STORIES


AUF DER 66

von Fred H. Schütz



Manchmal kann man nicht anders; man muß sich irgendwie Luft machen und dann ist es gut wenn man alleine im Wagen sitzt. Waitluck fluchte so laut daß die Scheiben klirrten und von der Farbigkeit seiner Ausdrücke - was der Amerikaner einen blauen Blitzstrahl nennt - in einem halben Dutzend Sprachen, könnten zarte Damenohren vor Scham schier abfallen. "Kurva ferdch sik! Caracoles! Jab dibb am!"
Warum tat er sich das an? Welch perverser Drang veranlaßte ihn in die falsche Richtung zu fahren anstatt einen rechten Haken zu schlagen und über die Grenze zu huschen wie er es von Anfang an vorhatte? Wieviele Abfahrten hatte er schon verpasst, seit er auf der 66 fuhr? Er hatte doch Augen im Kopf und schläfrig war er auch nicht; er sah die Hinweisschilder und fuhr stur daran vorbei!
Die Monotonie der Landschaft ringsum war auch nicht dazu geeignet seine Stimmung zu heben. In Arizona hatte er Ocotillosträucher gesehen und einmal in der Ferne einen Saguaro; hier gab es nur Kreosotbüsche und das kurzhalmige Büffelgras. Das Band der Landstraße, die Masten einer Telegraphenleitung in regelmäßigen Abständen auf einer Seite, den Blick auf ferne Berge weit im Norden auf der anderen, strafte den Begriff Tafellandschaft Lügen, indem es sich hob und senkte und Waitluck den Eindruck erhielt er befände sich in einem Boot auf dem Meer. Wenn ein Wasserfahrzeug zwischen zwei Wellenberge paßt, ist es ein Boot.
Werimmer diese Straße quer durch den Kontinent gelegt hatte, er hatte sie für ihn gebaut, für ihn allein; es gab so gut wie keinen Verkehr. Hin und wieder begegnete er einem Fahrzeug das ihm entgegenkam. Meistens saß der Fahrer allein am Steuer, den Blick geradeaus gerichtet und den Körper über das Steuerrad geneigt als müßte er es festhalten, gerade so als fürchtete er es könne ihm wegfliegen. Dann wieder fuhr ein Pärchen an ihm vorbei das sich zu streiten schien, oder wie sonst ließen sich die heftigen Gestikulationen der Dame auf dem Beifahrersitz deuten. Waitluck, seine Schelte momentan vergessen, lächelte grimmig in sich hinein.
Dann und wann begegnete er einem der hier üblichen riesigen Lastzüge, gigantische Zugmaschinen mit Auflieger und meistens einem ebenso riesigen Anhänger neben denen man sich winzig vorkommen mußte, und einmal wurde er von einem dieser dröhnenden Monster überholt. Der Fahrer, unsichtbar in seiner Kabine hoch über Waitluck, fuhr als sei der Leibhaftige hinter seiner Seele her.
Waitluck, furchtsam an den Straßenrand gedrückt obwohl die Straße breit genug war, ließ ihn vorüberrauschen und fuhr dann etwas langsamer um dem vom Fahrwind aufgewirbelten Staub zu entgehen; dennoch legte sich eine weitere gelbgraue Staubschicht auf seinen alten Ford. Jetzt hatte er guten Grund seine Sparsamkeit zu verfluchen die ihn einen Wagen ohne Klimaanlage wählen ließ.
Ein Hinweisschild am Straßenrand machte darauf aufmerksam, daß er sich der texanischen Grenze näherte.
Er sah den blauen Chrysler sowie der im Rückspiegel auftauchte und gab instinktiv Gas. Doch dann schalt er sich einen Narren und zwang sich langsamer zu fahren. Wer vor einer eingebildeten oder realen Gefahr flieht hat schon verloren.
Der Fahrer des anderen Fahrzeugs fuhr mit Bleifuß. Es schoß heran, kam rasch näher und schon rauschte es mit röhrendem Motor vorüber. Waitluck sah den Mann auf dem Beifahrersitz zu ihm herüber grinsen und spürte erneut Verdacht in sich aufsteigen: die Kerle führten nichts gutes im Schilde!
Er würde noch langsamer fahren müssen als bisher, um den Abstand zu dem Chrysler zu vergrößern. Und dann sollte er bei der nächsten Gelegenheit von der 66 herunter, gleich welche Abfahrt das auch sein würde, und seinen Weg nach Mexiko suchen. Was tat er noch hier!
