STORIES


WAS BEDEUTET DAS S?

von Fred H. Schütz



Das Schriftstück trug den Briefkopf der Stadtverwaltung von Oakland, California, und besagte, daß Stuart Sanford Waitluck, männlich, am 13. Januar 1937 daselbst geboren sei. Oakland verhält sich zu San Francisco wie Sachsenhausen zu Frankfurt am Main; in beiden Fällen ist eins vom anderen durch Wasser getrennt. In der Bucht zwischen Oakland und San Francisco erhebt sich die einst berüchtigte ehemalige Gefängnisinsel Alcatraz.
Besagtes Schriftstück war neu und offensichtlich ein fotokopierter Auszug aus dem Register der Stadt. Ein offiziöser Beamter hatte ein zweites Schreiben dazugefügt, das ihm mitteilte daß er, da er nunmehr über achtzehn, das heißt volljährig war, Anrecht auf Sozialversicherung habe und daß er die unter Angabe der hier mitgeteilten zehnstelligen Versicherungsnummer ebendort jederzeit beantragen könne.
Seine Lippen verzogen sich zu einem humorlosen Lächeln. Beamte sind immer gleich, egal wo du ihnen begegnest!

Innerhalb der Vereinigten Staaten genügt ein Führerschein um dich auszuweisen; notfalls wird auch ein Briefumschlag akzeptiert wenn er nur deine Adresse trägt. Außerhalb der USA ist das anders. Wenn du keinen Ausweis vorweisen kannst bist du ein Illegaler. Davon hatte er genug, mehr als genug. Er beantragte einen Reisepaß.
Die Wartezeit bis zu dessen Ausstellung nutzte er San Francisco kennenzulernen. Oakland erwanderte er zu Fuß und prägte sich Merkmale ein; schließlich muß man die Stadt kennen in der man aufgewachsen ist! Er machte auch einen Tagesausflug nach Sacramento und suchte auf dem alten Friedhof bis er den verwitterten kleinen Grabstein fand. Der Junge war nicht einmal ein Jahr alt geworden. Ob er gebetet hat weiß ich nicht aber er verharrte längere Zeit still und andächtig vor dem Grab.
Er sprach mit Priestern und Taxifahrern, redete mit den Kellnern die ihn bedienten und mit den Verkäufern in den Geschäften wo er einkaufte, und unterhielt sich oft und lange mit dem alten Mann vom Zeitungsstand an der Straßenecke. Dabei vertiefte er seine Englischkenntnisse und eignete sich die an der Westküste übliche Aussprache des Amerikanischen an.

Das funktioniert nur wenn man Gesellschaft nicht scheut. Auf einer Party - als wenn's ein Omen wäre zu Halloween - lief er Sam Delgado über den Weg.
Sam, das war Samantha, Tochter eines Kubaners und einer Irin (das bezeugten ihr rotes Haar und die mandelförmigen Augen) der es in Miami zu langweilig geworden war. Sie war Mitte vierzig und befand sich gerade zwischen zwei Ehen. Außerdem war sie eine Frau die sich kein X für ein U auf die Backe malen ließ.
Er lief ihr direkt in die Arme. Er hatte gerade einer üppigen Blondine nachgeblickt deren Kostüm eher an den Strand von Malibu gepaßt hätte als in einen Ballsaal im eher kühlen San Francisco und sich gewundert wie sie alles zusammenhielt ohne daß etwas herausfiel, und als er sich umdrehte stießen er und Sam zusammen. Der Aufprall war heftig und ihr Trinkglas fiel zu Boden.
Er stammelte ein Entschuldigung und er würde ihr sofort einen frischen Drink besorgen wenn sie ihm sagte was sie haben wollte. "Champagner Cocktail," entgegnete sie und während er eilends der Bar zustrebte folgte ihm ihr Blick.
Was sie sah gefiel ihr. Mit den hängenden Schultern sah er kleiner aus als er war. Entweder ist er ein vom Schicksal gebrochener oder einer der gern auf die Leute zugeht, dachte sie und entschloß sich das herauszufinden. Ich kann nicht glauben daß er ein Loser ist, fügte sie in Gedanken hinzu. Er hat eine energische Nase …
Das war wahr. Sein Gesichtserker ragte aus einem schmalen Gesicht und Sam, unter deren Vofahren sich auch Indianer befunden hatten, hatte eine Schwäche für prominente Nasen. Die grauen Haare störten sie wenig. Das machte die etwas abgetragene Eleganz seiner Kleidung wieder wett …

