SCHWERPUNKTTHEMA


HEXEN


HEXE! HEXE!

von Thomas Kager



"Hexe! Hexe! Hexe!"
Erschreckt hielt Susanne inne und sah sich aufmerksam um. Nein, sie war wohl nicht gemeint. Aufatmend nahm sie die Aktentasche fest in die andere Hand, zog sich ihre Anzugsjacke zurecht und trat entschlossen durch die Durchfahrt in den Innenhof der Wohnanlage. Mit jedem Schritt wurden die anklagenden Rufe lauter, bis Susanne deren Ursprung entdeckte.
Mehrere Kinder hatten sich in einer Ecke des Innenhofes zusammengefunden und schrieen in Richtung eines offenen Fensters im Erdgeschoß, zu dem sie aber einen gehörigen Abstand hielten. In dem Fenster tauchten zwei alte Hände auf und ergriffen den pechschwarzen Kater, der sich auf dem Fensterbrett zusammengerollt hatte, um die warmen Sonnenstrahlen zu genießen. Den Rufen der Kinder schenkte er keinerlei Beachtung. Er maunzte allerdings unzufrieden, als er in das Innere der Wohnung gezogen wurde. Gleich darauf wurde das Fenster geschlossen.

"Was ist denn hier los?" fragte Susanne laut. Die Mädchen kieksten erschreckt auf, ein paar der Jungen liefen knallrot an und nach einer kurzen Schrecksekunde stoben alle Kinder wild auseinander. Nur ein kleines Mädchen blieb zurück und drehte verlegen ihre roten Zöpfen.
"Hallo, Tante Susanne."
"Marlene?"
Susanne war nicht wirklich mit ihr verwandt. Aber irgendwann hatte die Kleine beschlossen, die nette und schöne Frau von nebenan, einfach zu "adoptieren".
"Warum nennt ihr die alte Frau Rupert eine Hexe?" wollte Susanne wissen.
"Aber sie ist doch eine", druckste Marlene herum. Susanne hob verwundert die Augenbrauen. Dann sprudelte es aus dem Mädchen hervor: "Schau dir doch nur mal die vielen Runzeln an, die sie hat. Und die große Warze auf der Nase. Und eine schwarze Katze hat sie auch. Und der Reisigbesen... und..."
Doch sie verstummte unter Susannes vorwurfsvollem Blick und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Seufzend ging Susanne in die Knie, um nicht so bedrohlich zu wirken, was gar nicht so einfach war mit dem geschäftsmäßigen Rock und den Stöckelschuhen.
"Marlene", sagte sie sanft und legte dem Mädchen beruhigend eine Hand auf die Schulter. "Du kannst doch nicht jemanden nur wegen dem Aussehen, als Hexe bezeichnen. Viele kränken sich darüber. Schau mal: Die meisten Menschen bekommen Runzeln wenn sie alt werden. - Ja, auch ich. Du vielleicht auch einmal. - Und die Frau Rupert ist schon sehr alt. Reisigbesen sind wirklich sehr praktisch. Dass ausgerechnet schwarze Katzen Unglück bringen, ist ein alter Aberglaube. Du bist doch schon ein großes Mädchen und brauchst nicht alles zu glauben, was in den Märchen steht.
Ich hab dir doch schon einmal vom Mittelalter und den Hexenprozessen erzählt. Erinnerst du dich noch? Da reichte schon eine einfach Anschuldigung, um einer Frau in große Schwierigkeiten zu bringen. Auch heute noch kann es sehr unangenehm sein falsche Verdächtigungen auszusprechen.
Damals war man übrigens der Meinung, dass rote Haare ebenso ein Zeichen für Hexen seien, wie Warzen oder schwarze Katzen."
Dabei hielt Susanne dem Mädchen dessen feuerrote Zöpfe vor das schuldbewusste Gesicht.
"Soll ich mich entschuldigen?" fragte Marlene leise, als ob sie fürchtete, dass sie jemand hören könnte.
"Ja, das solltest du", nickte Susanne eben so leise. Sie stand auf und streckte dem Mädchen aufmunternd lächelnd die Hand hin. Froh nahm diese die dargebotene Stütze und gemeinsam klingelten sie bei der alten Frau Rupert.
Ein wenig ängstlich und misstrauisch öffnete die Alte ihre Tür einen schmalen Spalt. Doch als sie hörte, warum sie gekommen waren, änderte sich ihre Stimmung und sie lud die beiden zu sich ein. Bei einer Tasse Tee und vielen leckeren selbst gemachten Keksen unterhielten sie sich nett.
"Nun, ist die Frau Rupert eine böse Hexe?" fragte Susanne nachdem sie sich wieder verabschiedet hatten.
"Nein", antwortete Marlene und schüttelte dabei den Kopf so entschieden, dass ihre Zöpfe flogen. "Und ich werde ganz bestimmt nie wieder jemanden als Hexe beschimpfen."
"Das ist gut", lächelte Susanne.

***


"Ich bin zurück."
Noch bevor Susanne den Satz vollständig beenden konnte, war auch schon Verena aus ihrem Zimmer gestürmt und nahm ihr zuvorkommend die Aktentasche ab. Während sie Susanne half, ihre Jacke auszuziehen, sprudelte sie hervor, welche Aufgaben sie schon alle erledigt hatte. Susanne war überaus zufrieden. Es war eine sehr gute Idee gewesen, die inzwischen Sechzehnjährige als ihre Schülerin aufzunehmen. In ein paar Jahren würde sie sicherlich eine erstklassige Assistentin sein. Und eines Tages vielleicht sogar ihre Nachfolgerin.
Nachdem sich Susanne etwas frisch gemacht hatte nahm sie den kleinen Imbiss mit dem vorzüglichen Tee zu sich, den Verena ihr bereitet hatte. Danach überprüfte sie noch einmal den Sitz ihres Kostüms und Frisur und setzte sich lächelnd vor den großen Flachbildschirm mit der Webcam. Über die Internetkonferenzschaltung sahen ihr die Gesichter von neun Frauen und Männern aufmerksam entgegen.
Sie warf noch einen schnellen Blick zu Verena, die konzentriert an ihren Laptop saß, um die heutige Besprechung zu protokollieren. Ja, sie wird einmal eine sehr gute Nachfolgerin sein.
Dann wandte sich Susanne an ihre Zuhörer: "Willkommen, Hexen vom Cyberzirkel. Heute wollen wir uns darüber unterhalten, welche Auswirkungen die Ausbringung von genmanipuliertem Mais auf die Aufzucht von Alraunen haben könnte."


ENDE


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