Bremsen kreischten und der große Wagen kam quer zur Fahrbahn zum Stehen, sodaß Waitluck gezwungen war hart auf die Bremse zu treten um den Zusammenstoß zu verhindern. Zwei Männer sprangen heraus.
Der Beifahrer war ein großer Kerl - Waitluck fand, daß er mindestens so groß war wie er selbst - von einer Massigkeit wie man sie bei Angehörigen der schwarzen Rasse häufig findet wo das Fett über den gesamten Organismus verteilt ist. Er trug ein leuchtend pflaumenfarbiges Seidenhemd mit weit offenstehendem Kragen aus dem dicke Goldketten glitzerten, und eine orangefarbige Hose. In der Hand hielt er eine großkalibrige Automatik die er mit einem Grinsen auf seinem breiten Gesicht auf Waitluck richtete.
Waitluck konnte sich eines Anfalls von Heiterkeit nicht erwehren als er gewahrte daß der Kerl zweifarbene Schuhe anhatte; die hatte er bestimmt von seinem Urgroßvater geerbt!
Der Fahrer, kleiner als sein Begleiter und von magerer Statur, trug ein nicht mehr ganz weißes T-Shirt und ausgefranste Jeans. Er trottete hinter dem Dicken herbei und zog dabei ein Schnappmesser aus der Tasche das sogleich aufsprang.
Der Dicke riß die Fahrertür auf und fuchtelte mit der Pistole. "Raus aus dem Wagen!" Waitluck stellte den Motor ab und zog den Zündschlüssel ab ehe er der Aufforderung langsam folgte. So konnte keiner von den beiden in sein Auto springen und mit ihm davonfahren -
Dem Dicken ging das nicht schnell genug. Er stieß Waitluck die Pistole gegen die Brust sodaß der rückwärts gegen die Fahrzeugtür taumelte und diese mit lautem Klick zuschnappte. "Rück den Zaster raus!"
Er hatte eine Piepsstimme die seine hünenhafte Statur Lügen strafte. Waitluck richtete sich auf und zog sein Jackett zurecht. "Rsista rsi a rsitzet ..." sagte er freundlich. Und fragte sich leicht verwundert warum ihm ausgerechnet jetzt dieser tschechische Lehrsatz mit dem RS-Laut auf der Zunge lag.
"He?" brüllte der Dicke, "rede so keinen ausländischen Quatsch!" Er versetzte seinen Worten Nachdruck indem er Waitluck wiederum die Pistole auf die Brust drückte. "Rück die Kohle rau-au-au-uuu-"
Es war gar zu leicht. Der Kleine starrte mit entsetzt aufgerissenen Augen seinen Gefährten an der plötzlich, seine Rechte verdreht in Waitlucks linker Hand, mit schmerzverzerrtem Gesicht in die Knie sank. Waitluck richtete die Pistole auf den Kleinen. "Das Messer!"
Wenn Schwarze erbleichen wird ihr Gesicht aschgrau. Dies widerfuhr dem Kleinen der mit schlotternden Knien dastand, den Blick wie hypnotisiert nunmehr auf die Pistole gerichtet; Waitluck sah das gelbliche Weiß der Augäpfel rund um seine Irisse. Er kannte die Wirkung die der Anblick von Feuerwaffen auf Menschen hat: wenn sie auf dich zielt wirkt die Mündung wie das Auge der Schlange auf ein Kaninchen ...
"Das Messer!" wiederholte er und gab seiner Stimme einen scharfen Klang. Der Kleine zuckte zusammen und starrte auf seine Hand hinunter als hielte sie eine giftige Kröte. Er stieß die Hand vorwärts und öffnete die Finger (Fehlt nur, daß er sich die Hand am Hosenboden abwischt, dachte Waitluck amüsiert.) Das Messer glitt heraus und fiel mit einem dumpfen Aufprall auf den Boden. Eine winzige Staubfontäne wirbelte auf.
Waitluck stieß die Hand des Dicken von sich und winkte mit der Pistole; eine knappe Geste. "Fort mich euch!"
Keiner rührte sich. Der Kleine stand wie gelähmt, die Hand noch nach vorne gestreckt, und der Dicke saß auf dem Boden und hielt sich die schmerzende Hand als könne sie ihm abfallen. Dabei wimmerte er vor sich hin wie ein kleines Kind das zu hart bestraft wurde. Waitluck hob den Pistolenlauf und drückte ab. Die Waffe klickte.