Als er ihren Drink brachte nahm er sie seinerseits in Augenschein. Er betrachtete die kantig wirkende Frauengestalt die sich unter seinem Blick nicht kokett drehte und wendete sondern fest auf ihren Füßen stand, die schlichte Frisur und den Kontrast zwischen dunklen Augen und rotem Haar, die Sommersprossen auf ihrer Nase und die schmalen Lippen. Eine Frau mit der man Pferde stehlen kann …
Sie stellten einander vor. "Waitluck?" sagte sie mit gerunzelten Brauen, "ein merkwürdiger Name. Was bedeutet das S?"
"Sanford."
"Dann sind Sie ein waschechter Kalifornier!" sagte sie und lachte. Er lachte pflichtschuldig mit und fragte sich ob er Genugtuung verspüren sollte weil seine Bemühungen Früchte trugen. Er fühlte sich unsicherer denn je.

Sie verabredeten sich zum Essen für den nächsten Tag. Das bereitete ihm Kopfzerbrechen und er prüfte in Gedanken seine Ausgabenliste wo er durch Streichungen das Loch in seinem Säckel stopfen könnte das ein Besuch in einem der berühmten Fischrestaurants an der Fisherman's Wharf ihm unweigerlich reißen würde. Zu seiner Erleichterung traf sie sich mit ihm in einem verschwiegenen kleinen Lokal um die Ecke wo das Essen genauso gut und die Preise ziviler waren. Schließlich bestand sie darauf die Rechnung zu übernehmen, aber das ließ er nicht zu. Es entwickelte sich ein heiterer Streit den sie ihn am Ende gewinnen ließ. "Mein Kavalier," gurrte sie und das wirkte auf ihn wie eine kalte Dusche.
Hier bediente der Wirt selbst. Er hielt sie wohl für ein Liebespaar mit kleinem Geldbeutel denn er bestand nicht auf Austern oder Hummer. Dafür überraschte er sie mit Cioppino, einer Art italienischem Fischgulasch für den die Westküste berühmt ist. Dafür schwor Waitluck ihm insgeheim ewige Dankbarkeit zumal dieser Cioppino das blaue Band verdiente.
Als der Wirt den Wein kredenzte machte Sam runde Augen. "Rotwein zu Fisch?"
Der Wirt erklärte ihr wortreich und mit einer Unzahl von italienischen Ausdrücken warum man zu Cioppino ausschließlich nur diesen speziellen Rotwein genießen dürfe. Sam zeigte sich beeindruckt und Waitluck grinste.

Das Ende vom Lied war daß Sam etwas zu tief ins Glas schaute und als sie auf die Straße hinaustraten zeigte sie sich leutselig. Sie bestand darauf noch einen Drink in ihrem Büro zu nehmen und hakte sich bei ihm unter. Tatsächlich befanden sich ihre Geschäftsräume "gleich um die Ecke" auf der Taylor Street, gar nicht weit von Fisherman's Wharf die er schon kannte.
Sie mußten eine lange gerade Treppe hinaufklettern an deren Ende eine Tür zu ihren Geschäftsräumen führte. Es zeigte sich daß diese sich im Oberstock über einem jener Meeresfrüchterestaurants befanden für die Fisherman's Wharf berühmt ist. Quer über die Fenster die alle Taylor Street überschauten war in fußhohen Goldlettern ihr Firmenlogo gemalt: Phantastic Tales.
Er runzelte die Stirn. "Gibt's das nicht schon?"
"Was?" Sie schaute seinem deutenden Finger nach und verzog die Lippen. Vielleicht dachte sie, daß sie lächelte aber sie war beschwipst und so fiel das Lächeln etwas schief aus. "Sie meinen Weird Tales!" Sie schüttelte den Kopf. Eine Strähne ihres Haares löste sich und fiel über ihre Stirn; sie strich sie nachlässig zurück. "Die sind an der Ostküste zu Hause."
Sie starrte einen Moment wie ein Schaf das seine Herde nicht findet. Plötzlich stieß sie einen Laut aus der dem Anschlagen eines Kettenhundes ähnlicher klang als einem Gelächter. "Die haben's ebenso schwer sich über Wasser zu halten wie ich!"
Waitluck fühlte sich unangenehm berührt.

