SCHWERPUNKTTHEMA


HEXEN


DER STACHELBEERKUCHEN

von Susanne Stahr



"Verschwinde, du vermaledeites Miststück!", keifte eine schrille Frauenstimme von irgendwo her hinter der nächsten Wegbiegung und schreckte Grifo aus seinen trüben Gedanken, der da nichts ahnend die Straße entlang kam. "Lass dich nie wieder blicken, sonst drehe ich dir den Hals um! Ersticken sollst du an deiner Gier!"
Vorsichtig lugte Grifo um die Kurve. Zwischen den weit ausladenden Ästen einiger Obstbäume erblickte er eine höchst ungewöhnliche Hütte. Aus einer schneeweiß gekalkten Mauer stach eine grellbunte Tür. Das offene Fenster wurde von einem roten und einem hellgrünen Fensterladen flankiert. Gekrönt wurde dies von einer Ansammlung kreuz und quer liegender Strohbündel, die aussahen als würden sie jeden Moment auseinander fallen. Ein dünner Rauchfaden stieg daraus auf.
Passend zu diesem Haus stand eine ältere Frau am Fenster, gekleidet in ein formloses Kleid, das nur aus Flicken verschiedenster Farbe und Muster zusammen gesetzt zu sein schien. Aus einem hageren Gesicht mit tiefen Falten stach hakenartig eine spitze Nase. Das graue Gebilde auf ihrem Kopf wirkte wie die verkleinerte Ausgabe des Dachs. Ein dürrer Arm schwenkte drohend einen Besen.
Erschrocken wich Grifo hinter einen Baum zurück. Eine Weile verharrte er dort. Sein leerer Magen wollte, dass er die Frau um ein Stück Brot bat. Sein Verstand war aber der Meinung, dass es besser sei, einem Menschen in solcher Stimmung besser auszuweichen.
Zum wer weiß wievielten Mal verfluchte er seinen Leichtsinn. Warum hatte er sich nur in dieser Stadt hinter dem Eichenwald auf ein Würfelspiel eingelassen. Er hätte doch sehen müssen, dass die beiden Kerle Gauner waren. Im Nu hatte er all sein Geld verloren. Und dann gab's sogar noch eine Tracht Prügel. Mit Schimpf und Schande wurde er von den Wachen aus der Stadt gejagt. Seither hungerte er.
Im Wald hatte er nur ein paar vergessene Brombeeren gefunden. Nun hoffte er im nächsten Ort Arbeit zu finden. Grifo war ein guter Silberschmied, der, wie üblich, nach Ablegung der Gesellenprüfung auf Wanderschaft gegangen war.
Da schlich sich ein betörender Duft in seine Nase. Stachelbeerkuchen! Vorsichtig lugte er hinter dem Baum hervor. Die Alte war verschwunden. Dafür stand ein Teller mit dem herrlichen Backwerk auf dem Fensterbrett. Grifos Magen machte eine Purzelbaum. Der Kuchen lockte. Sollte er oder sollte er nicht? Grifo war kein Dieb, aber der Hunger nagte schmerzhaft an seinen Magenwänden.
Ein kurzes Zögern, dann schlich der junge Mann nahezu geräuschlos auf das Häuschen zu. Grifo, die Schlange, hatten ihn seine Freunde genannt, weil sich keiner sonst so leise und geschmeidig bewegen konnte. Zum Teil sicher auch wegen seiner zierlichen Gestalt. Diesem Namen machte er noch immer alle Ehre. Bald kauerte er unter dem Fenster und lauschte angestrengt. Kein Laut drang aus dem Inneren.
Der Kuchenduft ließ ihm das Wasser im Mund zusammen rinnen. Seine Hand zuckte schon nach dem Kuchen, aber er bezwang sich. Geschmeidig schraubte er sich soweit hoch, dass er in den Raum lugen konnte.
Eine chaotische Küche bot sich seinem Blick dar. Zwischen Obst und Gemüse standen wahllos Töpfe, Teller und Tassen. Auf dem Herd dampfte eine Kasserolle mit undefinierbarem Inhalt. Hier sollte eine solche Köstlichkeit entstanden sein? Grifo konnte es kaum glauben. Von der Bewohnerin war nichts zu sehen. Nur eine schwarze Katze räkelte sich auf einem Stuhl.
Blitzschnell schnappte sich Grifo den Kuchen und trat den Rückzug an. Hörte er da ein Fauchen? Ach was! Eilig, aber immer noch sehr leise, entfernte er sich. Sobald er sich außer Sichtweite des Hauses wähnte, begann er zu laufen, in einer Hand sein Bündel, in der anderen den Stachelbeerkuchen. Erst als er einige Meilen zurück gelegt hatte, gestattete er sich eine Rast.
An einem Bächlein ließ er sich ins Gras fallen. Zuerst gönnte er sich eine ausgiebigen Trunk Wasser, dann biss er herzhaft in den Kuchen.
Da dröhnte eine schrille Stimme in seinem Kopf. "Mein Stachelbeerkuchen! Gib ihn zurück!"
Grifo verschluckte sich. War das sein schlechtes Gewissen?
"Nein, das ist Katwalda," antwortete ihm die geheimnisvolle Stimme. "Du wirst den Kuchen zurück bringen, früher oder später."
Ein kalter Schauer spazierte an Grifos Rückgrat entlang. Mit einer fahrigen Bewegung strich er sich eine blonde Strähne aus der Stirn und stellte dabei fest, dass diese schweißfeucht war. Das kam nicht nur von der Sommersonne, die unbarmherzig auf ihn herab brannte. Zweifelnd sah er den angebissenen Kuchen an. So konnte er ihn doch nicht mehr zurück bringen! Entschlossen biss er erneut in die Köstlichkeit. Diesmal ertönte keine Gedankenstimme.