Verdammt, der Idiot hatte ihn mit einer ungeladenen Waffe bedroht! Mit der anderen Hand schob Waitluck den Schlitten zurück just als der Dicke sich aufrappelte. Aus seinem Wimmern wurde Triumphgeheul.
Waitluck sah die Patrone in die Kammer gleiten als er den Schlitten losließ und drückte ab. Der Schuß krachte.
Das wirkte elektrisierend auf seine Angreifer. Mit einem erschreckten Kieks sank der Dicke zurück und der Kleine schrak zusammen.
"Der nächste zwischen die Augen!" sagte Waitluck mit harter Stimme und schwenkte die Pistole sodaß sie einmal auf den Dicken dann wieder auf den Dünnen zielte. "Wer zuerst?"
Der Dicke wimmerte jetzt laut, blieb aber sitzen. Waitluck richtete den Pistolenlauf auf den Kleinen. "Okay, du!"
Der schrie auf, warf sich herum und rannte zu seinem Auto zurück. Waitluck drückte ab und sah ihn zusammenzucken als die Kugel an seinem Ohr vorüberpfiff. Der Dicke wuchtete sich hoch und rannte schwerfällig seinem Kumpanen nach. "He-he-he-hee," rief er, "warte!"
Die Wagentüren klappten, der Motor heulte auf und der Wagen schoß rückwärts, kam schaukelnd zum Stehen. Dann kreischte das Getriebe und die Räder drehten durch ehe sie griffen. Schaukelnd und stampfend wie ein Schiff in schwerer See fuhr der Wagen an, beschrieb einen Bogen als er knapp an Waitluck vorbeifuhr und raste dann in die Richtung zurück aus der er gekommen war.
Waitluck schoß ihnen nach ohne darauf zu achten ob die Kugeln den Wagen auch trafen. Pfeifende Geschosse sollten sie hören und das würde ihnen Beine machen.
Er feuerte bis der Schlitten auf dem leergeschossenen Magazin hängenblieb und schleuderte die Waffe dann ins Gelände. Mochte sie dort verrosten und nie mehr jemandem weh tun!
Als er sich umwandte um wieder in seinen Wagen zu steigen stieß sein Fuß an einen harten Gegenstand der wegrutschte. Es war das Messer das der magere Gangster fallen gelassen hatte. Waitluck hob es auf und klappte die Klinge zurück.
Schon im Begriff es der Pistole nachzuwerfen zögerte er und betrachtete das Messer genauer. Das waren keine Plastikschalen auf dem Griff sondern echte Perlmutter. Wie kam ein Kleinkrimineller an ein so edles Stück? Bestimmt nicht durch ehrlichen Erwerb!
Er entschloß sich das Messer zu behalten und ließ es in die Tasche gleiten ehe er sein Fahrzeug bestieg.
Die Landschaft begann an ihm vorüber zu gleiten als der Wagen anfuhr. Das ist der Eindruck den einer erhält der in einem fahrenden Auto sitzt. Du bewegst dich nicht aber die Landschaft fließt an dir vorüber.
Aber jetzt schenkte er ihr keine Beachtung sondern wandte seine Gedanken den Ereignissen der letzten Minuten zu. Warum waren die beiden Ganoven ihm nachgefahren? Daß sie es taten war offensichtlich und daß sie es taten um ihn zu überfallen, auch; sie hatten sich sogar beeilen müssen um ihn einzuholen. Aber warum? Wodurch hatte er ihre Aufmerksamkeit erregt? Nicht mit seinem alten Ford! Auch nicht mit dem Umstand daß er einen Anzug trug; viele Menschen tragen Anzüge. Oder bot er ihnen Gelegenheit ihr Mütchen an einem Weißen zu kühlen weil er allein unterwegs war? Waitluck tat einen tiefen Atemzug und versuchte an etwas anderes zu denken; er würde nie erfahren was die Gauner zu ihrem versuchten Überfall angetrieben hatte ...Sirenengeheul ließ ihn in den Rückspiegel blicken. Der blaue Chrysler war wieder hinter ihm und dahinter blinkten die blauroten Lichter eines Polizeiautos. Die beiden Fahrzeuge kamen rasch näher. Der Kleine mußte fahren wie vom Teufel gehetzt, was aus seiner Sicht wohl wörtlich zu nehmen war. Dann schoß der Chrysler an ihm vorüber und Waitluck sah ihn über das Lenkrad gebeugt als wollte er es fressen. Neben ihm der Dicke mit angstverzerrtem Gesicht. Er fuchtelte mit den Händen als wolle er den Kleinen zu größerer Eile antreiben. Waitluck bildete sich ein zu hören wie er seinen Kumpan verfluchte weil der an seinem Unglück schuld sei, und lächelte grimmig.