Ehe er sich's versah fiel die Trunkenheit von ihr wie Wasser von einem Hund nach dem Bad. Sie machte ihm ein überraschendes Angebot.
Er war schon in vielen Ländern gewesen und hatte immer sein Auskommen gefunden, manchmal gut und oft weniger gut, und er war guter Hoffnung, daß er es auch in den USA irgendwie schaffen würde. Insgeheim hatte er sich aber doch gesorgt was sich ihm bieten würde. Er hatte noch keinen Job gefunden und sein Geld würde nicht ewig reichen.
Seine Sorge war gewesen, daß er sein Leben womöglich als Bürobote oder als Arbeiter am Fließband fristen müßte. Das war nicht erstrebenswert. Deshalb traf ihn ihr Vorschlag wie das Wunder der Auferstehung. "Sie haben mir doch erzählt," begann sie langsam als müßte sie jedes Wort dreimal im Munde herumdrehen ehe sie es aussprach. "Sie sagten, Sie möchten die Länder Lateinamerikas bereisen?"
Sie sah in lauernd an und er nickte. "Gut," sagte sie rasch, "tun Sie es für mich! Reisen Sie und lassen sich von den Bauern Geschichten erzählen - etwas in dieser Art …" Sie ergriff ein Buch das auf ihrem Schreibtisch lag und er las: Wundergeschichten von Felix Martí Ibanez.
Er nickte wieder. "Ich kenne sie. Martí war ein spanischer Arzt der wegen Franco ins Exil ging und in der Neuen Welt diese Geschichten schrieb."
"Dann wissen Sie bescheid." Sie stieß den Atem so heftig aus daß es sich wie eine kleine Explosion anhörte. "Tun Sie das gleiche. Schreiben Sie die Geschichten auf die Sie hören und -"
"Aber ich kann nicht Maschineschreiben! Und außerdem …"
Er wollte sagen, daß er sich nicht mit schwerem Gepäck belasten wollte aber sie fiel ihm ins Wort. "Schreiben Sie mit der Hand! Schreiben Sie auf Klopapier wenn's sein muß! Ich werde schon dafür sorgen, daß Ihre Manuskripte in druckreife Form gebracht werden."
Das Angebot war verlockend, aber … "Woher wollen Sie wissen daß ich das kann?"
"Was kann?"
"Geschichten schreiben."
Sie lächelte breit. "Ich weiß es einfach!"

