STORIES


IN DIE SCHATTEN

Folge 13

von Thomas Kager



Was bisher geschah:
Sven, Wildfire und Moonshadow wurden entführt und gezwungen Schaukämpfe auszutragen. Als sie endlich frei kommen, stehen sie im Bezirk Puyallup des Seattler Mega-sprawl des Jahres 2053 ohne Habe und Identität praktisch vor dem Nichts. Mit Hilfe von Ghost, dem Anführer einer Straßengang, versuchen sie nun, in das Gewerbe der "freiberuflichen Sonderkräfte" einzusteigen. Besser bekannt als Shadowrunner.
Dabei lassen sie nie ihr Ziel aus den Augen, mehr über ihre Entführer zu erfahren, doch alle Spuren verliefen bisher im Sand.


Sven und Wildfire sahen sich einen Moment lang an, dann wandte sich Sven an den Mann mit dem unübersehbaren Bierbauch. "Wir nehmen es."
"In Ordnung", nuschelte dieser gleichgültig, nahm die kalte und halb zerkaute Billigstzigarre aus dem Mundwinkel und kratzte sich ausgiebig seine Brust durch das speckige Unterhemd. "Ich gehe nach unten und mache die ganzen - Papiere fertig." Ohne auf eine Antwort zu warten, schlurfte der Hausmeister aus der kleinen Wohnung im zweiten Stock des Mietshauses und zog die Tür hinter sich zu.
Diese altersschwache Tür aus sprödem Hartplastik war das erste, das sie erneuern mußten, dachte sich Sven und überschlug noch einmal rasch die Kosten. Seine Überlegungen wurden aber unterbrochen, als Wildfire hinter ihn trat und ihre Arme um ihn legte. "Unsere Wohnung", flüsterte sie mit einem merkwürdigen Unterton in ihrer Stimme. "Und du hast mich nicht einmal über die Schwelle getragen."
Sven drehte sich zu ihr und musterte sie verwundert. Er kannte die starke Frau inzwischen schon sehr gut, trotzdem hatte er hin und wieder Schwierigkeiten, ihre Gefühle einzuschätzen.

In den letzten Wochen hatte Ghost ihnen mehrere kleinere Aufträge vermittelt, aber langsam bauten sie sich ihr eigenes Netzwerk an Kontakten auf und wurden somit unabhängiger von der Straßengang der T-Birds. Bald würden sie ihre eigenen Wege gehen, ganz so, wie sie es vereinbart hatten. Daher war es nur natürlich, dass sie sich auch räumlich etwas absonderten. Der Großteil ihres verdienten Geldes war zwar in ihre (leider vergeblichen) Nachforschungen über die Hintermänner ihrer Entführung und diverse Ausrüstungsgegenstände geflossen, doch es war immer noch genügend übrig geblieben, damit sie sich einen eigenen Unterschlupf suchen konnten. Nur für sie beide, denn die geheimnisvolle Moonshadow hatte etwas Eigenes gefunden, wo sie in aller Ruhe ihren Studien der Magie nachgehen konnte.
Es war ein weiterer Schritt hin zu ihrem Vorhaben, in den Schatten zu arbeiten. Sicherlich auch ein wichtiger, aber so wichtig...?

Sven sah den Schalk in Wildfires dunklen Augen aufblitzen und ihre Mundwinkel leicht zucken.
"Ach, das können wir ja nachholen", meinte er darauf und wollte einen Arm unter ihre Kniekehlen schieben, um sie hochzuheben.
"Bist du verrückt?" fragte Wildfire erschreckt, brachte ihre Beine vor ihm in Sicherheit und hielt seine Arme fest.
"Wenn du doch so großen Wert drauf legst", beharrte Sven und versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien. Eine Weile rangen sie spielerisch miteinander, bis Wildfire ihm aus dem Gleichgewicht schubste und sie auf das altersschwache Bett fielen. Die durchgelegene Schaumstoffmatratze gab kapitulierende Geräusche von sich, als die Halbindianerin auf ihm landete.
"Wenn du das Reintragen überspringen und gleich zum nächsten Punkt kommen wolltest, hättest du doch nur etwas sagen müssen", meinte Sven schmollend.
"Hätte ich das wirklich müssen?" fragte Wildfire und küsste ihn.