Dicht hinter dem Chrysler folgte der Streifenwagen. Die Markierung auf der Seite, ein großer goldener Stern, ließ erkennen daß es sich nicht um eine Streife der Straßenwacht handelte, sondern daß ein Fahrzeug des örtlichen Sheriffsbüros den Chrysler gezielt verfolgte.
Waitluck ließ sie fahren und folgte noch langsamer als bisher. Rasch wurden die beiden Fahrzeuge scheinbar kleiner und auch das Sirenengeheul verklang. Es war wirklich höchste Zeit, daß er von der 66 herunterkam und einen Weg nach Mexiko suchte! Gott, er wollte doch nicht in New York City enden!
Kurze Zeit später sah er den Streifenwagen an der Straßenseite geparkt. Als er langsam näher fuhr erkannte er die tiefen Furchen die die Räder des Chryslers ins Gelände gerissen hatten und sah das große Fahrzeug halb zur Seite geneigt im Sand feststecken. Die Türen beider Fahrzeuge standen offen. Die Deputies mit großen runden Hüten auf den Köpfen hielten ihre Waffen auf die beiden Gauner gerichtet die mit über dem Kopf gekreuzten Händen auf dem Boden knieten. Einer der beiden Deputies hatte bereits die Handschellen gezückt.
Der andere blickte sich um als er Waitlucks Motorengeräusch vernahm und winkte ihm weiterzufahren. Waitluck folgte der Aufforderung nur zu gern.
Ob er lieber anhalten sollte und den Beamten über den Überfall berichten? Aber dann müsste er erklären wie er die beiden Gauner überwältigen konnte und wo war die Pistole geblieben? Außerdem würde es ihn Zeit kosten - womöglich würde man ihn auffordern zum Sheriffsbüro zu kommen und seinen Bericht zu Protokoll zu geben, und ob sie ihn dann so einfach gehen ließen blieb gleichfalls dahingestellt; schließlich war er ein durchreisender Fremder und die sind immer suspekt.
Nein! Einmal in Polizeigewahrsam würden die Gauner schon ihren wohlverdienten Lohn bekommen. Er gab seinem Pferd - Verzeihung, Ford - die Sporen.
Als er sie sah dachte er zuerst sie sei einer jener ständig betrunkenen Vagabunden, obwohl man gerade die selten auf der Landstraße sieht; Bahngeleise und Güterzüge sind ihr bevorzugtes Revier. Der schlurfende Gang war typisch für solche Leute. Dazu kam daß sie immer wieder einen Schritt zur Seite tat als sei sie nicht sicher auf den Beinen, und das verstärkte den Eindruck der Trunkenheit.
Wäre sie ein Mann gewesen hätte er nicht im Traum daran gedacht anzuhalten und ihr eine Mitfahrt anzubieten. Als er aber näherkam sah er trotz der Verkleidung, daß er es mit einer Frau zu tun hatte.
Sie trug ein altes Männerhemd das zu groß für sie war und an dem etliche Knöpfe fehlten und eine abgetragene Tuchhose aus dunklem Stoff die sie wahrscheinlich mit einer Schnur um den Leib festhielt. Die Schnur konnte er nicht sehen weil das Hemd darüber hing; nur das Ende der Schnur baumelte vor ihrem Bauch.
Unter einer Baseballkappe mit der Aufschrift Yuma quoll dunkles Haar wie ein Sturzbach hervor das wohl ursprünglich eingefettet und in Zöpfe geflochten war die sich aber längst aufgelöst hatten. Es floß einer Kaskade gleich an ihrem Rücken herab. Eine verwelkte Blüte hing noch darin als sei sie zur Zierde hineingesteckt worden als sie noch frisch war.
Dann sah er auch was den schlurfenden Gang bewirkte. Die Sportschuhe aus ehemals schwarzem Stoff hatten keine Schnürsenkel und schlappten bei jedem Schritt an ihren Fersen herunter. Männerschuhe eben; sie waren viel zu groß für sie.
