STORIES


TANTE ROSELLAS RINGE
DER DRUIDENKNOTEN

von Susanne Stahr



Blind für die erwachende Natur um sie herum ging Tabea auf die Tür des kleinen Hauses zu. Ihr Kopf war voll mit ihren eigenen Problemen und nun kam noch eins dazu.
"Warum muss immer alles auf einmal kommen?", haderte Tabea mit dem Schicksal, während sie mit fahrigen Bewegungen versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu bekommen. Endlich ließ sie hilflos die Hand sinken.
"Ach, Tante Rosella! Lass mich doch hinein, ich bin doch kein Einbrecher", seufzte sie.
Vor ihrem geistigen Auge erschien das liebe Gesicht mit der fleischigen Nase, den scharfen, blauen Äuglein, in denen immer ein wenig der Schalk blitzte, das abgetragene Käppchen, das ihre Tante immer über ihrem kurz geschnittenem Haar trug.
Welche Haarfarbe hatte Tante Rosella? Tabea wusste es nicht und würde es nie erfahren, denn ihre Tante war sein zwei Wochen tot. Ihre Familie hatte geschlossen das Erbe, ein Häuschen mit Garten in Dale, sechs Meilen westlich von Tabeas Wohnort Norris City, abgelehnt. So war nur sie geblieben.
"Eine baufällige Hütte voll wertlosem Gerümpel", hatte ihr Vater gebrummt.
"Da kostet das Entsorgen mehr als der Verkauf des Grundstücks bringen könnte", hatte ihre Mutter zugestimmt.
In Tabeas Ohren hatte das so herzlos geklungen. Sie hatte Tante Rosella geliebt. Vielleicht war sie da die Einzige gewesen, Wer weiß?
Seufzend versuchte sie es noch einmal. Und nun glitt der Schlüssel widerstandslos ins Schloss. Wenig später stieß sie die Tür auf und trat ein. Zwei kleine Zimmer und Nebenräume, das war Tante Rosellas Reich gewesen.
Der vertraute, seltsam unidentifizierbare Duft der alten Frau hing noch immer in der Luft. Da war das abgewetzte Sofa, flankiert von Regalen voller alten Zeitungen, der kleine, runde Tisch mit dem gestrickten Deckchen, der alte Schrank, die zerkratzte Kommode, an der die dritte Lade immer klemmte und der wuchtige Schreibtisch vor dem breiten Fenster.
Die kalte Hand der Trauer drückte ihr das Herz zusammen. Aufschluchzend sank Tabea auf das Sofa und ließ ihrem Schmerz freien Lauf.
Eine halbe Stunde später schnäuzte sie sich, strich eine braune Locke aus der Stirn und atmete einmal tief durch. Tante Rosella war 92, hatte sich ein Bein gebrochen und die letzten Tage große Schmerzen gehabt, sagte sie sich. Der Tod war für sie eine Erlösung.
Trotzdem, der Gedanke, das geliebte Gesicht nie wieder sehen zu können, tat so weh. Und jetzt war sie hier um den Haushalt aufzulösen.
Mr. Spenger, ein Autohändler, hatte ihr einen anständigen Preis für das Grundstück geboten. Er wollte das Haus wegreißen lassen und einen Abstellplatz für seine Gebrauchtwagen einrichten. "Denken Sie darüber nach", hatte er gesagt. "Lassen Sie sich Zeit. Es eilt nicht."
Konnte es sein, dass er irgendwie erfahren hatte, dass ihre Miete drastisch erhöht worden war und ihr Chef eine Woche später ihre Arbeitszeit von 40 auf 30 Stunden in der Woche reduziert hatte, was auch ihren Verdienst schmälerte? Ach, nein, woher denn? Mach dich nicht verrückt, rief sie sich still zur Ordnung.
Ihr Blick fiel durchs Fenster auf Tante Rosellas wundervoll chaotischen Garten. Das sollte einfach zubetoniert werden? Nein, es musste eine andere Lösung für ihre Geldprobleme geben. Zuerst musste aussortiert werden, dann werde ich entscheiden, dachte sie. Zuerst sehe ich aber noch ins Schlafzimmer.
Das altmodische Bett mit dem hohen geschnitzten Kopfteil war abgezogen. Ein Stapel frischer Bettwäsche lag ordentlich auf dem Nachtkästchen. Auf dem dicken Federbett hatte sich eine schwarze Katze breit gemacht, die nun den Kopf hob und sich streckte.
"Hab ich dich aufgeweckt?", fragte Tabea überrascht.
