. Vielmehr verfluchte ich ebenso vielsprachig wie nichtssagend die Menschen im Allgemeinen und Angehörige die einen im Stich lassen im Besonderen.
Erst dann zog ich mir den Schuh vom Fuß, nicht ohne meinem heftigen Ärger darüber, daß ich anstelle geeigneter Stiefel diese überaus eleganten und jetzt gräßlich verschrammten Pflastertreter angezogen hatte, lauthals Luft zu machen. Erst dann wurde ich mir der Wohltat bewußt die ich mir antat.
Nichts, aber auch rein garnichts ist so Wollust entfachend wie die Abwesenheit eben noch gespürten Schmerzes!
Ich kehrte den Schuh mit der Unterseite nach oben und ließ den Übeltäter heraus und in meine daruntergehaltene offene Hand purzeln, wollte ich doch genau sehen was für ein Urviech mir diesen gräßlichen Schmerz verursacht hatte. Als ob ich es geahnt hätte war es kein von den Wassern der Sturzbäche rund geschliffener Kiesel sondern ein Brocken mit einem Vierteldutzend rasiermesserscharfer Kanten und ebensoviel spitziger Ecken.
"Hex! Vex! Ex!" intonierte ich mit knurriger Stimme (es ist wichtig daß man das "Ex!" zuletzt sagt wenn der Fluch wirken soll; vorneweg ausgesprochen würde es die Wirkung umkehren) und schleuderte das Steinchen von mir so kräftig und so weit ich vermochte. Ein grollendes Kollern war die Antwort - irgendwo, das war sicher, ging eine Steinlawine ab - und ich erschrak: hatte ich den Berggeist beleidigt? Gab es überhaupt einen spanischen Rübezahl?
Das wollte ich lieber nicht herausfinden. Hurtig zog ich meinen Schuh wieder an, nicht ohne mich des befreienden Gefühls des schmiegsamen Leders ohne Steineinlage an meinem Fuß zu erfreuen, und bei aller Hast vergaß ich auch nicht, den Schnürsenkel sorgfältig zu binden; man weiß ja nie …
Dann stand ich auf und eilte meinen Gefährten hinterdrein. Die waren zwar längst hinter der Biegung verschwunden aber ich würde sie schon einholen!
Hinter der Biegung waren sie nicht und auch nicht hinter der nächsten. Das kam mir zwar merkwürdig vor, aber vielleicht hatte ich doch mehr Zeit verloren als ich gedacht hatte. Ich begann zu rennen ohne mir groß Gedanken darüber zu machen daß ich mir vielleicht wieder ein Steinchen im Schuh einfangen könnte.
Langsam stieg Ärger in mir auf weil sie so sorglos weitergeschlendert waren ohne mein Fehlen zu bemerken. Warum hatten sie es nicht bemerkt, oder waren sie so wenig geduldig, daß sie nicht ein paar Minuten stehen bleiben konnten um auf mich zu warten? Als ich sie nach der vierten Biegung immer noch nicht erreichte war die Wut in mir so groß, daß ich lauthals schimpfte wie ein Rohrspatz.
Die würden was zu hören bekommen wenn ich sie endlich einholte!
Auf unebenem Gelände bergauf rennen ist äußerst anstrengend. Wenn ich in der Stadt unterwegs war brachten mich Straßenbahn oder Untergrundbahn rasch und sicher ans Ziel; letzten Endes konnte ich auch ein Taxi nehmen. Hier draußen war ich auf Schusters Rappen angewiesen. Ich keuchte und schwitzte und verlor alle Vorsicht.
Hätte ich meinen Grips noch beieinander gehabt wäre mir vielleicht der Witz von dem Zecher eingefallen der seinen verlorenen Haustürschlüssel unter der Straßenlaterne suchte weil es dort hell war, und vielleicht hätte ich darüber lachen können. So bemerkte ich nicht, daß ich mich genauso dumm verhielt.