***


Sven stand am Rande des Lichtscheines, den die altersschwache Glühbirne in die verlassene Scheune warf und blickte sich zum wiederholen Male aufmerksam um.
Rechts hinter ihm stand Wildfire, das Sturmgewehr deutlich sichtbar in den Händen. Sven war immer noch nicht davon begeistert, aber nach einem etwas heiklen Zwischenfall vor zwei Wochen hatten sie sich dazu entschlossen, etwas mehr "Stärke" zu zeigen. Magisch verstärkte Reflexe und ausgezeichnete Nahkampffertigkeiten waren zwar gut und gefährlich, machten aber im Vorfeld keinen großen Eindruck auf leichtfertige Störenfriede. Und in den Schatten war Abschreckung oft die bessere Option, als sich bei einem unbedeutenden Scharmützel durch reines Pech ein Messer einzufangen. Daher trug er in einem Achselhalfter unter seiner Kunstlederjacke wieder eine Ares Predator. Die gleiche schwere Pistole hatte er bereits während seiner Arbeit als Leibwächter verwendet und war daher mit ihr vertraut.
Noch etwas weiter hinten, aber immer noch so, dass sie den Innenraum der Scheune mit ihren aufmerksamen grünen Augen gut überblicken konnte, stand Moonshadow. Die dunkelhäutige Elfe verschmolz fast mit den sie umgebenden Schatten. Nur ihr langes weißes Haar schimmerte leicht in einem fahlen Glanz.

"Sie kommen", meldete sich Tinkerbell über den kleinen Funkempfänger in Svens Ohr. Sie saß in ihrem GMC Bulldog Lieferwagen mit dessen technischen Geräten und Ausstattungen sie durch ein Glasfaserkabel verbunden war. Nachdem sie sich davon überzeugt hatten, dass diese Farm weit im Norden von Everett, dem nördlichsten Distrikt des Seattler Metroplex, tatsächlich verlassen war, hatte die kleine Elfe ihn versteckt zwischen den Gebäuden geparkt.
Rasch sah Sven auf seine Uhr. Pünktlich auf die Minute. Das Knattern eines Hubschraubers drang aus der Richtung der Grenze zu den Cascade Crow an sein Ohr und wurde rasch lauter. Nach einer Runde um die Farm landete der Hubschrauber ohne Positionslichter oder Landescheinwerfer direkt vor dem hinteren Tor der Scheune. Während die Turbinen startbereit weiterliefen schlüpften zwei Männer mit Sturmgewehren, Nachtsichtgeräten und Tarnuniformen durch das halboffene Tor und sahen sich aufmerksam um. Schließlich betrat ein dritter Söldner das alte Haus. In der Hand trug er einen metallenen Kurierkoffer, den er, nachdem er und Sven die vereinbarten Passworte genannt hatten, übergab. Gleich darauf verschwanden alle drei Männer schnell wieder nach draußen, wo der Hubschrauber sofort abhob und weiterhin unbeleuchtet wieder Richtung Landesgrenze flog.
Dieser Teil ihres Auftrages hatte nur ein paar Minuten gedauert und war mehr als glatt über die Bühne gelaufen.