Die Katze machte eine Buckel und verschwand durch die ins Fenster eingepasste Katzenklappe. Wie viele Katzen hatte Tante Rosella eigentlich gehabt?, überlegte sie und kam zu keinem Ergebnis.
Im Kleiderschrank hingen noch immer Tante Rosellas Kleider. Tabea nahm ein dunkelblaues Sommerkleid heraus. Der weite Rock wies einen langen Riss auf. Schade, dachte sie, das Kleid hätte ihr gefallen. Tabea war, wie ihre Tante, klein und zierlich gebaut. Tabea war sicher, das ihr Tante Rosellas Garderobe passte. Nun, darum würde sie sich ein andermal kümmern. Entschlossen ging sie zurück ins Wohnzimmer und wandte sich den Regalen zu.
Warum hatte ihre Tante alles Papier gehortet? Altersgeiz? Sie hatte einmal gehört, dass alte Menschen manchmal einfach nichts wegwerfen konnten. Müllmenschen, nannte man sie. Aber das Häuschen wirkte gar nicht verwahrlost, wie das bei Müllmenschen immer der Fall war.
Aus der Küche holte sie einen großen Müllsack und ergriff den ersten Stapel Zeitungen. Ein trockener Zweig lag darauf. Einer Eingebung folgend, legte sie ihn zurück ins Regal und warf nur das Papier weg. Auf dem nächsten Stapel fand sie einige getrocknete Rosenblätter. Auch diese bewahrte sie auf. So ging es weiter. Auf jedem Stapel fand sie eine Kuriosität, ein seltsam geformter Stein, eine glitzernde Kerze in Form einer Katze, eine leere Zwirnspule mit aufgemaltem Gesicht, ein aus Jade geschnittener Pokal, eine Rose von Jericho in einer Tonschale ....
Auf dem letzten Stapel stand eine kleine Katzenfigur mit hoch gerecktem Schwanz. Letzteren hatte Tante Rosella als Ablage für eine Anzahl Silberringe verwendet. Ringe? Tabea konnte sich nicht erinnern, an den Händen ihrer Tante jemals einen Ring gesehen zu haben. Sie selbst trug gern Schmuck, besonders aus Silber gefertigten.
Schnell trug sie den Sack mit den Zeitungen zum Papiercontainer neben der nahen Gärtnerei und huschte wieder ins Haus. Neugierig musterte sie die aufgereihten Ringe. Nur ein einziger trug einen winzigen Stein. Alle anderen trugen Verzierungen aus Silber. Der Oberste war mit einem irischen Knoten verziert. Der ist hübsch, dachte Tabea, und schob ihn auf ihren linken Ringfinger.
Plötzlich wurde es stockdunkel im Raum. Ein unsichtbarer Wind blies ihr ins Gesicht. Ihr Magen rebellierte kurz, dann war es vorbei. Das Zimmer erhellte sich wieder, doch das war nicht Tante Rosellas Wohnzimmer.
Schmale Fenster wie Schießscharten beleuchteten ein mittelalterlich gestaltetes Zimmer. Wo die Wände nicht mit Gobelins verhängt waren, konnte sie große Steinquader erkennen, wie sie für Burgen verwendet worden waren. Ein alter Mann in einer dunkelbraunen Kutte mit dem Rücken zu ihr saß an einem Pult und schrieb mit einer Gänsefeder etwas in ein riesiges Buch. Sein langes, weißes Haar hing wie ein Vorhang um seinen Kopf. Sie selbst saß auf einer Art Klappstuhl vor einem kleineren Pult. Verwirrt hob sie ein Pergament auf, das vor ihr lag. Es war nur unleserliches Gekrakel darauf. Was war geschehen? Wo war sie nur hin geraten?
In diesem Moment drehte sich der alte Mann um. Ein weißer Bart hing zu seinem Gürtel. Über einer kleinen Knopfnase blickten sie tiefblaue Augen forschend an.
"Du bist nicht Rosella", stellte er mit sonorer Stimme fest.
Das ist ein Traum, schoss es Tabea durch den Kopf. Ich muss eingeschlafen sein .....
"Nein, du träumst nicht", klang es nun etwas schärfer von dem Alten. Er beugte sich ein wenig vor und kniff die Augen zusammen. "Du trägst Rosellas Ring!", rief er aus. "Hast du ihn geklaut?"
Tabeas Blick fiel auf ihre Hand. Ja, da war dieser Ring mit dem irischen Knotenmuster. Langsam zog sie ihn vom Finger. Wieder umgab sie Schwärze, begleitet von einem Windstoß, dann saß sie auf Tante Rosellas Sofa. "Ich hab mir das nur eingebildet", brummte sie und steckte den Ring wieder an den Finger.