Sein alter Geschichtslehrer, der Herr Nejedly, fiel ihm ein, und was der gesagt hatte. "Wenn eine Gelegenheit winkt ergreif sie! Sie wird nicht wiederkehren!" Es wird einem keine zweite Chance geboten, hatte er gemeint und in den vielen Jahren seiner Wanderschaft hatte Waitluck erkannt wie recht er hatte.
Einmal entschieden zögerte er nicht länger und sie besiegelten ihr neues Bündnis mit Handschlag.
Auf dem Weg nach unten begegnete er einem jungen Mann der die Treppe herauf eilte. Der betrachtete ihn mit finsterer Miene, erwiderte aber dann doch seinen Gruß. Sicher ist er Angestellter, dachte Waitluck erheitert, und eifersüchtig obendrein! Nun, er würde ihm keinen weiteren Grund zur Eifersucht geben.
Als er auf die Straße trat fiel ihm ein, daß er den angebotenen Drink am Ende doch nicht bekommen hatte …
Er blieb noch eine Woche in San Francisco und in dieser Zeit traf er sich mit ihr beinahe täglich. Sie gingen oft zum Essen aus aber niemals in ein chinesisches Restaurant. Sam hatte kategorisch erklärt daß sie Chinesen mied wie die Pest, gab ihm aber nie eine Erklärung für ihre Abneigung. Also trieb er sich in Chinatown herum wenn er allein unterwegs war, aber irgendwie war es anders als er es gewohnt war. In Kuala Lumpur zum Beispiel konnte er sich bei jedem Straßenkoch - es gab mindestens einen an jeder Ecke - für ein paar Pennies rundum satt essen, herrliche Curries die ihm innerhalb von Minuten vor die Nase gestellt wurden. Hier waren die Speisen numeriert, die Curries waren undefinierbare fade Reisgerichte und außerdem strapazierten sie seinen Geldbeutel. Tief enttäuscht wandte er sich ab.
Am schlimmsten aber traf ihn der Mangel an gutem Kaffee. In Karlsbad und erst recht in Paris servierte man einen Cafč noir bei dem der Löffel in der Tasse stehen blieb. Was hier ausgeschenkt wurde erinnerte ihn an schmutziges Spülwasser und er brauchte lange um sich an das Gebräu zu gewöhnen. Später in Mexiko, wo man den Kaffee mit Zimt zubereitet, erging es ihm kaum besser. Etwas fehlte das er früher gedankenlos in sich hineingeschlürft hatte - und dann fiel ihm ein was es war: nichts hebt den Kaffeegeschmack so gut hervor wie die Beigabe gerösteter Zichorienwurzel!
Die Zeit der Ungewißheit endete an dem Tag an dem er einen hektischen Vormittag in der Stadtverwaltung verbrachte. Man schickte ihn von Sektion zu Abteilung, zurück zur Auskunft im Lobby, zur Gemeindekasse und schließlich zu dem Mann mit den vielen Stempeln der so tat als wüßte er um seine eigene Wichtigkeit und endlich - endlich! - hielt er ein kleines grünes Büchlein in Händen, das ihn als amerikanischen Staatsbürger auswies.
Ehe er auf die Straße hinaustrat setzte er sich mit zitternden Knien auf einen freien Stuhl im Lobby und blätterte in dem Paß. Aus dem Foto auf der ersten Seite starrte ihm, merkwürdig fremd, sein Gesicht entgegen, mit Augen die keine Augen waren sondern Löcher im Universum. Sein Name stand dort und sein ständiger Wohnort, und sogar das Geburtsdatum stimmte fast auf's Jahr.
Seine Vergangenheit war endgültig begraben.

Als er sich von Sam verabschiedete überreichte sie ihm einen dicken Briefumschlag und lächelte auf die schiefe Art die er bei ihr längst kannte. "Reisespesen," sagte sie. Er steckte den Umschlag ein.
Er bedauerte nicht sie zu verlassen. Er hatte es nie zu Intimitäten zwischen ihnen kommen lassen obwohl sie ihn deutlich merken ließ daß sie nicht abgeneigt war. Als er dann nach gut zwei Jahren zum ersten Mal nach San Francisco zurückkehrte war sie verheiratet.
Er sagte ihr Lebewohl auf die ihm eigene europäisch-altmodische Art: mit einem Handkuß.
Als er San Francisco verließ regnete es. Er hatte bei einem der vielen "ehrlichen Joes" die es im Lande gab und deren Garantie gerade bis zur Grundstücksgrenze reichte - einmal auf der Straße, oblag es der Verantwortung des Käufers das Gefährt am Auseinanderfallen zu hindern - einen alten Ford erstanden und Sams unverhofftes Geldgeschenk kam ihm deshalb sehr gelegen.
Wir wollen nicht verschweigen, daß der Wagen bis Guatemala durchhielt, wo er auf einem steilen Bergpaß seinen Geist endgültig aufgab. Waitluck küßte seine Fingerspitzen und tippte damit vorsichtig an die kochende Motorhaube ehe er den Leerlauf einlegte und die Bremse löste. Keine Minute später scholl das Krachen berstenden Metalls aus der Schlucht herauf.