Wenig später wanderte er gestärkt die Straße entlang. Dazu pfiff er ein fröhliches Liedchen. Seine Laune hob sich noch mehr als er hinter dem nächsten Hügel Rauch aufsteigen sah. Ein Dorf! Dort gab es sicher Arbeit. Die Ernte war in vollem Gange. Da wurde jede Hand gebraucht.
Als er den Hügelkamm erklommen hatte, sah er überrascht, dass es sich bei der Ansiedlung fast um eine Stadt handelte. Um den Ortskern drängten sich sogar einige mehrstöckige Gebäude. Zur Peripherie hin wurden die Häuser kleiner, ärmlicher. Erst am Rand der Ortschaft sah er einige schöne Bauernhöfe. Frohen Mutes ging er gleich zu dem ersten Bauernhof.
Grifo grüßte höflich, nannte seinen Namen und bat um Arbeit. "Ich bin stark und fleißig", fügte er hinzu.
Die Bäuerin schüttelte bedauernd den Kopf. "Ich habe fünf starke Söhne. Wir brauchen keine Erntehelfer."
Beim nächsten Hof erging es ihm genauso. Niemand brauchte Hilfe. Und Grifos Magen begann bereits wieder zu knurren. Endlich entdeckte er einen Hof, der etwas abseits des Dorfs lag. Dort fand er einen vierschrötigen Mann, der gerade seinem Ochsen das Joch abnahm. Zwei Knechte schlichteten Kohlköpfe in Kisten und neben dem Brunnen döste ein schwarzes Kälbchen. Wieder brachte er seine Bitte vor.
"Hrrm", unterbrach ihn der Bauer. "So ein Krebsenspeck wie du will stark sein? He-he-he! Na, wenn du diese Kiste auf den Wagen laden kannst, glaube ich dir." Damit lud er Grifo eine Kiste mit Kohlköpfen auf die Schultern.
Der junge Silberschmied ging fast in die Knie, aber er biss die Zähne zusammen. Festen Schrittes trug er die schwere Last zu dem Karren, auf dem schon einige Kartoffelsäcke lagen. Es gelang ihm sogar, die Kiste einigermaßen sachte abzustellen.
"Hrrm", klang es anerkennend. "Du kriegst drei Mahlzeiten. Schlafen kannst du im Heu. Wenn die Ernte eingebracht ist, verschwindest du. Und frag ja nicht nach Geld."
Grifo sah die Knechte an, die schweigend mit den Achseln zuckten.
"Du wirst hier keine andere Arbeit finden. Wenn du nicht willst, verschwinde."
Wieder zuckten die Knechte mit den Achseln. So nickte Grifo und schlug ein.
"Ich bin Wilz", erklärte der Bauer. "Du hast mich aber ‚Meister' zu nennen. Und jetzt kümmere dich um den Kohl."