Er drosselte die Fahrt zum Schrittempo und ließ den Wagen neben ihr rollen bis sie auf das Fahrzeug neben sich aufmerksam wurde und stehen blieb.
Der Blick aus dunklen Augen traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Wie ein von einer Meute Wölfe gehetztes Reh, dachte er, das am Ende seiner Kräfte ist und nicht mehr weiß wohin es flüchten soll ...
Er hatte sich hinübergebeugt um durch das Seitenfenster zu ihr hochzuschauen. "Wollen ..." begann er und mußte sich räuspern, "wollen Sie mitfahren?"
Sie antwortete nicht, stand nur da und starrte vor sich hin. Er hatte schon erkannt daß sie erschöpft war. Jetzt begriff er daß ihre Erschöpfung nicht nur körperlich war. Er stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür. "Bitte steigen Sie ein."
Er half ihr beim Einsteigen, stützte sie mit der Hand unter ihrem Arm, spürte ihre Magerkeit. Als sie den Fuß hochzog verlor sie den Schuh. Ihr Fuß, klein und zierlich, war schmutzig. Das kommt vom Barfußgehen, dachte er. Er hob den Schuh auf, legte ihn neben ihren Fuß und schloß die Wagentür.
Als er sich neben sie auf den Fahrersitz setzte saß sie noch wie er sie hingesetzt hatte, die Hände locker im Schoß, den Kopf leicht gesenkt, die Augen blicklos vor sich hinstarrend. Ihr Atem ging flach. Immerhin, es war ein Lebenszeichen.
Er betrachtete die scharfen Kerben die sich von ihren Nasenflügeln zu den Mundwinkeln hinzogen. Sie sieht aus wie eine zu früh altgewordene Fünfzehnjährige, dachte er, aber wahrscheinlich ist sie näher an dreißig. Und halbtot vor Hunger ist sie auch ...
Er griff nach der Tasche hinter dem Fahrersitz, holte die Thermoskanne hervor und schraubte den Deckel ab. Das Getränk war noch leidlich warm und Alkoholdunst stieg daraus empor. "Mazagran," sagte er als er einschenkte, "damit halten sich die Fremdenlegionäre fit." Er hielt ihr die Tasse hin, "Trinken Sie!"
Sie rührte sich nicht, schien ihn nicht einmal zu hören. Da nahm er ihre Hände, drückte die Tasse hinein und hob sie ihr an den Mund. "Trinken Sie!"
Sie ließ es zu daß er ihr den Trank einflößte. Als der erste Schluck über ihre Lippen war griff sie zu und hielt die Tasse fest bis sie sie geleert hatte. Dann ließ sie sie sinken, blickte ihn mit ihren übergroßen Augen kurz an und der Ansatz eines Lächelns huschte über ihre Züge. "Gracias," hauchte sie.
Waitluck sah sie erstaunt an. Sprachen Eingeborene dieser Gegend spanisch? Daß sie eine Indianerin war schien offensichtlich. Wer sonst konnte in einer Aufmachung die der Kleiderkammer eines Armenhauses entstammen mochte unterwegs sein ...
Der Unterschied in der Aussprache fiel ihm zunächst nicht auf. Erst als er längst in Mexiko war und hörte wie die Leute dort spanisch sprachen begriff er daß die Frau an seiner Seite keine Amerikanerin sein konnte.
Wenn sie spanisch sprach erleichterte das den Umgang mit ihr erheblich. "Ich habe leider nichts Eßbares dabei," sagte er in der gleichen Sprache, "aber wir kommen sicher bald an einem Roadhouse vorbei und dort können wir etwas essen." Roadhouse ist die amerikanische Bezeichnung für Autobahngaststätte. In Spanien sagt man Albergo aber er wußte nicht ob man hier den Ausdruck verstehen würde.
Aber offensichtlich kannte sie auch den amerikanischen Ausdruck nicht. Sie gab keinerlei Anzeichen daß sie ihn verstand, saß nur da die Augen blicklos geradeaus gerichtet.
Er änderte die Taktik. Er hatte sich bereits so daran gewöhnt daß man in Amerika mit ausgestreckter Hand aufeinander zugeht wenn man sich vorstellen will daß er ihr nun automatisch die Hand hinhielt. "Mein Name ..." begann er und hielt inne.