Vom nächsten Treffpunkt war Sven ganz und gar nicht begeistert. Ein Anruf hatte sie knapp 24 Stunden später zu den verfallenen Gebäuden eines aufgegebenen Sportflugplatzes geführt. Wie an vielen Orten in Puyallup war der Boden während des Großen Geistertanzes und den damit verbundenen Vulkanausbrüchen mit einer dicken Ascheschicht bedeckt worden und hatte einen Flugbetrieb auf Monate hinweg unmöglich gemacht. In den 40 Jahren seither hatte sich niemand mehr um den Platz und die Gebäude gekümmert und sie sich selbst überlassen. Die Natur hatte sie wieder überraschend schnell und fast vollständig wieder in Besitz genommen. Die ehemalige Start- und Landebahn war nur mehr ein brüchiger und holpriger Streifen aus grauen Betonbrocken und die Wände der Kontrollgebäude würden wohl bei einem der nächsten stärkeren Herbststürme in sich zusammen fallen. In ein paar Jahren würde von ihr nichts mehr zu sehen sein. Das Gras war mancherorts mehr als kniehoch gewachsen und vereinzelt waren Büsche in die Höhe geschossen. Trotzdem war das Gelände auf 2 km in jede Richtung gut zu übersehen. Das Licht der Sterne und des dünnen Halbmondes erhellten die Umgebung für normale Augen zwar nur spärlich, doch Sven konnte durch seine ki-Fertigkeiten ausreichend sehen. Moonshadow hatte mit den Lichtverstärkerfähigkeiten ihrer Elfenaugen wohl noch weniger Probleme und für die Spezialkameras von Tinkerbell war es sicherlich wie am hellen Tag.
Sven kam sich vor, wie auf einem Präsentierteller. Aber andererseits konnte sich hier auch niemand ungesehen nähern. Es sei den, derjenige würde die ganze Strecke vorsichtig durch das Gras robben...
Tinkerbell entdeckte die dunkle Limousine mit den abgedunkelten Scheinwerfern schon kurz nachdem diese hinter einem der fernen Häuser auftauchte. Es war deutlich zu sehen, dass sie sich mit dem Untergrund schwer tat. Teilweise schwankte sie wie ein Schiff bei schwerem Seegang während sie durch das hohe Gras pflügte. Ein denkbar unpassendes Fortbewegungsmittel.
Sven schüttelte ungläubig den Kopf und stieß sich von der Wand ab, gegen die er sich gelehnt hatte. Den Koffer deutlich sichtbar in der Hand ging er dem Wagen ein paar Schritte entgegen. Wildfire stand nahe den Ruinen und hielt ihr Sturmgewehr bereit, achtete jedoch penibel darauf, damit nirgendwo bestimmtes hinzuzielen. Moonshadow hockte in ihrem langen schwarzen Mantel ein paar Meter entfernt am Boden. Bei flüchtiger Betrachtung hätte man sie mit einem schmalen Gebüsch verwechseln können.
Die Limousine hielt etwas vor ihnen. Ein Mann mit Konzernanzug und einer giftig aussehenden Maschinenpistole stieg aus der Beifahrertür, sah sich aufmerksam um und öffnete danach die hintere Wagentür. Der Typ, der aus dem Fond stieg, war ein typischer Konzernmann. Und verdammt jung, dachte Sven. Wahrscheinlich einer von der ganz eifrigen und energischen Sorte, die kaum, daß sie ins Berufsleben eingestiegen waren, sich daran machten, möglichst schnell die Karriereleiter hinaufzuklettern. Mit einem nichts sagenden Lächeln kam er auf Sven zu, konnte aber die gierigen Blicke auf den Koffer nicht ausreichend unterdrücken.
"Ich gehe davon aus, dass es keine Schwierigkeiten gab", sagte der Konzerntyp bemüht ruhig. Sven nickte kühl. "Keine Schwierigkeiten. - Bis jetzt", fügte er hinzu, weil er ein ungutes Gefühl bei seinem Gegenüber hatte.
Der lächelte zwar schmierig, doch Sven konnte die Unsicherheit in seinem Gesicht erkennen. Es war wohl seine erste derartig Aktion. Fahrig griff er in seine Anzugtasche und erstarrte, als Sven einen Fuß halb zurück setzte und Wildfire den Lauf ihrer Waffe warnend leicht anhob. Weitaus vorsichtiger zog er einen Kredstick hervor und gab ihn Sven, der ihn begutachtete. Er schien in Ordnung zu sein und die vereinbarte Summe war darauf registriert. Sven reichte ihm den Koffer und dann ging plötzlich alles sehr schnell.
Der Konzerntyp ergriff gerade den Koffer, als sein Kopf zur Seite ruckte und mit einem ekelerregenden Geräusch feuchte Masse verspritzte. Mit einem ungläubigen Ausdruck auf seinem Gesicht kippte er steif wie ein Stück Holz einfach um.
Ohne einen Gedanke zu verschwenden, warf sich Sven ebenfalls zu Boden. Keine Sekunde zu früh, denn dort, wo er gerade noch gestanden hatte, jagte ein Projektil pfeifend durch die Luft.
"Ein Hinterhalt!" fluchte Sven während eine dritte Kugel die Scheibe der Fahrertür der Limousine durchschlug. Er hörte Moonshadow eine magische Formel rufen und sofort bildete sich Nebel, der sich mit dem Rauch aus einer Öffnung von Tinkerbells Lieferwagen mischte. Sven hörte einen alarmierten Ruf aus Richtung der Limousine, dann hustete eine Maschinenpistole los. Das laute Bellen von Wildfire Sturmgewehr antwortete augenblicklich und würgte es ab. Dann war es plötzlich still. Sven konnte nicht erkennen, ob sie den Konzerntypen getroffen hatte, denn die Sichtweite hatte sich inzwischen drastisch reduziert.
Alarmiert fuhr Sven herum, als ihn jemand an der Schulterberührte, doch es war nur Wildfire, die neben ihm kauerte und ihn besorgt musterte. Als sie sah, dass er in Ordnung war, atmete sie erleichtert auf.
"Schnell weg hier!" Sven schnappte sich den Kurierkoffer und geduckt hasteten sie in die Richtung, wo der Motor von Tinkerbells Wagen ungeduldig rumorte.
Plötzlich stieß Wildfire ein Warnruf aus und fast gleichzeitig feuerten die Maschinenpistole und das Sturmgewehr wieder. Sven fuhr kampfbereit herum, doch in dem Moment prallte Wildfire gegen ihn und riss ihn von den Beinen. Über ihnen sauste ein lodernder Ball durch die Luft, es gab einen lauten aber kurzen Schmerzensschrei, Splittern von Glas und dann nur mehr das Prasseln eines Feuers.
Schnell rappelte sich Sven auf und beugte sich besorgt über seine Freundin, die krampfhaft keuchte und sich vor Schmerzen am Boden krümmte. Er schluckte schwer, als er sah, wie unter ihrer Jacke eine dunkle Flüssigkeit hervor quoll und das niedergetrampelte Gras befleckte.