Es war schon lange dunkel als Grifo und die Knechte endlich jeder einen Napf voll Kohleintopf bekamen und sich auf den Heuboden begaben. Grifos Rücken schmerzte und seine Glieder schienen mit Blei gefüllt.
"Gibt es hier im Ort einen Silberschmied?", fragte er seine Kameraden, Braulio und Lorsch. "Ich suche einen neuen Meister."
"Ja", nuschelte Lorsch mit vollem Mund. "Ein angesehener Mann, ist sogar im Stadtrat."
"Den wirst du nicht so bald treffen", grinste Braulio. "Jetzt gehörst du Wilz. Wenn du vor Ernteschluss abhaust, hetzt er den Hund auf dich. Hast du das schwarze Vieh nicht gesehen? Wilz nennt ihn Satan."
"Ein Hund?", wunderte sich Grifo.
"Ja, du Tölpel!", lachte Lorsch nun. "Liegt die meiste Zeit beim Brunnen."
Beim Brunnen? Grifos Nackenhaare stellten sich auf. Und er hatte ihn für ein Kalb gehalten!
Der Napf war leer und er rückte sein Bündel zurecht. Jetzt nur noch schlafen, dachte er. Schon wollte er den Kopf darauf legen, da stieg ihm süßer Duft in die Nase. Das Bündel schien ihm auch größer als sein sollte. Neugierig knüpfte er es auf und riss vor Staunen Augen und Mund auf. Zwischen Socken, Hemden und Unterhosen lag ein Stachelbeerkuchen. Der Stachelbeerkuchen, er wusste es einfach. Aber er hatte ihn doch aufgegessen, restlos.
"He, Grifo!", rief da Braulio. "Gib uns auch was ab!"
"Ja!", stimmte Lorsch ein.
Immer noch verdattert brach Grifo zwei große Stücke von dem Kuchen und gab jedem Knecht eins. Den Rest würgte er selbst hinunter. Seine Kameraden schmatzten begeistert.
"So einen guten Kuchen macht nur die alte Katwalda", brummte Lorsch und rülpste. "Hast du ihn von ihr?"
Gähnend nickte Grifo und streckte sich auf dem Heu aus. "Ich bin todmüde", seufzte er und schloss die Augen. Über den Kuchen wollte er um keinen Preis sprechen.

Ein schmetterndes "Kikeriki!" riss die Männer aus dem Schlaf. Grifo streckte sich. Verdammt, solche Arbeit war er nicht gewöhnt. Heute würde er mit einem ausgewachsenen Muskelkater arbeiten müssen. Dann setzte er sich ruckartig auf. Neben ihm im Heu lag ein Stachelbeerkuchen.
"Heh! Wo hast du den denn her?", erklang da auch schon Lorschs Stimme.
"Kannst ihn haben", brummte Grifo übel gelaunt.
"Was ist denn das?", ließ sich da Braulio vernehmen, der gerade mit einem kleinen Tablett den Heuboden betrat. Drei Näpfe mit Haferbrei und ebenso viele Becher mit Buttermilch standen darauf. "Das wird ein edles Frühstück. Sollen sich doch die Schweine an dem Haferbrei mästen." Schon wollte er umdrehen, aber Grifo hielt ihn zurück.
"Gib mir den Haferbrei", verlangte er. "Den Kuchen könnt ihr euch teilen." Er brachte es einfach nicht fertig, ihn ein drittes Mal zu essen.