Nach den bereits bekannten Begleiterscheinungen tauchte der Alte vor ihr auf. Nun stand er vor dem Pult, an dem sie saß. Sie sah sich schnell um. Schießscharten, Gobelins, große Steinquader. Das gibt's doch nicht, dachte sie und zog den Ring ab. Sekunden später war sie wieder in Dale, dieser kleinen, verschlafenen Stadt in Illinois.
Es musste einfach ein Traum gewesen sein, überlegte sie. Andernfalls wäre das doch Hexerei. Allerdings ein eigenartiger Traum. Der zweite Teil schien fast wie eine Fortsetzung des ersten. Vielleicht würde sie das Ende ja in der kommenden Nacht träumen, dachte sie belustigt und steckte den Ring wieder an.
Der nächste Moment brachte einen Schock. Nach Schwärze und Wind fand sie sich wieder in dem burgähnlichen Gemach. Der alte Mann stand zornsprühend vor ihr.
"Was soll das?", fuhr er sie an. "Willst du mich foppen? Woher hast du Rosellas Ring? Antworte, wenn du dein Dasein nicht als Dekoration für mein Arbeitszimmer beschließen willst!" Nun packte er sie sogar an der Schulter und zog sie hoch.
Tabea schluckte. So real konnte kein Traum sein. "Ich ...ich bin Tante Rosellas Großnichte", brachte sie stotternd hervor. "Tante Rosella ist vor einer Woche gestorben und ich ....."
"Oh, nein!" Der Alte ließ sie los und sank auf einen Klappstuhl vor ihr. "Die arme Rosella! War es Lirabel? Ich hab sie gewarnt, aber sie hatte ihren eigenen Kopf."
"Wer ist Lirabel?", fragte nun Tabea. "Tante Rosella hat sich das Bein gebrochen als sie im Garten arbeitete."
"So?" Nachdenklich schüttelte er den Kopf. "Na, das ist dann etwas Anderes." Fragend sah er sie an.
"Ach ja, der Ring", erinnerte sie sich an seine andere Frage. "Ich hab ihn in Tante Rosellas Nachlass gefunden und weil er so hübsch war, wollte ich ausprobieren, ob er mir passt."
"WAAAAS!", brüllte er aufspringend. Seine Kutte bauschte sich und ein kleines Tier sprang aus einer Falte und flog auf einen Kerzenhalter. "Willst du allen Ernstes behaupten, dass du einen magischen Ring angesteckt hast, nur um zu sehen, ob er dir passt!?"
Tabea rutschte vor Schreck fast vom Klappstuhl. "I-i-i-ich wu-wu-wusste d-d-doch nicht, d-d-dass es so was gibt."
Der Alte sank in sich zusammen wie ein angestochener Ballon. "Sie hat dir also nie etwas gesagt?"
"Was hätte sie mir sagen sollen?", wunderte sich Tabea. "Sie war meine Tante. Die Leute hielten sie wohl für wunderlich, denn ich hörte manchmal, wie sie hinter ihrem Rücken über sie sprachen, aber das war doch nur Gerede."
"Tja, da kann man eben nichts machen", meinte der Alte resigniert. "Auf jeden Fall musst du ausgebildet werden, bevor du echtes Unheil anrichtest. Wie heißt du? Wie alt bist du? Bist du verheiratet? Hast du Kinder?"
"Ich bin Tabea Langton, 42 Jahre alt, ledig, keine Kinder", antwortete sie eingeschüchtert.
"Das ist schon mal gut, mein liebe Tabea", sagte er nun wesentlich freundlicher. "Ich bin Radanza Miodaz, Hüter des Siegels. Rosella war lange Zeit meine Schülerin. Allerdings hat sie mich in den letzten dreißig Jahren nur noch selten besucht. War ja auch nicht nötig. Aber zu sterben, ohne ihre Nachfolgerin wenigstens in die elementarsten Bereiche der Magie einzuführen? So einen Schnitzer hätte ich ihr nicht zugetraut."
"Wie sollte sie denn wissen, dass sie .... es war doch ein Unfall!", verteidigte Tabea ihre Tante.
"Bist du sicher?" Ein diabolisches Grinsen erschien auf Radanzas Gesicht. "Vielleicht sollte es nur wie ein Unfall aussehen."
Daran hatte Tabea noch gar nicht gedacht. Aber wer sollte Tante Rosella so gehasst haben, dass er oder sie zu einem Mord fähig war?
"Du musst heraus finden, womit sich Rosella zuletzt beschäftigt hat", drang Radanzas Stimme in ihre Gedanken.