Wie ein Schatten stand plötzlich Moonshadow neben ihnen.
"Schnell", zischte sie, griff sich den Koffer und die Waffe und huschte wieder in die Dunkelheit Sven packte Wildfire und schleppte sie rasch die restlichen Meter zu Tinkerbells Lieferwagen. Gemeinsam mit der dunklen Elfe hob er sie hinein. Er konnte gerade noch seinen Fuß in das Innere ziehen, bevor die Tür zu schnappte. Mit aufheulendem Motor jagte die zierliche Elfe den Bulldog über den unebenen Untergrund. Sven verkeilte seine Beine in irgendwelche Ecken und kämpfte verbissen um sein Gleichgewicht, während er hektisch Wildfire aus ihrer Kunstlederjacke schälte. Sie selbst konnte dabei kaum helfen. Ihre Bewegungen wurden zusehends unkontrollierter und schwächer.
Ihr Atem rasselte beängstigend. Achtlos warf er die Jacke zur Seite und zerriss ihr Shirt. Aus einer hässlichen Wunde unter ihrer rechten Brust quoll unablässig helles Blut, das mit Luftbläschen durchsetzt war. Sven schluckte seine aufsteigende Panik hinunter und riss den Erste-Hilfe-Kasten aus seiner Halterung. Mit zitternden Fingern klatschte er einen Schnellverband auf die Wunde.
In ihrem rechten Oberschenkel entdeckt er einen weiteren Einschuss. Er schlitzte das Hosenbein mit Hilfe seines Messers auf und brachte rasch einen zweiten Schnellverband an. Erschreckt musste er feststellen, dass der Verband auf ihrer Brust in den wenigen Sekunden bereits blutdurchtränkt war. Hastig legte er einen zweiten darüber an und presste zusätzlich noch seine Hand darauf, in dem Versuch die Blutung zum Stillstand zu bringen. Doch über den schwankenden Wagenboden schwappte immer mehr dunkles Blut, das unter Wildfire hervor sickerte.
Eine heftige Wende riss Sven von den Knien und schleuderte ihn gegen die Seitenwand. Hektisch versuchte er, Wildfire festzuhalten, um sie vor weiteren Schaden zu bewahren. Dabei glitt seine, vom Blut rutschige Hand aus, fuhr unter ihrem Rücken entlang und landete in einer noch viel größeren Wunde. Dort, wo das Projektil ihren Körper wieder verlassen hatte. Nur mit Mühe konnte Sven verhindern, sich zu übergeben.
Mit einem letzten heftigen Rumpeln, das ihn ein paar Zentimeter in die Luft hob und anschließend umso heftiger wieder zu Boden schleuderte, wurde die Fahrt plötzlich ruhiger. Gleichzeitig spürte Sven, wie Tinkerbell stark beschleunigten. Sie mussten wohl wieder auf einer befestigten Straße sein.