Diesmal wurden Grifo und die Knechte zum Rüben ernten abkommandiert. Die Sonne brannte heiß vom wolkenlosen Himmel. Wilz schimpfte, weil Grifos Muskeln nicht so recht wollten. Doch hatten sie bis Mittag alle Rüben aus der Erde gezogen. Hungrig fuhren sie zurück zum Hof.
"Nach dem Essen kommen die Karotten dran", kündigte der Bauer an.
Keiner antwortete. Stumm holten sie sich ihren Eintopf und zogen sich auf den Heuboden zurück. Nur Grifo blieb schreckerstarrt an der Tür stehen. Neben seinem Bündel lag der Stachelbeerkuchen.
"Eine milde Gabe für einen armen Krüppel", erklang da hinter ihm eine weinerliche Stimme.
"Verschwinde, Lumpenpack!", grollte Wilz.
"Nur ein kleines Stückchen Brot", bettelte der Mann.
Grifo drehte sich um und sah einen alten Mann mit einem steifen Arm. Auch das linke Bein schien nicht mehr ganz in Ordnung zu sein, denn er stützte sich auf einen knorrigen Stock.
"Hau ab!", brüllte Wilz nun. "Sonst hetze ich den Hund auf dich!"
Da schoss eine Idee durch Grifos Kopf. Vielleicht konnte er den verfluchten Kuchen durch eine gute Tat los werden. Flink holte er den Gegenstand seiner Sorgen. Der Bettler ging bereits die Straße hinunter, dem Ortskern zu.
"Warte, guter Mann!", rief ihm Grifo nach. "Ich habe was für dich!"
Erstaunt drehte sich der Krüppel um "Was ...?" Beim Anblick des Kuchens blieb ihm die Sprache weg.
"Nimm schon!", forderte ihn Grifo auf.
Ein breites Grinsen verklärte die runzligen Züge. "Mögen die Götter dich segnen, Junge!", krächzte er.
"Dich auch", antwortete Grifo und lief zurück.

Mit den Karotten kamen sie so gut voran, dass die Sonne noch nicht untergegangen war als sie zum Hof zurück kehrten. Gut gelaunt trug Grifo seinen Napf zum Heuboden. Aber, was war das? Fast hätte er den Napf fallen lassen. Der Stachelbeerkuchen lag duftend neben seinem Bündel.
"Der Kuchen ist verhext", stellte Lorsch stirnrunzelnd fest. "Du musst ihn der Hexe, die ihn gebacken hat, zurück bringen. Sonst wirst du ihn nie mehr los."
"Hrrm", stimmte Braulio zu.
"Ach was", versuchte Grifo abzuschwächen. "Nehmt ihn euch doch!"
"Ich mag ihn nicht", erklärte Lorsch und Braulio brummte zustimmend.
Wortlos packte Grifo das verhexte Ding und warf es in den Schweinestall. Dann machte er sich über den Eintopf her.
"Woher hast du den Kuchen?", bohrte Lorsch.
Grifo brummelte etwas Unverständliches und futterte verbissen weiter.
"Der ist doch von der alten Katwalda", ließ der Knecht nicht locker.
"Wenn du es schon weißt, warum fragst du dann?", gab der Silberschmied patzig zurück.
"Sie hat ihn verhext", fuhr Lorsch unbeirrt fort. "Entweder, du hast sie verärgert oder sie spielt dir einen Streich. Bring ihn zurück."
"Jetzt haben ihn die Schweine."
"Was haben die Schweine?", klang Wilz' Stimme von der Tür. "Wenn sie krank werden, breche ich dir alle Knochen."
"Es ist doch nur ein Stachelbeerkuchen", meinte Grifo.
"Einer, der immer wieder kommt", ergänzte Braulio. "Er ist verhext. Die alte Katwalda ....Aua!" Grifos Absatz bohrte sich in Braulios Fuß.
"Was?", brüllte Wilz nun. "Du hetzt mir die alte Hexe auf den Hals?"
"Aber es ist doch nur ein ....", wollte Grifo beschwichtigen.
"Neben dem Brunnen liegen drei Sensen", unterbrach ihn der Bauer. "Die werden geschliffen. Und wenn der vermaledeite Kuchen morgen wieder auftaucht, dann ...?" Eine dunkle Drohung blieb in der Luft hängen.