Es fiel mir auch nicht auf, daß sich die Landschaft veränderte. War der Weg anfangs breit und relativ bequem gewesen, wurde er zusehends schmäler; die Wände der Schlucht wurden steiler und rückten näher zusammen. Schließlich bewegte ich mich auf einem schmalen Pfad zwischen hoch aufragenden Felswänden. Hier kamen vielleicht Bergziegen durch, aber keine Menschen!
Ich sah ein, daß ich mich längst nicht mehr auf der Straße befand die zum Gasthof meines Freundes führte; ich war irgendwie, irgendwo vom rechten Weg abgekommen!
Gerade hatte ich mich zur Umkehr entschlossen als der Pfad unvermittelt einen Knick nach links vollführte und die rechte Wand wegfiel. Ich hielt inne. Meinem schönheitstrunkenen Auge bot sich der atemberaubende Blick auf eine wilde Berglandschaft, über die in der Ferne die höchsten Gipfel thronten von der Sonne in gleißendes Licht getaucht.
Gleichzeitig gähnte keinen Zentimeter vor meiner Fußspitze ein schwindelerregender Abgrund dessen todbringender Anziehungskraft ich mich nur entziehen konnte indem ich die Augen schloß und meinen Rücken so fest ich vermochte an die Felswand drückte. In meinem Kopf drehte sich alles und ich fühlte wie ich taumelte. Der Abgrund zog an mir und wollte mich in die Tiefe reißen!
Angst ließ mich erstarren. Was sollte, was konnte ich tun? Würde ich wie mein eigenes Monument hier oben stehen bleiben, in alle Ewigkeit oder zumindest bis ein einsamer Hirte meinen vertrockneten Leichnam fand?
Nein! Ich tastete mit der Hand über die rauhe Felswand um mich zu vergewissern, daß ich noch Halt hatte, scharrte mit dem Fuß seitwärts, sicheren Tritt suchend. Ich würde mich so, Zentimeter um Zentimeter rückwärts bewegen bis ich wieder sicher zwischen Felswänden stand; dann konnte ich umkehren und meinen Weg zurück zur Zivilisation suchen.
Ob meine Gefährten mein Fehlen entdeckt hatten? Sie würden umkehren, den Weg rückwärts verfolgen und nach mir suchen. Man würde rufen und am Hall der Schreie konnte ich mich orientieren. Dann war alles im Nu vorbei. Heute Abend würden wir zusammensitzen und über meinen "Fehltritt" lachen.
Ein drohendes Knurren ließ mich erneut innehalten. War das der Hund eines Schäfers, der so mein Eindringen in sein Revier quittierte? Wie konnte der Mann seine Tiere über so einen gefährlichen Pfad treiben? Hier war die Absturzgefahr groß. Sind Schafe bergfest?
Ich schluckte krampfhaft, versuchte meine Kehle zu befeuchten. Wenn sich der Hund durch freundliches Zureden nicht beruhigen ließ konnte ich den Schäfer zu Hilfe rufen; der würde - der mußte - das Tier in Zaum halten!
Dann hörte ich die zweite Bestie auf meiner anderen Seite knurren. Sie hatte sich herangeschlichen ohne daß ich es bemerkte, und bedrohte mich nun von vorne. Ich öffnete meine Augen - gerade weit genug um zu sehen ohne in den gähnenden Abgrund vor mir schauen zu müssen - und schielte zur Seite. Was ich sah ließ mir das Blut in den Adern gefrieren: Hagere überlange Beine, struppiges Fell, riesige Reißzähne in schmaler langer Schnauze, hochgezogene Lefzen, und kein freundliches Schnuppern - das waren keine Schäferhunde!
Alle Welt weiß, daß Wölfe den Menschen eher fliehen als ihn anzugreifen, nur schien die Kunde noch nicht bis hierher gelangt zu sein. Wäre ich nicht Lots Weib gleich zur Säule erstarrt gewesen, hätte ich meine Sinne noch zusammen gehabt als sie sprangen, dann wäre mir vielleicht eingefallen mich zu ducken …

ENDE


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