"Moonshadow!" bat er verzweifelt. "Tu doch 'was!"
Doch die Magierin tat bereits längst etwas. Er hatte in seiner Hektik gar nicht mitbekommen, dass sie sich hinter Wildfire auf den unruhigen Boden hingekniet hatte und ihren Kopf mit beiden Händen fest in ihrem Schoß hielt. Unablässig murmelte Moonshadow vor sich hin, den Kopf tief gesenkt, die Augen fest geschlossen. Wildfires Augenlider flatterten unkontrolliert und sie versuchte vergeblich etwas zu sagen. Doch nur ein unverständliches Gurgeln, begleitet von hellroter Schaum drang aus ihrem Mund.
Sven nahm die letzten beiden Schnellverbände auf dem Erste-Hilfe-Koffer, hob ihren Körper etwas an und versorgte die klaffende Wunde an ihrem Rücken. Dann ließ er sie wieder zurück sinken und hoffte, dass der Druck ihres Körpers auf die Kompressen den Blutfluss stoppen würde. Genauso drückte er wieder seine Hand auf ihre Brust.
Tatsächlich sickerte immer weniger Blut durch die getränkten Verbände unter Svens Händen. War die Blutung endlich zum Stillstand gekommen? Oder war einfach kein Blut mehr in ihrem Körper, das heraus fließen konnte? Verzweifelt fragte sich Sven, was er noch tun konnte. Seine Erste-Hilfe-Kenntnisse drängten ihn, Wildfires Atmung und Puls zu kontrollieren. Doch dazu hätte er an ihr Gesicht und Hals gemusst, weil der Puls an ihrem Handgelenk nicht mehr tastbar war und er durch die unruhigen Bewegungen des Wagens keine Atembewegung ihres Brustkorbes sehen konnte.
Doch immer noch hielt Moonshadow ihren Kopf fest in ihren Händen und er wagte es nicht, sie in ihrer Konzentration zu stören, bei was auch immer sie tat. Die dunkle Elfe hatte schon mehrfach bewiesen, dass sie eine überaus fähige Magierin war. Auch wenn sie immer wieder betonte, keine ausgebildete Heilerin zu sein, ruhten nun Svens gesamte Hoffnungen bei ihr. Er selbst konnte nur hilflos neben seiner Freundin knien, die reglos und unnatürlich blass in einer Lache aus ihrem eigenen Blut lag und dafür sorgen, dass sie in den rasanten Kurven nicht noch zusätzlich Schaden nahm. Quälend langsam zogen sich die Minuten dahin.

Mit einer scharfen Bremsung kam der Lieferwagen endlich zum Stillstand. Fast augenblicklich flog die Wagentür auf. Ein weißer Kittel und wallend blonde Haare stürmten herein und beugten sich über Wildfire. Dr. Dominique war da. Tinkerbell hatte sie bis direkt vor ihre Ordination gefahren.
Die Straßenärztin presste das Stethoskop auf Wildfires Körper und lauschte angestrengt, während eine Helferin ein paar kleine medizinische Geräte auf ihre Brust klebte. Ein bestürzter Ausdruck trat auf ihr Gesicht.
"Stasis", presste Moonshadow, die immer noch in ihrer knienden Haltung verharrte, angestrengt zwischen ihren Lippen hervor. Auf ihrer Stirn hatten sich große Schweißtropfen gebildet und ihre sonst so feinen Gesichtszüge waren vor Konzentration verzerrt.
Dr. Dominique blickte etwas irritiert auf die Magierin, dann atmete sie erleichtert auf. "Gut. Sehr gut."