Sie fuhr zurück wie von der Natter gebissen. Ihr Blick flackerte furchtsam zwischen seiner Hand und seinem Gesicht. Ihre Augen schienen noch größer als zuvor.
Hastig nahm er seine Hand zurück, klopfte sich dann mit dem Zeigefinger an die Brust. "Mein Name ist Waitluck," sagte er langsam und mit schwerer Stimme, "Stuart Waitluck."
Sie richtete sich auf, sah ihn aber immer noch furchtsam an. Als sie nicht antwortete drängte er mit leiser Stimme, "Und wie heißen Sie?"
Sie zögerte. Dann sagte sie, so leise daß er es kaum hörte, "Ceni."
"Ceni," wiederholte er. Der Name sagte ihm nichts. "Ceni, und wie weiter?" Aber sie bewegte nur den Kopf in einer knappen verneinenden Geste. So verscheucht man Fliegen, dachte er, und unangenehme Frager ...
Nun, aussteigen konnte er nicht, sie rauswerfen auch nicht. Was tut man in solchen Fällen - Er tat einen tiefen Atemzug und - schwieg. Er wußte nicht wie er sich verhalten sollte. Er umklammerte das Steuerrad mit beiden Händen und fixierte das Band der Landstraße wie es auf ihn zufloß und unter seine Räder rutschte. Ob es sich hinter ihm in nichts auflösen würde? Fast schien es so. Hin und wieder riskierte er einen Blick zur Seite, wie um sich zu vergewissern daß sie noch da war. Sie saß zusammengesunken, den Kopf leicht gesenkt, ihr Gesicht ausdruckslos. Seine Nase roch die Ausdünstung eines ungewaschenen Körpers.
Irgendwie schien ihm das unpassend. Sie gehörte in rauschende Seide gehüllt, unbeschwert in einem Ballsaal mit Galanen plaudernd die ihr den Hof machten. Wie würde sie aussehen wenn sie gepflegt und ordentlich ernährt war, wenn sie feine Kleider trug und die Linien der Erschöpfung und Seelenpein aus ihrem Gesicht verschwunden waren? Gewiß wäre sie eine Schönheit!
Sie war keine Schönheit, zerlumpt und halb verhungert wie sie neben ihm saß, die Augen übergroß in dem ausgemergelten Gesicht. Was sollte er sagen, wie konnte er sie aus ihrer Lethargie erwecken? Er räusperte sich. "Wo," begann er und räusperte sich wieder, "wohin wollen Sie eigentlich?"
Sie hob den Kopf, sah flüchtig zu ihm herüber und hob die Hand. Eine vage Geste, halb ausgeführt. Die Hand sank wieder in ihren Schoß.
Er runzelte die Brauen. Was bedeutete das; wollte sie in die nächste Stadt, wie auch immer die hieß, oder gar nach New York? Bestimmt nicht nach China! Er räusperte sich noch einmal. "Nach New York?"
Sie sah wieder zu ihm herüber. Diesmal waren ihre Brauen gefurcht, ihr Gesicht ein einziges Fragezeichen. Sie bewegte den Kopf, zu schwach ihn zu schütteln. Nein. Dann starrte sie wieder blicklos vor sich hin.
Er war verwirrt. Meinte sie daß sie nicht nach New York wollte oder kannte sie die Stadt nicht? Hatte sie nie von New York gehört? Das konnte doch nicht sein!
Aber dann bewegte er den Kopf als wollte er ein lästiges Insekt verscheuchen. Was ging es ihn an! Er würde sie am nächsten Roadhouse absetzen, ihr eine Mahlzeit bezahlen und sie dann so schnell wie möglich vergessen. Ja, das würde er! Den Klumpen in der Magengrube ignorierte er.
Nach zwanzig frustrierenden Minuten kam die San Jon Junction in Sicht. Laut Karte führte von hier die 59 nach Süden, mündete bald in die 18 und die führte stracks nach Süden durch den Llano Estacado bis er bei Kermit auf die Grenze nach Texas traf. Dann noch einmal so lange und dann würde er irgendwo hinter Dryden in Mexiko landen. Ihm wäre ein Übergang mit lebhaftem Grenzverkehr lieber gewesen aber jetzt war es wohl zu spät; er mußte riskieren daß man ihn genauer kontrollierte. Er ließ den Wagen ausrollen und hielt vor der Kreuzung an.
