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EINE AUSGEFALLENE WIMPER

von Susanne Stahr



Aimee zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum. Vor sechs Stunden hatte sie ihr letztes Stück Brot gegessen. Jetzt hatte sie nur noch ein paar Rosinen und einen Rest Instant-Kaffee. Der Hunger wühlte in ihren Eingeweiden wie ein wildes Tier. Wo war der nächste Laden? Ängstlich sah sie auf ihre abgemagerten Hände. Durch die blasse Haut konnte sie die Adern erkennen, blau und gewunden. Ihr ganzer Körper bestand nur noch aus Haut und Knochen. Ein kalter Schauer überlief Aimee. Sie musste sich etwas zum Essen besorgen, wenn sie nicht verhungern wollte. Gleichzeitig hatte sie Angst, hinaus zu gehen in diese Welt voller weißer Flecken, die mit jedem Mal mehr wurden. Und sie war schuld daran.
Zum weiß der Himmel wievielten Mal verfluchte sie ihr Schicksal und diese verdammte Wimper. Es war doch nur ein Spiel gewesen. Warum hatte es gerade jetzt funktioniert? Ihre Gedanken schweiften zurück, Tage, Wochen .... oder waren es schon Monate?

" .... hm, ja, dieses Angebot brauche ich noch. Das wäre dann alles." Frederic Mulhouse, der Inhaber der Firma Mulhouse Ltd., versenkte seinen Blick noch einmal in Aimees Dekolleté und wandte sich dann ab.
Das etwas dickliche, dunkelhaarige Mädchen presste die Lippen aufeinander. Innerlich schüttelte sie sich vor Ekel. Das ist nur ein Job, dachte sie verbissen und sah auf die Uhr. Eine halbe Stunde noch bis 17 Uhr. Wütend hackten ihre Finger auf die Tastatur. Verdammt, das Angebot war so lang, dass sie es wohl nicht schaffen würde. Sie hasste es, die Zeit zu überziehen, denn dann war sie mit ihrem Chef allein im Büro. Wie besessen hämmerte sie drauf los. Der Zeiger stand auf 5 Minuten nach 17 Uhr als sie den Brief ins Chefzimmer brachte.
"Warten Sie noch, Aimee", befahl der durchaus gut aussehende Mann.
"Tut mir Leid, Mr. Mulhouse, ich muss dringend zum Zahnarzt", stieß Aimee hervor und rannte so schnell aus dem Zimmer, dass sie nicht mehr hören konnte, ob er noch etwas sagte.
Atemlos erschien sie auf der Straße. Ihre Freundin Yvonne wartete auf der anderen Seite. Nach einer kurzen Begrüßung gingen sie die Straße hinunter.
"Bist du dem Schleimbeutel entkommen?", fragte Yvonne. Sie hatte auch einmal in diesem Büro gearbeitet, aber nach einem Krach mit dem Chef gekündigt. Seither war sie arbeitslos. In Ruleville gab es nicht soviel Arbeit.
"Ja, aber knapp", gab Aimee zu. "Mir geht das alles so auf die Nerven, ich würde am liebsten kündigen."
"Sei doch froh, dass du Arbeit hast. Sieh mich an, ich bin seit vier Jahren arbeitslos!", sagte Yvonne. Dabei deutete sie auf ihre abgewetzten Schuhe und die fadenscheinige Bluse.
"Wahrscheinlich hast du recht", seufzte das Mädchen. "Jetzt brauche ich eine große Portion Eis." Als sie das Zögern der anderen sah, fügte sie hinzu: "Du bist eingeladen."
Der kleine Eissalon hatte etwas Anheimelndes für Aimee. Hier hatte sie schon 'ihre' Ecke. Sie hatten das Eis fast aufgegessen als Mulhouse das Lokal betrat. "Das war aber eine rasante Zahnbehandlung", meinte er sarkastisch.
Plötzlich wirkte der Ort fremd und kalt. "Es war nur eine Kleinigkeit", stotterte Aimee.
"Ach, wer ist denn Ihr Zahnarzt? Ich suche gerade einen, der schnell arbeitet." Das Grinsen, das diese Worte begleitete war so impertinent, dass Aimee am liebsten davon gelaufen wäre.
"Er nimmt keine neuen Patienten", erklärte sie steif. "Entschuldigen Sie, bitte." Schnell legte sie Geld auf den Tisch und drängte sich an ihm vorbei. Natürlich stand er so ungünstig, dass seine Hand über ihre Hüfte strich.
"Kotzbrocken!", fauchte Yvonne und folgte ihrer Freundin.
"Wenn Sie Arbeit suchen, kommen Sie doch zu mir!", rief er ihr lachend nach. Das blonde Mädchen gab gar keine Antwort.
"Gehen wir zu mir", schlug Aimee vor. "Wenigstens dorthin kann er mir nicht folgen."
"Halt! Eine Wimper!" Yvonne tippte der anderen sanft auf die Wange und hielt ihr den Zeigefinger hin. Ein dunkles, gebogenes Haar lag darauf. "Du hast Glück", lächelte sie.
Ja, das war Yvonnes kleine Macke. "Wenn dir eine Wimper ausfällt, darfst du dir etwas wünschen. Der Wunsch geht aber nur in Erfüllung, wenn du ihn niemandem verrätst." So sagte sie immer.
Lächelnd blies Aimee die Wimper weg. Dabei dachte sie an einen großen Haufen Geld. Ja,, das wäre großartig. Dann bräuchte sie nicht mehr für dieses Ekelpaket arbeiten. Irgendwo in ihrem Hinterkopf flüsterte jedoch eine kleine Stimme: "Daraus wird nichts!"
"Du glaubst es nicht, Aimee!", warf ihr ihre Freundin prompt vor. "So wird das nie was."