Fortan reiste er per Bus. Das dauerte zwar meistens länger, war aber bequemer und kaum teurer.
Der Regen hüllte die Konturen der Golden Gate Bridge in einen grauen Schleier und Alcatraz war ein trüber Schatten über den ölig-schwarzen Wassern der Bay. Das Robert Louis Stevenson-Monument auf dem Portsmouth Square schien sich unter dem Regen zu ducken und fast schien es Waitluck, als ob sich noch der alte Semaphor auf dem Telegraph Hill mit grotesken Armen gegen den Himmel reckte. Er ließ die bunte Kakophonie von Chinatown hinter sich, warf Sams Apartment auf dem Nob Hill eine Kußhand zu und schwang nach Osten wo die Bay Bridge nach Oakland führte.
Er hatte seinen ursprünglichen Plan auf der Küstenstraße nach Süden, vielleicht gar bis San Diego durchzufahren und dort die Grenze nach Tijuana zu überschreiten aufgegeben - vielleicht weil gestern Abend als er mit Sam durch den Golden Gate Park bummelte Mariachiklänge eine unbändige Sehnsucht in ihm weckten. Die kurvenreiche Strecke zwang zum Langsamfahren und die spektakuläre Szenerie der felsigen Buchten und sandigen Strände lud zum Verweilen ein. Plötzlich hatte er es eilig.
Auf dem Niemitz Freeway fuhr er nach Süden. Dann lag San Francisco hinter ihm und er fuhr durch fruchtbares Farmland wo Obstplantagen allmählich in Orangenhaine übergingen. Nach einer halben Stunde Monotonie der immer gleichen Landschaft bedauerte er die 101 der Route 1 an der Küste vorgezogen zu haben, aber es war zur Umkehr zu spät.

Immerhin hörte der Regen auf und die kalifornische Sonne ließ die Farben dieser Landschaft richtig leuchten: das Gold der Orangen eingebettet in sattes Grün vor dem Hintergrund sanft gerundeter Hügel - die fernen Berge der Rockies waren von hier aus noch gar nicht erkennbar.

Unrast stieg in ihm hoch und drängte ihn voranzubrechen und anzukommen woimmer es sein würde - und doch war ihm klar daß er nicht wußte wo das sein würde; er hatte kein wirkliches Ziel. Er zwang sich ein gemäßigtes Tempo einzuhalten, wohl wissend daß mit der amerikanischen Verkehrswacht nicht zu spaßen ist.
Seine Erfahrung mit Polizisten in aller Welt hießen ihn auch hier - besser gesagt, besonders hier - Vorsicht zu üben. In diesem Land suchte er seine Zukunft aufzubauen und da wäre ein schlechtes Verhältnis zu Strafverfolgungsbehörden kein guter Anfang gewesen.
Allmählich drängte es ihn nach Osten auszuweichen denn er wollte den Großraum Los Angeles weiträumig umgehen. Es wäre schlimm gewesen in der Metropole seinen Weg zu verlieren; es hätte zumindest Zeit gekostet und Zeit ist besonders dann Geld, wenn man keines hat. Oder nicht genug um sich aus einem Schlammassel freizukaufen.
In Paso Robles bog er auf die 41 ein und als diese kurz darauf nach Norden schwang wechselte er auf die 46. Diese verließ er um auf der 99 nach Süden zu fahren und das brachte ihn nach Bakersfield.
Bakersfield war schon eine größere Stadt und hier begann er zu begreifen daß das Schachbrettmuster amerikanischer Städteplanung durchaus Sinn macht; man findet sich eher zurecht.
Durch Fluglärm aufmerksam gemacht schaute er sich um. Kurz nacheinander kreuzten zwei Maschinen mit ausgefahrenem Fahrwerk am Himmel, und noch ehe er die Stadt durchmessen hatte ein drittes Flugzeug. Also befand sich ein Flugplatz in der Nähe. Später würde ihm allerdings klar werden, daß in der Neuen Welt die Größe einer Ortschaft nicht allein ausschlaggebend für das Vorhandensein eines Flugfeldes ist; in Argentinien zum Beispiel würde er fernab jeder Stadt Start- und Landepisten auf einsamen Haciendas vorfinden.
Als er sich einem Wegweiser näherte wechselte er auf die Fahrspur die als Fernziel Santa Fé auswies. Das brachte ihn auf die 499. Er durchquerte die Tehachapiberge und das Bild der Landschaft änderte sich. Schließlich machte ihn eine Ortstafel darauf aufmerksam, daß er sich nun in der Mojavewüste befand. Das erklärte auch den plötzlichen Temperaturanstieg und er begann zu bedauern, daß der Wagen nicht mit Klimaanlage ausgerüstet war.