"Hören Sie," sagte er und seine Stimme klang seltsam fremd in seinen Ohren, "ich muß hier abbiegen." Er deutete auf das Straßenschild mit der Nummer 59 und gab einen Lacher von sich der sich wie ein abgewürgter Hustenanfall anhörte. "Letzte Gelegenheit nach Mexiko zu gelangen!"
Er fühlte sich merkwürdig unwohl und schalt sich dafür einen Narren. Er war doch nicht für andere verantwortlich die er zufällig an der Straße traf! Um seine Verlegenheit zu kaschieren deutete er auf das Band der Straße vor ihm. "Und Sie wollen weiter in diese Richtung?" Woher hätte er wissen sollen daß dies die falsche Frage war ...
Beim Klang seiner Stimme war sie aufgeschreckt, sah ihn mit ihren großen unergründlichen Augen an. Nun tastete sie nach dem Türgriff, die Tür sprang auf und sie glitt ungeschickt von ihrem Sitz. Dann stand sie am Straßenrand, beugte sich vor und ergriff ihren Schuh der noch da lag wo er ihn hingelegt hatte; sie hatte ihn nicht wieder angezogen. Den Schuh in der Hand als hielte sie einen Strauß Blumen stand sie neben dem Fahrzeug und blickte ihn unverwandt an.
Er griff hinter seinen Sitz und holte den Umschlag mit Sams Geld aus dem Versteck in der Tasche. Das Geldbündel teilte er in zwei ungefähr gleiche Hälften, steckte eine ein und reichte ihr die andere. "Nehmen Sie! Kaufen Sie sich im nächsten Roadhouse eine Mahlzeit und etwas zum Anziehen." Er holte tief Luft und fuhr fort, "Vielleicht reicht es auch für ein Ticket nach New York ..."
Er war auf der 66 noch keinem Bus begegnet, aber das mußte nicht bedeuten daß hier keine Busse verkehrten. Als sie sich nicht rührte steckte er die Geldscheine in den Schuh, nickte ihr zu. "Machen Sie's gut." Dann zog er die offene Wagentür ins Schloß.
Er behielt sie durch den Rückspiegel im Auge als er um die Kehre fuhr, bis ihre Gestalt aus seinem Sichtfeld glitt. Sie war stehen geblieben wie sie gestanden hatte, ohne sich zu rühren und immer noch auf die Stelle starrend wo er sich bis eben befunden hatte. Nur die Hand mit dem Schuh hatte sie sinken lassen.
Geschafft! Nun konnte ihn nichts mehr auf seinem Weg nach Mexiko behindern. Aber warum fühlte er sich nicht erleichtert?
Der Wagen rollte südwärts und die Landschaft glitt an ihm vorüber. Er sah nur zwei vorwurfsvoll blickende schwarze Augen und je weiter er fuhr um so vorwurfsvoller wurde ihr Blick ...
Waitluck fluchte wie ein arabischer Pirat, mit Ausdrücken bei denen ein zartes Damenohr vor Scham hätten abfallen mögen. Er sprach in der zweiten Person aber der Name - soweit er nicht Schuft und ähnliche Titel verwendete - ließ keinen Zweifel an der Identität des Angesprochenen. Eine Frau in Not im Stich lassen war mehr als gemein: es war hundsgemein und der es tat verdiente den Strick!
Die Bremsen schrien gequält und Waitluck kämpfte mit dem Steuerrad bis der Wagen quer zur Fahrbahn zum Stehen kam. Er wendete und raste den Weg zurück. Dabei fluchte er so laut daß es im Wagen widerhallte und die Scheiben vibrierten. "Cabrón! Dibb! Matruya!"
Als er die Kreuzung erreichte war diese leer. Er spähte die Straße hinauf und dann hinunter - sie konnte ja versehentlich in die Richtung gelaufen sein aus der sie gekommen waren ... Nichts. Nada. Nitschewo. Kein Auto weit und breit. Und keine Menschenseele.
Irgendein Fahrzeug, vielleicht ein Monstertruck, war hier kurz nachdem er die Kreuzung verlassen hatte vorüber gekommen und hatte sie mitgenommen.
Er wendete erneut und fuhr wieder in Richtung Mexiko. Er fühlte sich elend, spürte daß er etwas sehr wertvolles verloren hatte das er nie besessen hatte. Die Hochstimmung vom Anfang seiner Reise hatte einer tiefen Niedergeschlagenheit Platz gemacht. Und dem Bild großer schwarzer, unendlich traurig blickender Augen ...

ENDE?


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