"Schwimmen wir noch eine Länge?", rief Aimee fröhlich und spritzte eine Hand voll Wasser auf Yvonne.
Blubbernd tauchte die Blondine unter und schwamm unter Wasser ein Stück. An diesem Tag waren nicht viele Leute im Hallenbad und so hatten sie viel Platz zum Planschen. Eine Hand glitt an Aimees Bein entlang bis zu ihrem Schoß. Erschreckt schluckte sie Wasser und schwamm schnell zum Rand. Dort rang sie hustend nach Luft.
Ein blonder Kopf tauchte vor ihr auf. "Was ist denn mit dir los?", fragte Yvonne.
"Mach das bitte nicht mehr", keuchte Aimee. "Ich bin furchtbar erschrocken."
Yvonnes Gesicht war ein einziges Fragezeichen. "Ich war doch ganz am anderen Ende als ich sah, dass du hier hängst", erklärte sie.
"Aber ...." Das Blut wich aus Aimees Gesicht. "Komm, gehen wir. Ich will nach Hause."
"Ach, Aimee! Wir sind doch erst gerade gekommen!", rief Yvonne enttäuscht. Doch bald verging auch ihr die Lust am Schwimmen.
"Na, ist das nicht ein Zufall!", sagte eine wohlbekannte Stimme neben den beiden Mädchen. "Schwimmen ist doch ein schöner Sport." Mulhouse streckte einen Arm aus dem Wasser und ließ seine Muskeln spielen. Ein Traumkörper, dachte Aimee, warum muss da so ein Schwein drin stecken?
Schweigend hangelten sich die beiden Mädchen zur nächsten Leiter und kletterten aus dem Bassin. Eine halbe Stunde später hatten sie das Bad verlassen.
"Er verfolgt mich!", rief Aimee aus und hielt gewaltsam die Tränen zurück. "Ich kann nirgends mehr hingehen. Überall taucht er auf. Er sollte ....." Wütend suchte sie nach einem passenden Wort.
"Verschwinden?", half ihre Freundin aus.
"Ja, verschwinden. Wenn es ihn nicht mehr gäbe ..... Wo er hinkommt, beschmutzt er das Schöne. Er nimmt mir alles weg."
"Willst du jetzt auch nicht mehr schwimmen gehen?", fragte Yvonne entsetzt. Seit der Szene im Eissalon waren sie nicht mehr in dem kleinen Lokal gewesen. Aimees trauriges Kopfschütteln sprach Bände. "Denk dran, wenn dir wieder mal eine Wimper ausfällt"; lächelte sie.
"Das werde ich", versprach das dunkelhaarige Mädchen. Und diesmal meinte sie es ernst.