"Aber ich kann doch nicht ...." Tabea hob hilflos die Schultern und ließ sie wieder fallen.
"Dann sollten wir keine Zeit verlieren. Als Erstes musst du die Geheime Sprache lernen."
Ein dünnes Büchlein erschien vor ihr auf dem Pult. Ohne ihr Zutun schlug es sich selbst auf. Darinnen war das Gekrakel wie auf dem Pergament. Radanza tippte ihr mit dem linken Zeigefinger an die Stirn. Plötzlich konnte sie ein System in dem Gekrakel erkennen. Gewisse Zeichen wiederholten sich.
"Sehr gut!", lobte der Alte. "Jetzt lies mir die erste Zeile vor."
Zu ihrem großen Erstaunen quollen fremdartige Laute über ihre Lippen. "Aber wie kommt das?", fragte sie verwirrt.
"Lies weiter!" Radanza wedelte ungeduldig mit einer schmalen Hand.
Eine Stunde später war sie todmüde, hatte aber die Grundbegriffe der Geheimen Sprache gelernt.
"Wirf nichts weg, was du in Rosellas Haus findest", sagte der Alte zum Abschied.
Tabeas Wangen begannen zu glühen. "Ich habe einen Sack voll Altpapier weg geworfen", gestand sie.
"Altpapier?", brüllte Radanza. "Hol es zurück! Aber dalli! Bring es morgen mit!"
Mit zitternden Fingern zog Tabea den Ring vom Finger und fand sich alsbald wieder in Tante Rosellas Wohnzimmer, wo sie den Ring wieder auf den Katzenschwanz steckte. In fliegender Hast eilte sie zum Papiercontainer. Ein Stein fiel ihr vom Herzen als sie ihren Sack noch dort fand. Schnell nahm sie ihn an sich und lief zurück zum Haus.
Aus der Gärtnerei kam ein junges Paar. Der Mann trug einen Sack Erde. "Die spinnt genauso wie die alte Langton", hörte sie die Frau sagen.
Mir egal, dachte Tabea. Die haben doch gar keine Ahnung. Dann musste sie lächeln. Hatte das Tante Rosella auch gedacht? Jetzt, da Radanza ihr drittes Auge geöffnet hatte, sah sie ein sanftes Licht, das den Sack umgab. Also war es doch kein Altpapier. Neugierig nahm sie eine Zeitung heraus. Zeitung? Nein, das war die Geheime Sprache. Den Sinn der Worte konnte sie nicht erkennen. Dazu musste sie noch viel mehr lernen. Sie stellte den Sack ins Schlafzimmer, schloss die Haustür ab und begab sich zu Mr. Spenger.
"Haben Sie sich entschieden, Miss Langton?", begrüßte sie dieser freundlich.
"Ja, Mr. Spenger", antwortete sie fest. "Es tut mir Leid, aber ich möchte das Haus behalten."
Die Mundwinkel des Autohändlers sanken enttäuscht nach unten. "Schade!", meinte er. "Nun, wenn sie es sich vielleicht doch noch überlegen .... ich bin immer gesprächsbereit."
Frohen Mutes machte sie sich auf den Rückweg. Wieder in dem Häuschen bezog sie das Bett. Diese Nacht wollte sie hier schlafen. Morgen war ohnehin Sonntag.
Nach getaner Arbeit ließ sie sich auf das Sofa sinken, das auf einmal gar nicht mehr so abgewetzt aussah. Auch die anderen Möbel sahen nicht mehr so alt aus. Fast erwartete sie, dass Tante Rosella mit einem Tablett voll Tee und Kuchen aus der Küche kam. Nein, rief sie sich zur Ordnung, mach dich nicht verrückt. Seufzend ging sie selbst in die kleine Küche und öffnete ein Glas mit Aprikosenkompott.
In dieser Nacht träumte sie von Tante Rosella. Sie sah die alte Frau durch ihren Garten gehen, nein, das konnte nicht ihr Garten sein. Hier blühten Wunderblumen und auf den Ästen der Bäume saßen Paradiesvögel und sangen liebliche Lieder. Tante Rosellas Äuglein blitzten fröhlich auf ihrem Weg durch dieses Blütenmeer. Sei nicht traurig, es geht mir gut, schienen diese Äuglein zu ihr zu sagen.
Tabea setzte sich kerzengerade im Bett auf. Die Sonne schien ihr mitten ins Gesicht. Im Garten sang eine Amsel ihr Morgenlied. Das war Tante Rosellas Haus, erinnerte sie sich.