Mit schöner Regelmäßigkeit lag am nächsten Morgen wieder der Stachelbeerkuchen neben ihm im Heu. Wohin damit? Auf den Misthaufen! Schnell schlüpfte er ins Freie und blieb wie angewurzelt stehen. Satan stand vor ihm und beäugte ihn abschätzend. Grifo rührte keinen Muskel. Nach einer Weile hob der Hund das Bein und schickte einen Strahl gegen die Ecke der Scheune.
"Ist das der Stachelbeerkuchen?" Wilz war eben aus dem Haus gekommen und starrte ihn drohend an.
Grifo brachte keinen Laut heraus. Zuerst der Hund und dann der Bauer. Das war kein guter Morgen für ihn.
"Verdammter Spion! Verlass sofort meinen Hof! Du kannst ihr ruhig sagen, dass ich mich nicht vor ihr fürchte. Und wenn sie Kopf steht, ich gebe nicht nach."
Das brachte den Silberschmied erst recht in Verwirrung. Das Einzige, das er verstanden hatte, war der Befehl zu verschwinden. Im Eiltempo jagte er zurück auf den Heuboden, schnappte sich sein Bündel und rannte.
Die ersten paar Meilen legte er in fliegender Hast zurück. Doch je näher er dem Hexenhaus kam, umso langsamer wurde er. Was würde die Hexe Katwalda mit ihm tun? Ihn in eine Eidechse verwandeln? Oder würde sie ihm nur eine übel riechende Krankheit anhexen?
Von den wildesten Horrorszenarien geplagt trottete er weiter. Und da stand er auch schon vor dem Haus. Diesmal prangte auf der Haustür ein kompliziertes Karomuster und die Fensterläden waren blitzblau mit orangen Punkten. Zaghaft zog er an dem Glockenstrang, der neben der Tür herunter hing.
Die Tür ging so schnell auf als hätte Katwalda dahinter gewartet. "Na, das hat vielleicht gedauert. Komm herein, Grifo!", fuhr sie ihn an und trat vor die Tür. Sie sah noch genauso aus wie bei der ersten Begegnung.
"Sehr geehrte Lady, ich bitte untertänigst um Entschuldigung", brachte Grifo stockend heraus während er ihr den Kuchen hinhielt.
"Hrrrm", brummte sie und schlug das Tuch zurück. "Ja, das ist mein Stachelbeerkuchen." Dann warf sie das Backwerk in einen großen Mülleimer, der neben der Haustür stand.
"A-a-aber", stotterte der junge Mann fassungslos.
"Glaubst du wirklich, ich will einen Kuchen essen, der schon xmal verspeist wurde?", fuhr sie ihn. "Und jetzt zu dir."
"Erbarmen, Lady Katwalda!", rief Grifo in seiner Not. Er wollte flüchten, doch seine Füße schienen Wurzeln geschlagen zu haben.
In aller Ruhe holte die Hexe ihren Besen und verdrosch den Burschen zuerst einmal nach Strich und Faden. "Das war für den Diebstahl", erklärte sie sachlich. "Du hättest mich nur fragen brauchen, dann hätte ich dich zum Essen eingeladen. Ich bin nämlich eine gute Hexe, na ja, sagen wir, die meiste Zeit." Sie nickte einmal und Grifo konnte die Füße wieder normal gebrauchen.
"Ich werde es nie wieder tun", versicherte er ächzend, "nur, lasst mich gehen. Ich ...."
"Nichts da", wehrte sie streng ab. "Du musst den Kuchen noch bezahlen."
"Aber ich habe kein Geld", beteuerte Grifo verzweifelt. "Bei Wilz habe ich nur für Essen und Nachtlager gearbeitet.
"Soso! Schon wieder Wilz!" Katwalda legte den Kopf schief, was ihr ein krähenartiges Aussehen gab. "Darum werde ich mich später kümmern. Welche Arbeit kannst du denn am besten?"
"Ich bin Silberschmied", erklärte Grifo stolz. "Nur die Not hat mich zu Wilz' Hof getrieben."