In der Neuen Welt hat eine Wüste selten den Wüstencharakter bar allen Lebens den du zum Beipiel in der Sahara erwarten würdest. Disney's Filmtitel "Die Wüste lebt" ist durchaus berechtigt - auch wenn man das Leben nicht auf den ersten Blick wahrnimmt.
Ein Tier das er für einen Stein hielt und erst als Gilaechse erkannte als es aus dem Schatten eines Felsbrockens hervorkroch und die Sonne seine bunte Zeichnung zum Leuchten brachte, kroch ihm so behäbig über den Weg, daß er den Wagen kurzfristig anhalten mußte.
Der Sonnenuntergang, kurz, spektakulär und für ihn nicht sichtbar weil er hinter seinem Rücken stattfand, überraschte ihn kurz vor Barstow. Er sah nur den länger werdenden Schatten seines Fahrzeugs langsam verblassen und er mußte die Scheinwerfer einschalten als sich die Dunkelheit wie ein Sack über ihn stülpte.

In Barstow kehrte er im erstbesten Motel ein. Er war viel zu müde um wirklich Hunger zu verspüren, aber weil der Körper Kalorien braucht aß er dann doch einen Hamburger den er mit einem Glas Bier hinunterspülte. Die Fritten ließ er stehen. Er überlegte kurz ob er sich noch einen Whiskey genehmigen sollte, entschied sich dagegen und ging auf sein Zmmer. Er schlief sofort ein und als er am nächsten Morgen gegen acht Uhr erwachte, lag er noch in der gleichen Position in der er sich schlafen gelegt hatte. Es war ihm auch nicht bewußt ob er geträumt hatte.

Diesen Morgen war er sehr hungrig. In der Cafeteria bestellte er Spiegeleier mit Frühstücksspeck und füllte sich den Magen. Dazu trank er einen halben Pott Kaffee, aber dann fiel ihm ein, daß er sich besser jetzt erleichtern sollte um nicht später auf der Landstraße in Verlegenheit zu geraten. Darum war es schon fast halb zehn als er sich endlich auf den Weg machte.
Er fuhr auf der 66, jener Bundesstraße die bereits damals wegen der alljährlich stattfindenden illegalen transkontinentalen Autorennen traurige Berühmtheit erlangt hatte. Die Saison war jedoch schon vorüber oder hatte noch nicht begonnen; Waitluck fand sich allein.
Zwei Tage später hatte er die Landstraße immer noch für sich allein. Kalifornien lag weit hinter ihm. Er war nicht wie jedermann zum Joshua Tree Monument hinuntergefahren weil er kein Interesse für einen alten kahlen Baum aufbringen konnte, selbst wenn der als das älteste lebende Gewächs der Erde galt. Er hatte Arizona durchquert - die "Painted Desert" fand er enttäuschend, weil er der Sonne entgegenfuhr und die Lichtverhältnisse deshalb die Vielfarbigkeit der Wüste nicht begünstigten - und am "Petrified Forest," dem versteinerten Wald, hatte er kurz Rast gemacht ohne große Begeisterung dafür zu empfinden.
Er hatte mehrfach Kreuzungen mit nach Süden führenden Bundesstraßen passiert wo Wegweiser Übergänge nach Mexiko als Fernziel auswiesen und sich jedes Mal gefragt warum er nicht einbog und seine Reise dort fortsetzte wohin er eigentlich wollte. Irgendetwas - er hätte nicht sagen können was - bewegte ihn weiterzufahren. Er hatte einen Großteil von New Mexico durchquert, näherte sich bereits der texanischen Grenze und fuhr immer noch auf der 66 nach Osten.

Eine Gestalt ging vor ihm, entgegen aller Regel der Vorsicht am rechten Straßenrand. Sie bewegte sich langsam und unsicher und tat hin und wieder einen Schritt zur Seite als habe sie Mühe das Gleichgewicht zu halten. Als Waitluck sein Gefährt langsam und vorsichtig neben sie schob blieb sie stehen und zwei riesige nachtdunkle Augen starrten auf ihn herab.
Bei ihrem Anblick - Waitluck erzählte später, er habe deutlich den Knacks gehört als ein tiefer, schwarzer und schmerzhafter Riß durch seine Seele fuhr …

Ende?


Oh nein, dies war der Anfang!


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