Der Traum hallte in ihr nach. Tante Rosella hatte so glücklich gewirkt. Ganz anders als sie es in ihren letzten Tagen war, wo sich tiefe Linien des Schmerzes in ihr liebes Gesicht gegraben hatten. Wenn sie jetzt so glücklich ist, darf ich nicht mehr um sie trauern, dachte Tabea. Ich muss ihr dieses Glück gönnen.
Ein tiefer Seufzer rang sich aus ihrer Brust. Der Stachel in ihrem Herzen schmolz dahin und hinterließ nur Erinnerungen an schöne Tage mit ihrer Tante.
Ich werde ihr Erbe bewahren, versprach sie sich selbst. Ihr Blick glitt über den Nachttisch, den schwarzen Sack in der Ecke, dann zur Tür hinaus über die vertrauten Möbel. Aus einigen Dingen strahlte der sanfte Glanz der Magie. Das gibt eine Menge Arbeit, dachte sie. Aber sie freute sich darauf.


DIE LETZTE PERLE


"Glaxo-Smith hat Ihre Arbeit immer sehr geschätzt", sagte Mr. Riley, der Direktor der Zweigstelle Norris City, mit einem väterlichen Lächeln. "Deshalb haben wir auch sofort an Sie gedacht. Ab Montag sind Sie die Büroleiterin. Nun, was sagen Sie dazu?"
Tabea nahm sich Zeit für ihre Antwort. Die strahlende Miene ihre Chefs machte sie misstrauisch. Mit demselben Lächeln hatte er ihre Arbeitszeit, und damit auch ihr Einkommen, gekürzt. Die Belegschaft des kleinen Chipherstellers, Teil eines weltweiten Konzerns, hatte sich im letzten Jahr kontinuierlich verringert, weil die Produktion nach Indien verlegt worden war. Zuerst waren die Arbeiter entlassen worden. Nach und nach wurde die Verwaltung dem Hauptwerk in Milwaukee übertragen. Wie lange würde es dauern, bis dieser Stützpunkt endgültig geschlossen war?
"Was wäre dann meine Aufgabe?" fragte sie vorsichtig."Kundendienst", strahlte sie Riley an. "Es wird noch eine Menge Anfragen geben, telefonisch und schriftlich. Dafür brauchen wir eine versierte Kraft. Außerdem wird Ihr Stundenlohn um 20 Cent erhöht. Ich hoffe, Sie wissen das zu schätzen."
"Gewiss, Mr. Riley", nickte sie. "Bedeutet das, dass ich wieder die volle Zeit arbeiten kann?"
"Oh nein!", rief er immer noch strahlend. "Es kommen glückliche Zeiten auf Sie zu, Miss Langton. Wir brauchen Sie nur noch an drei Tagen in der Woche, bei freier Zeiteinteilung. Sie sehen, wir kommen Ihnen sehr weit entgegen."
Jetzt war es heraus. Ihr Lohn wurde wieder gekürzt, ungeachtet der kleinen Erhöhung des Stundensatzes.
"Ich würde gern noch über Ihr Angebot nachdenken", sagte sie langsam. "Das ist eine große Verantwortung und ich weiß nicht, ob ich der gewachsen bin." Was du kannst, kann ich auch, dachte sie dabei.
"Das steht Ihnen natürlich frei", kam die pikierte Antwort. "Denken Sie übers Wochenende darüber nach. Sie können mir ja am Montag Ihren Entschluss mitteilen." Rileys manikürte Hand nahm ein Schriftstück von seinem Designerschreibtisch auf, das Zeichen, dass sie entlassen war.
Tabea sah auf die Uhr. Fünf Minuten vor Dienstschluss. Methodisch begann sie, ihren Schreibtisch aufzuräumen. Ich sollte mir einen anderen Job suchen, dachte sie. Wenn es nur nicht so schwierig wäre, etwas zu finden. Glaxo-Smith war der größte Betrieb in Norris City gewesen. 600 Menschen hatten durch die Verlagerung der Produktion ihre Arbeit verloren. Hier würde sie kaum etwas finden. Zwei Minuten nach Fünf schnappte sie ihre Tasche und ging.
Wie an jedem Freitag fuhr sie nach Dale. Sie hatte sich angewöhnt, ihre Wochenenden in Tante Rosellas Haus zu verbringen. Der Frühling hatte den Garten in ein Meer von Blüten verwandelt. Nach den Krokussen und Veilchen prangten nun Tulpen und Narzissen. Und der Mandelbaum hatte sich in ein duftendes Bukett verwandelt. Auch in dem Kräuterbeet begann es zu sprießen. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den Garten so zu pflegen wie es ihre Tante auch getan hätte.