***


Angespannt schritt Sven im Warteraum auf und ab. Dabei hatte er keinen Blick für die neuen hellen Tapeten, die aktuellen Magazine auf dem sauberen Tisch oder den großen grünen Farn in der Ecke. Das alles interessierte ihn nicht. Genauso wenig interessierte es ihn, dass an seinen Händen und der Kleidung immer noch getrocknetes Blut klebte. Wildfires Blut. Das Blut, das so unaufhaltsam aus seiner reglosen Freundin gequollen war. Verzweifelt versuchte Sven, dieses Bild aus seinem Kopf zu bekommen. Doch immer, wenn er es einmal für einen kurzen Moment schaffte, sah er stattdessen ihre leeren Augen, die aschfahle Haut, den roten Schaum vor ihrem Mund...
Sven blieb abrupt stehen, als sich eine Tür öffnete. Doch es war nur Tinkerbell, die mit unsicherer Miene unter der grünen Fankappe der Seattler Supersonics den Warteraum betrat. In ihren Händen hielt sie den metallenen Kurierkoffer. Hasserfüllt starrte Sven auf das Gepäckstück, als wäre er alleine an all dem schuld, was in der Nacht passiert war.
Doch das war er nicht, dachte sich Sven betrübt. Jemand anders...
"Weißt du schon..." begann Tinkerbell, doch Sven schüttelt nur stumm den Kopf. Still setzte sich die zierliche Elfe auf einen der Stühle und schob den Koffer darunter, während Sven seine ruhelose Wanderung wieder aufnahm und sich die entscheidenden Sekunden der verpatzten Übergabe vor Augen rief. Wo hatte er genau den Fehler gemacht?
"Es ist nicht deine Schuld", meinte Tinkerbell nach einer Weile, als hätte sie Svens Gedanken erraten. Er stoppte so schnell, als wäre er gegen eine Wand gelaufen.
"Wer sollte es sonst sein?" fragte er giftig. "Ich bin für solche Sachen ausgebildet worden. Ich hätte viel schneller erkennen müssen, was passiert. Ich hätte schneller reagieren müssen. Dann hätte Wildfire mich nicht decken müssen. Sie..."
"Sie hat überhaupt nichts müssen", unterbrach ihn Tinkerbell ruhig. "Es war ihre Entscheidung. Und auch sie war bei der Polizei für solche Situationen ausgebildet worden."
Sven setzte schon zu einer wütenden Erwiderung an, als sich die andere Tür des Warteraumes öffnete. Dominique sah müde und erschöpft aus. Sofort war alles vergessen, was Sven sagen wollte. "Wie... Sie... Wird sie...?" stotterte er, doch die Ärztin legte ihm beruhigen eine Hand auf den Arm. "Sie wird durchkommen. Und auch wieder ganz gesund werden."
Sven fühlte sich, als wäre ein ganzer Panzer von seinen Herzen genommen worden. Erleichtert atmete er auf. Gleichzeitig begannen aber seine Knie zu zittern und wurden so weich, dass er sich hinsetzen mußte. Fahrig wischte er sich über das Gesicht und fuhr er sich mit den Fingern durch die verschwitzten Haare. Dominique setzte sich ihm gegenüber auf den niedrigen Tisch, beugte sich vor und verschränkte die Arme vor ihrem Körper, als ob ihr kalt wäre.
"Sie ist stark. Eine echte Kämpferin. Und sie hat unwahrscheinliches Glück gehabt. Wäre die Kugel nur ein wenig seitlicher in ihren Körper eingedrungen, hätte sie die Hautschlagader abgerissen und die Wirbelsäule zertrümmert. Die beiden Rippen sind nur angekratzt. Wenn eine voll getroffen worden wäre, hätten ihre Splitter noch mehr Gewebe zerstört. Und die eine Niere lässt sich relativ leicht klonen. Zum Glück wurde ihr Reflexbooster nicht beschädigt, sonst hätte ich noch einen Cybertechniker suchen müssen."
"Danke", flüsterte Sven. "Ich weiß nicht, wie..." Umständlich kramte er den Kredstick aus der Jacke und hielt ihn der Ärztin hin, doch diese lehnte entschieden ab. "Ich werde von euch bestimmt kein Geld annehmen. Schließlich habe ich euch all das hier zu verdanken."
Bei der umfassenden Handbewegung, die ihre Worte unterstreichen sollte, zuckte sie schmerzlich zusammen. Erst jetzt fiel Sven auf, wie mitgenommen und erschöpft sie aussah. Und das lag sicherlich nicht alleine an der langen Operation, die sie hinter sich hatte. Sie sah blass aus und um ihre Augen lagen dunkle Ringe und die vollen Lippen waren verkniffen. Unter ihrer blonden Mähne war ein paar Zentimeter kastanienfarbenes Haar nachgewachsen. "Was ist los mit dir?" wollte er wissen
"Ach, nichts", versuchte sie abzuwinken. Als er sie stirnrunzelnd ansah, seufzte sie und setzte sich vorsichtig aufrechter hin. Ihre Oberweite war deutlich kleiner geworden. "Ich hab mir vor zwei Tagen die Brustimplantate entfernen lassen. Nächste Woche kommen die Lippen dran. Es wurde Zeit, dass ich wieder ich selbst werde und mit 'Schwester Mercy' endlich abschließe."
Sie lächelte zögerlich und unter der ganzen Erschöpfung begann eine große Portion Selbstvertrauen und Sicherheit zu strahlen.
"Das ist gut. Das freut mich für dich", begann Sven, doch Dominique sah nur verlegen zu Seite. Es war ihr sichtlich peinlich, darüber zu sprechen. Er wusste, dass die medizinische Betreuung der Teilnehmer der Showkämpfe nicht etwas darstellte, worauf sie stolz war. Auch wenn sie nicht so ganz freiwillig mitgemacht hatte.
"Kann ich sie sehen?" fragte Sven daher. Einerseits um das Thema zu wechseln, andererseits, weil ihm die Frage unter den Nägeln brannte.
"Was?!" schnappte Dominique ungläubig.
"Wildfire", fügte Sven verwundert hinzu. "Ich hätte Wildfire gerne gesehen, wenn das möglich ist."
"Oh - sicher", stotterte die Ärztin verlegen. Sven verstand nicht so ganz, was gerade geschehen war und auch Tinkerbells feixendes Grinsen half ihm nicht weiter.
"Aber so kommst du mir nicht ins Krankenzimmer."
An Svens Händen und Kleidung klebte immer noch getrocknetes Blut und Dreck. Er sah wirklich ekelhaft aus. Und durch die letzten unbewussten Bewegungen hatte er sich das alles auch noch in sein Gesicht und Haare geschmiert.