"Und zu meinem Stachelbeerkuchen", ergänzte sie trocken.
Grifo senkte schuldbewusst den Blick.
"Na, das trifft sich aber gut", meinte die Hexe ruhig und verschwand in ihrem Haus. Schon nach wenigen Augenblicken kam sie wieder heraus. "Kannst du diese Kette reparieren?" Ihre knotige Hand schoss vor und präsentierte ihm eine Silberkette, wie er sie noch nie gesehen hatte. Jedes Glied hatte eine andere Form. Grifo brauchte eine Weile, bis er erkannte, dass dies verschlungene Buchstaben waren. Die Kette bildete Wörter, die jedoch für ihn keinen Sinn ergaben. An zwei Stellen war ein Glied gebrochen.
Grifo hob die Kette vorsichtig hoch. "Das sollte nicht so schwer sein", meinte er fachmännisch. "Leider habe ich kein Werkzeug."
"Das kriegst du von mir." Katwalda führte ihn in eine kleine Kammer. Vor dem Fenster stand ein Tisch, auf dem alles lag, was er für die Reparatur brauchte, Zangen, Feilen, ein Bunsenbrenner zum Erhitzen des Werkstücks und vieles mehr. Fast eine kleine Werkstatt, dachte Grifo.
"Du kannst schon anfangen", ermunterte ihn die Hexe und unterstrich ihre Worte mit einem kräftigen Schubs. Dann ließ sie ihn allein.
Es dauerte eine gute Stunde, dann war die Kette wieder heil. Die Arbeit hatte ihm Spaß gemacht. Wie gern würde er doch in seinem erlernten Beruf arbeiten. In letzter Zeit hatte er sogar schon Albträume von Kohlköpfen und Karotten.
Als er sich erhob, um die Hexe zu suchen, stand sie plötzlich vor ihm und streckte die Hand aus.
"Lass mal sehen!" Sie winkte mit einem dürren Zeigefinger und die Kette schwebte in ihre Hand. Nun begann sie mit erstaunlich reiner Stimme zu singen. Die Worte konnte Grifo nicht verstehen, aber es klang harmonisch. Ein Kettenglied nach dem anderen glühte auf und erlosch wieder, vom ersten bis zum letzten. Dann war auch das Lied zu Ende. Ein breites Grinsen erschien auf ihrem Gesicht.
"Ja, das ist eine angemessene Bezahlung für meinen Kuchen", nickte sie. Aus der Luft griff sie einen blütenweißen Umschlag und gab ihn Grifo. "Geh zu Meister Amedin und gib ihm diesen Brief. Es ist ein Empfehlungsschreiben. Er wohnt in dem gelben Haus mit den Rosenbüschen im Vorgarten. Er ist der Silberschmied im Ort. Soviel ich weiß, sucht er einen Gesellen."
"Vielen Dank, Lady Katwalda!", stieß Grifo heraus und nahm die Beine unter die Arme.

Grifo hatte seinen ersten Arbeitstag bei Meister Amedin hinter sich und wollte sich eben zur Ruhe begeben, als es an der Tür klopfte. Ein Kunde? So spät noch?, dachte er als das Stubenmädchen an ihm vorbei ging um zu öffnen. Kurz danach kam sie zurück und gab ihm zwei Silbertaler.
"Das war Wilz", sagte sie verwundert. "Er sagte, ich soll dir ausrichten, dass du deinen Lohn vergessen hast und dass er sehr zufrieden mit dir war." Sie schüttelte unsicher den Kopf. "Das sieht Wilz gar nicht ähnlich. Der ist doch der größte Geizkragen und Schinder im Ort."
"Vielleicht hatte er einen guten Grund, großzügig zu sein", grinste Grifo und steckte das Geld ein. Dann ging er in seine Kammer und ließ ein sehr verwirrtes Mädchen zurück. "Danke, Lady Katwalda", flüsterte er als er sicher war, dass ihn niemand hören konnte.


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