Tabea war eine begeisterte Gärtnerin. Nachdem sie das College abgeschlossen hatte, hatte sie versucht, eine Stelle auf einem Kräuter-Bauernhof oder in einer Gärtnerei zu finden, leider vergeblich. Irgendwann war ihrem Vater die Geduld ausgegangen und er hatte ihr eine Stelle bei Glaxo-Smith verschafft, als Bürokraft. ‚Vorläufig', hieß es.
Um dieses ‚Vorläufig' zu überbrücken, war Tabea so oft als möglich zu Tante Rosella gefahren und hatte ihr im Garten geholfen. Das ließ sie mit der Zeit vergessen, nach einer anderen Stelle zu suchen. Vielleicht war jetzt die Zeit gekommen?
Sie parkte ihren kleinen Wagen neben dem Gartenzaun und stieg aus.
Ihr erster Weg führte sie ins Wohnzimmer. Mit einem Seufzer ließ sie sich aufs Sofa fallen. Der Raum umhüllte sie wie eine warme Decke aus Geborgenheit.
Wieder einmal überlegte sie, ob sie hierher übersiedeln sollte. Was sie bisher abgeschreckt hatte, war die Primitivität des Häuschens. Hier gab es keinen elektrischen Strom, die einzige Möglichkeit, Wärme zu erzeugen, war der Herd in der Küche. In der warmen Jahreszeit konnte das sehr romantisch sein, aber im Winter?
Vor ihrem geistigen Auge erschien ein Bild. Sie saß mit Tante Rosella an diesem Sofa und faltete bunte Sterne aus Alufolie. Auf dem Tisch stand eine Petroleumlampe und draußen im Garten heulte der Sturm und peitschte winzige Schneeflocken gegen das Fenster. Hier drinnen aber war es mollig warm. Damals hatte sie nicht gefragt, woher die Wärme kam. Aber jetzt bereitete ihr dieses Rätsel Kopfschmerzen.
Hatte Tante Rosella ihr Haus magisch geheizt? Sie holte das Bild zurück und konzentrierte sich, wie sie es von Radanza gelernt hatte. Ja, das musste es sein! Da war etwas an Tante Rosellas Hand. Etwas Dunkles, Unscheinbares. Sie ließ die Ringe von dem Katzenschwanz gleiten und breitete sie auf der Tischplatte aus. Seit Radanza ihr Drittes Auge geöffnet hatte, konnte sie die Magie in den Dingen erkennen. Jeder Ring strahle in einer anderen Farbe. Welcher war es? Da! Ein Ring aus zwei umeinander gedrehten Silberfäden, von denen jeder wieder kunstvoll geknüpft war. Langsam schob sie ihn auf ihren Zeigefinger.
"Machst du das Haus warm?", fragte sie den Ring.
"Ja", antwortete ihr die Magie aus dem Silber. "Aber nur, wenn es kalt ist."
Ja, Tabea hatte schon eine Menge von Radanza gelernt. Und es drängte sie, noch mehr zu lernen. Schnell schob sie den Ring mit dem Druidenknoten auf den Finger.

"Ich habe schon auf dich gewartet", empfing sie der alte Mann. Tabea wusste nun, dass seine Burg Indripalot hieß.
"Tut mir Leid", entschuldigte sie sich. "Ich bin eben erst aus Norris City gekommen."
Der Alte wedelte ungeduldig mit der Hand. "Zeig mir die neun Schutzgesten."
Blitzschnell fuhren Tabeas Hände durch die Luft. Feurige Runen lösten sich von ihren Fingern und schwebten haltlos durch das Gemach.
Radanza brummte unwirsch. Das Buch auf Tabeas Pult schlug sich auf und blätterte einige Seiten um bis es zur Ruhe kam. "Damit wehrst du nicht einmal einen Mückenschwarm ab", nörgelte er. "Du musst dich konzentrieren."
Tabea versuchte es noch einmal. Diesmal blieben die Zeichen in einer wackeligen Reihe in der Luft stehen.
"Etwas besser, aber immer noch nicht gut." Der Magier richtete den Blick seiner tiefblauen Augen scharf auf sie. "Was ist los mit dir? Dein Kopf ist voll mit weltlichen Dingen. So kannst du nicht Magie wirken. Was macht dir Sorgen?"
Verlegen drehte Tabea den Ring an ihrem Finger. Doch, was war das? Ihre tastenden Fingerspitzen fühlten zwei Ringe! Hatte sie in der Eile noch einen Ring über gestreift? Neugierig betrachtete sie ihre Hand. Ja, da war ein zweiter Silberreif. Er war 4mm breit und zeigte ein Band von runden, jetzt leeren Fassungen. Nein, in einer Fassung saß noch eine kleine rauchig-grüne Perle.