"Es sieht schlimmer aus, als es ist", flüsterte Dominique und legte Sven beruhigend die Hand auf die Schulter. Sven nickte stumm, konnte aber ein bestürztes Schaudern nicht unterdrücken. Reglos lag Wildfire in einem Krankenbett, das von medizinischen Geräten umringt war. Der Schlauch einer Kunstblutkonserve endete in der Vene ihres Armes. Mehrere farbige Medikamentenpflaster klebten an Oberarm und Hals und ein durchsichtiger Tubus steckt zwischen ihren Zähnen. Ein leises Brummen, das Piep-Piep der Herzüberwachung und das rhythmische Zischen der Beatmungsmaschine erfüllten den kleinen Raum und schufen eine beklemmende Geräuschkulisse.
Zaghaft trat Sven näher und ließ den Blick über seine Freundin schweifen. Sie war frisch gewaschen und ihre Haut hatte nicht mehr diesen beängstigend aschgrauen Farbton. Zaghaft berührte Sven ihren Arm.
"Ich habe sie in Tiefschlaf versetzt", erklärte die Ärztin und kontrollierte routiniert die Anzeigen der Geräte. "Das gibt ihrem Körper mehr Energie für die Erholung. Es geht ihr aber den Umständen entsprechend gut."
"Wo ist Moonshadow?" fragte Sven leise ohne den Blick von ihr zu lösen. "Ich muß mich bei ihr auch noch bedanken."
"Sie schläft nebenan. Der Stasiszauber, mit dem sie Wildfires Körperfunktionen erheblich verlangsamt hatte, hat sie sehr viel Kraft gekostet und vollkommen erschöpft. Aber ohne ihn hätte sie es sicher nicht überlebt."
"Tust du mir einen Gefallen und...", Sven bracht ab.
"Natürlich. Ich kümmere mich gut um sie. Um sie beide."
"Danke", murmelte Sven mit schwankender Stimme, strich Wildfires schwarze Haare zurück und küsste sie sanft auf die Stirn.

***


Die zweite Übergabe ging weitaus professioneller über die Bühne. Das wusste Sven bereits in dem Moment, als der neue Kontaktmann sein Motorrad auf das Gelände des ehemaligen Schrottplatzes lenkte. Jede Bewegung von ihm ließ erkennen, daß er ein Veteran in dem Geschäft war. Er nahm die sichernden T-Birds zur Kenntnis, beachtete sie aber nicht weiter, sondern interessierte sich rein für die Übergabe. Er saß bereits wieder auf seinem Motorrad, als er sich noch einmal an Sven wandte.
"Wie geht es Ihrer Partnerin?"
"Was geht Sie das an?" schnappte Sven in einem Anflug von Wut.
"Ich wurde angewiesen das zu fragen", erwiderte der Kontaktmann achselzuckend.
"Sie wird es überleben", sagte Sven knapp, ärgerlich darüber, daß er sich gehen hatte lassen. Er konnte es sich dann aber doch nicht verkneifen hinzuzufügen. "Ich hoffe, der Verantwortliche dieser stümperhaften Planung wird sich den Konsequenzen stellen müssen."
"Das hat er bereits", erklärte der Kurier ruhig.