Die Gelegenheit kam wenige Tage später. Sie stand gerade im Badezimmer und putzte sich die Zähne. Da sah sie etwas unter ihrem linken Auge. War das ... ? Ja, eine Wimper! Behutsam nahm sie sie zwischen Daumen und Zeigefinger. "Du kleines Haar, willst du mir helfen?", flüsterte sie.
Vorsichtig ging sie in ihren Wohnraum und setzte sich aufs Bett. Mulhouse sollte verschwinden, dachte sie. Nein, das hatte schon mal nicht funktioniert. Alles, was er mit seiner Gegenwart beschmutzt hatte, sollte verschwinden. Nein, so ging es auch nicht. Er verfolgte sie doch, also .... Ein Bild tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Jedes Mal, wenn sie ein Gebäude verließ, verschwand dieses im bodenlosen Nichts. Ausgeblendet, wie bei einem Filmtrick. Im Geist stellte sie sich die Welt mit weißen Flecken vor, wie die unerforschten Gebiete auf den alten Landkarten. War er ihr gefolgt, verschwand er auch. Tat er es nicht, konnte er diesen Ort nicht beschmutzen. Ihre Wohnung war natürlich ausgenommen. Ja, so sollte es sein, dachte sie mit der Kraft der Verzweiflung. Und diesmal meldete sich die kleine Stimme nicht.

Zwei Tage später hatte sie diesen Vorfall fast vergessen. Als sie aber zur Arbeit gehen wollte, gab es das Haus nicht mehr, in dem sich das Büro befand. Da war nur noch ein weißer Fleck. Fassungslos stand sie da, vielleicht eine halbe Stunde. Der weiße Fleck blieb. In der nächsten Telefonzelle versuchte sie, im Büro anzurufen, doch die Nummer war stillgelegt. Das erklärte ihr eine freundliche Frauenstimme.
Nun gut, dachte sie. Dann mache ich einen Tag blau und fuhr nach Hause. Im Laden zwei Häuserblocks neben ihrer Wohnung kaufte sie eine Flasche Rotwein und ein gebratenes Huhn. Und als Nachspeise Zitroneneis. Das führte sie sich dann fröhlich zu Gemüte während der Fernseher einen Gruselfilm brachte. Nun, das Ende bekam sie nicht mehr richtig mit. Schließlich war sie es nicht gewohnt, eine ganze Flasche Wein allein zu trinken.
Am nächsten Morgen, als sie sich Aspirin aus der Apotheke holte, kam die Ernüchterung. Statt des Ladens war da nur noch ein weißer Fleck. Auch die Apotheke verschwand, sobald sie sie verlassen hatte. Und so ging es weiter. Sie schrieb Bewerbungen an zahllose Firmen. Doch nach jedem Vorstellungsgespräch gab es dort nur noch einen weißen Fleck. Zum Einkaufen musste sie immer weiter laufen, weil es bald keine Geschäfte mehr in ihrer Nähe gab. Und dann ging ihr das Geld aus. Der Hunger trieb sie zu Verzweiflungstaten, sie stahl Lebensmittel. Auch das konnte sie nur jeweils einmal in jedem Geschäft tun.
Immer wieder versuchte sie das alles rückgängig zu machen, indem sie sich Wimpern ausriss und wünschte, alles wäre wie vorher. Doch jetzt funktionierte es nicht mehr. Sie erzählte es Yvonne. Die sah sie so seltsam an und meinte: "Es funktioniert nur bei ausgefallenen Wimpern." Aber da war es zu spät. Sie hatte sich schon alle ausgerissen. Und bis die nachwuchsen und eine ausfiel, war es sicher zu spät. Und dann verschwand auch Yvonne. Sie war allein in einer Stadt, in der sich die weißen Flecken immer mehr häuften.
Von Zeit zu Zeit ging sie einfach in irgendein Haus, nur um zu sehen, wie es verschwand. Aber das half ihr auch nicht weiter. Jetzt war sie zu schwach, um nach einem Laden zu suchen. Auch konnte sie die Welt mit den vielen weißen Flecken nicht mehr ertragen. Sie hatte schon daran gedacht, in so einen weißen Fleck einfach hinein zu springen. Was würde dann geschehen? Würde sie verschwinden? Würde es den Zauber aufheben? Oder etwas ganz Entsetzliches, das sie sich nicht vorstellen konnte? Sie hatte Angst, was passieren könnte.
Deshalb saß sie nun hier in ihrer Wohnung und wartete auf den Tod. Sie hoffte, dass er bald kommen würde.


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