Ein Räuspern ließ sie den Kopf heben. Sie begegnete Radanzas fragendem Blick.
"Ja, ich habe Probleme in meiner Welt", gestand sie. "Ich verliere meine Arbeit. Es ist sehr schwer, neue Arbeit zu finden. Vor allem muss es eine Arbeit sein, mit der ich meinen Lebensunterhalt finanzieren kann. Die Miete für mein Apartment ist auch gestiegen. Ich habe zwar ein wenig gespart, aber das reicht nicht mehr lange." Sie senkte den Kopf, denn die Verzweiflung packte sie mit Macht.
"Irdische Probleme!" Radanza spuckte die Worte förmlich aus. "Lebensunterhalt. Was gehört denn in deiner Welt noch dazu außer Essen und ein Dach über dem Kopf? Warum musst du Miete bezahlen? Du hast doch das Haus von Rosella geerbt."
"Ich wohne nicht in Tante Rosellas Haus", erklärte sie. "Nur am Wochenende komme ich nach Dale, weil meine Arbeit in Norris City ist."
"Dann such dir doch eine Arbeit in Dale." Der Alte schüttelte den Kopf als wollte er sagen: Wie kann man nur das Einfachste übersehen?
"Ja, das wäre das Beste", stimmte sie ihm zu. Vor ihrem geistigen Auge erschienen Kräuter- und Blumenbeete. Sich selbst sah mit einer grünen Schürze daran arbeiten. Das wäre wunderbar, dachte sie inbrünstig und rieb dabei unbewusst die kleine Perle. Wenn ich doch nur als Gärtnerin arbeiten könnte! Wärme glomm in ihrer Brust und löste alle Sorgen auf.
"Ich versuche es noch einmal", meinte sie, zu ihrer Übung zurückkehrend. Und jetzt standen die Runen in einer exakten Reihe vor ihr.
Radanza wich einen Schritt zurück. "Na, na", brummte er gutmütig. "Du musst doch nicht gleich mit dem großen Geschütz kommen."
Tabea wusste inzwischen, dass dies ein Lob war und lächelte.
"Hast du Rosellas Schriften schon gefunden?", fragte er in beiläufigem Ton. Blanke Gier glitzerte in seinen Augen. Tabea schreckte davor zurück. Da senkte er die Lider und als er sie wieder hob, war sein Blick so freundlich wie immer.
"Nein", antwortete sie wahrheitsgemäß. Nachdem sie den Sack mit dem vermeintlichen Altpapier wieder aus dem Papiercontainer geholt und ins Schlafzimmer gestellt hatte, war er verschwunden. Manchmal glaubte sie, ihn aus dem Augenwinkel zu sehen. Doch wenn sie den Kopf drehte, war da nur die leere Wand.
"Nun gut", grummelte er. "Wenn du sie findest, bring sie mit."
"Ja, sicher", antwortete sie automatisch und begann laut aus dem Buch vor zu lesen.

Zwei Stunden später kehrte Tabea in Tante Rosellas Haus zurück. Wieder hatte sie einiges gelernt. Bevor sie die Ringe auf den Katzenschwanz steckte, sah sie sich den, den sie irrtümlich angesteckt hatte, noch einmal an. Ein bedauerndes "Oh!" entschlüpfte ihr. Die letzte Perle war verschwunden. Auch die Aura der Magie war verblasst. Was konnte das bedeuten?
Nach einem kleinem Imbiss ging sie zu Bett. Für dieses Wochenende war Gartenarbeit angesagt. Sie wollte Stiefmütterchen pflanzen. Tante Rosella hatte daraus Tee gemacht, erinnerte sie sich. Sie selbst mochte vor allem die Blüten.
Gleich am nächsten Morgen lief sie zu der Gärtnerei. Sie kannte die Besitzer, Mr. Und Mrs. Lurker recht gut. Tief atmete sie den Duft von Humus und saftiger Vegetation ein. Schnittblumen standen in großen Kübeln, Tulpen und Narzissen in weiß und gelb. Aus einer kleinen Schale leuchtete das kräftige Violett der Veilchen.
Tabea ging an den Blumen vorbei zu dem Ständer mit Gemüse- und Gewürzsamen. Gleich dahinter fand sie, was sie suchte. In kleinen Plastiktöpfen lachten ihr Stiefmütterchen in verschiedenen Farben entgegen. Gleich daneben stand ein Tablett voll Tomatenpflanzen. Da sich keiner der Lurkers zeigte, suchte sie zehn Stiefmütterchen aus und trug sie zum Ladentisch.