***


"Lass das! Ich bin kein Kind mehr!"
"Aber Dominique hat gesagt, dass du dich noch schonen sollst und...", begann Sven, verstummte aber bei Wildfires entrüstetem Schnauben. Ungelenk kletterte sie aus Tinkerbells Bulldog, während er sie dabei besorgt beobachtete. Er wagte aber nicht mehr, sie noch einmal zu ermahnen. Sie würde genauso wenig auf ihn hören, wie auf die Ärztin, die sie lieber noch ein paar Tage länger in ihrer Obhut gehabt hätte. Tinkerbell machte es sich da wesentlich einfacher, in dem sie noch einmal fröhlich grüßte, Sven breit angrinste und dann davon brauste. Ungewohnt steif und mühevoll stakste Wildfire auf den Eingang des Wohnblocks zu. Keine Spur mehr von ihrem federnden, geschmeidigen Gang. Sie bedachte Sven, der ihr fürsorglich die Eingangstür aufhielt, mit einem giftigen Blick und betrat das Haus, nur um festzustellen, dass der Aufzug wieder einmal nicht funktionierte.
"Soll ich...?" begann Sven, doch sie unterbrach ihn sofort mit einem geschnappten "Nein!" Undeutlich murmelnd kämpfte sie sich Hand über Hand, am Geländer hochziehend, die Treppen nach oben. Sven nahm ihre gereizte Laune nicht übel. Er wusste genau, dass sie nicht gegen ihn gerichtete war. Die ehemalige Texas Rangerin war einfach nur genervt davon, dass sie ihre Verwundungen immer noch so sehr behinderten. Die Zeit, in der sie untätig im Krankenbett liegen musste, war für die starke und selbstbewusste Frau eine ausgemachte Folter gewesen. Geduldig folgte Sven ihr in den zweiten Stock. Dicht genug, dass er sofort eingreifen konnte, falls sie ihre Kräfte verließen, aber mit genügend großem Abstand, dass sie sich nicht bedrängt oder - noch schlimmer - bemuttert fühlte.
Mit einem unterdrückten Stöhnen lehnte sich Wildfire an die Wand des schäbigen Ganges, während Sven die Öffnungskombination in den kleinen Ziffernblock der neuen Sicherheitstür eintippte. Er kam gerade noch rechtzeitig, um seine dickköpfige Freundin aufzufangen, als diese mit flatternden Augenlidern langsam zu Boden sank. Ohne weitere Umstände zu machen, hob er sie hoch, stieß mit dem Fuß die Tür auf und trug sie in ihre Wohnung. Dort legte er sie sorgsam auf das Bett, das er während ihres Aufenthaltes bei Dr. Dominique gekauft hatte. Dann ging er wieder nach draußen und sammelte die Sachen auf, die er hatte fallen lassen. Als er die Tür hinter sich schloss, hatte sie ihren Schwächeanfall schon wieder weit genug überwunden, um zu versuchen, sich ihre Stiefel auszuziehen. Doch selbst bei den merkwürdigsten Verrenkungen hinderten ihre noch nicht vollständig verheilten Wunden sie daran, sich weit genug vor zu beugen oder die Beine anzuziehen.
Schließlich gab sie ihre Bemühungen auf, stieß einen resignierenden Seufzer aus und ließ sich wieder auf die bequeme Matratze zurücksinken. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, zog ihr Sven die Stiefel von den Füßen. Diesmal akzeptierte sie seine Hilfe widerspruchslos.
Nachdem er alle Sachen verstaut und das Gefühl hatte, dass sie soweit war, legte er sich neben sie aufs Bett.
"Schön, was du aus der Wohnung gemacht hast", meinte sie schließlich. Sven sah sich etwas um. "Ja, kaum zu glauben, was man mit etwas Farbe und ein paar neuen Möbeln bewirken kann."
"Die Lampe passt aber nicht."
"Richtig", stimmte Sven ihr zu, obwohl sie sie selbst ausgesucht hatte. Doch er wusste, dass sie das nur sagte, weil es sie ärgerte, nicht aktiv dabei gewesen zu sein. Trotzdem er alles mir ihr am Krankenbett durchgesprochen und sie gemeinsam alles ausgesucht hatten.
Eine Weile lagen sie stumm einfach nebeneinander. Dann spürte Sven, wie Wildfires Hand nach der seinen tastete. Zärtlich ergriff er sie.
"Jetzt hast du mich doch über die Schwelle getragen."

Fortsetzung folgt...


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