"Nein, Mr. Murry", hörte sie endlich Mrs. Lurker sagen. "Wir werden unsere Geschäftspraktiken sicher nicht in ändern. Kunstdünger wird bei uns so gut wie gar nicht verwendet und wir wollen ihn auch nicht in größerem Umfang verkaufen. Wir suchen einen Gärtner, der uns unter die Arme greift, keinen neuen Chef." Die rundliche Frau trat durch die Tür, die zum Glashaus führte.
"Aber ich könnte Ihren Umsatz in einem Jahr verdreifachen", wandte ein junger Mann im blauen Anzug ein, der hinter ihr her kam.
Tabea sah auf seine weichen Hände. Der hat noch nie in die Erde gegriffen, dachte sie.
"Wir wollen das Geschäft nicht vergrößern." Mrs. Lurkers Ton wurde um eine Nuance schärfer. "Sie haben unsere Anzeige missverstanden. Auf Wiedersehen, Mr. Murry." Mit einem Lächeln wandte sie sich an Tabea. "Oh, Sie haben sich schon etwas ausgesucht, Miss Langton", sagte sie freundlich. "Ich bin froh, dass Sie den Garten der alten Rosella weiterhin pflegen wollen. Es wäre wirklich schade darum gewesen." Sie tippte etwas in die Kassa und nannte den Preis.
"Es wird Ihnen noch Leid tun", prophezeite der junge Mann zornig und verließ die Gärtnerei. Dabei knallte er die Tür heftig hinter sich zu.
Ein Gedanke schoss Tabea durch den Kopf. Während sie das Geld auf den Ladentisch zählte, überlegte sie, was sie sagen sollte. "Sie suchen einen Gärtner?", fragte sie endlich vorsichtig. Was würde sie darum geben, endlich in ihrem Wunschberuf zu arbeiten!
Mrs. Lurker musterte sie interessiert.
"Ich habe am College Floristik und Gartengestaltung belegt", fuhr Tabea fort. Leider fand ich in Norris City keine Stelle in einem Blumenladen. Gärtnereien gibt es da gar nicht. Naja, ich habe die letzten zwanzig Jahre als Buchhalterin gearbeitet. Vielleicht brauchen Sie ja jemand mit mehr Erfahrung."
"Hm." Mrs. Lurker fuhr mit ihren kräftigen Fingern durch ihre rotblonde Löckchenfrisur. "Haben Sie sich denn in diesen Jahren gar nicht mit Pflanzen beschäftigt?"
"Oh, doch!", beeilte sich Tabea zu erklären. "Ich habe Tante Rosella bei der Gartenarbeit geholfen, aber ...."
"Wann können Sie anfangen?", unterbrach sie die Gärtnerin.
Tabeas Herz machte einen Sprung. "Ich ... äh, nun ....ich wohne in Norris City und die Firma .... also Mr. Riley sagte ...." Nein, dachte sie, ich stotterte hier herum und dabei liegt die Chance meines Lebens vor mir. "Ich nehme den Job", erklärte sie, heiser vor Aufregung. "Wie viele Stunden brauchen sie mich?"
"Ganz normal", entgegnete ihre neue Chefin. "Von Montag bis Samstag und gelegentlich auch am Sonntag. Kommen Sie!" Sie führte Tabea in ein kleines Büro, wischte ein paar Krümel trockene Erde vom Schreibtisch.
"Ich wohne in Norris City", wandte Tabea ein. "Wenn ich hier arbeite, müsste ich umziehen."
"Das lässt sich alles regeln", beruhigte sie Mrs. Lurker. "Sagen Sie mir Ihre Versicherungsnummer."
Eine halbe Stunde später strebte Tabea mit ihren Stiefmütterchen ihrem Häuschen zu. Sie hatte das Gefühl, auf einer rosaroten Wolke zu schweben. Nur zu gern tauschte sie das elegante Kostüm, das sie immer im Büro tragen musste, gegen Jeans, T-Shirts und Gummistiefel. Es tat ihr nicht Leid um ihre gepflegten, rosa lackierten Nägel. Gärtnern bedeutete für sie, Leben schlechthin. Auf seltsam distanzierte Weise erkannte sie, dass sie das erste Mal seit vielen Jahren sehr glücklich war.
Der Ring mit den leeren Fassungen fiel wieder ein. Das muss ein Wunschring gewesen sein, dachte sie und lächelte.


ENDE


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