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DER TURM DER SPIEGEL

von Susanne Stahr



Mühsam schleppte sich Zoran die Treppe hoch. Er war mit der Hausarbeit fertig und ging nun zu seinem Meister um neue Befehle zu erhalten. Eigentlich wusste er schon, was kommen würde. Wie jeden Tag würde der Meister ihn in den Spiegelsaal im obersten Geschoß des Turmes schicken, zum Spiegel putzen. Aber nur die Rahmen! Es war ihm streng verboten das Glas zu berühren.
Einmal war er unachtsam gewesen und war mit den Fingerspitzen der rechten Hand über das Glas gestrichen. Ein blendender Blitz war aus dem Spiegel und in seine Finger gefahren und hatte sie mit nie gekannter Energie gefüllt. Erschrocken war er zu seinem Meister gelaufen um von seinem Missgeschick zu berichten. Aber Kozygit hatte schon alles gewusst und war sehr böse gewesen. Er hatte Zoran bis zur Bewusstlosigkeit verprügelt. Und als er wieder erwachte; waren die Finger, die das Glas berührt hatten, steif und krumm geworden.
Zoran humpelte die letzte Stufe hinauf und klopfte an Kozygits Tür. Ein unwirsches Brummen antwortete ihm Zaghaft öffnete er und trat ein. Der hagere Zauberer saß hinter seinem Schreibtisch. Bücher und Schriftrollen bildeten ein wirres Durcheinander. Auch die Regale, die die Wände bedeckten, und die Stühle sowie der Fußboden waren voll davon. Über allem lag der scharfe Geruch der Nachtnelke, einer Pflanze, die Kozygit häufig für seine Experimente brauchte.
Der Junge wunderte sich immer wieder, wie der Meister das Zimmer verlassen konnte, ohne eines der kostbaren Werke zu beschädigen. Aber er konnte es, Zoran hatte es gesehen.
"Nun?" Kozygits Stimme klang nun freundlicher. Der Zauberer war ein großer, schlanker Mann, der sich trotz seines hohen Alters Geschmeidigkeit und Kraft bewahrt hatte.
"Meister, ich bin fertig und erwarte deine Befehle." Es waren immer die gleichen Worte.
Jeden Tag. Wie ein Ritual.
"Die Spiegel, Zoran. Aber nur die Rahmen." Liebevoll drohte er mit dem Finger. "Nur die Rahmen!"
"Ja, Meister, ich verspreche es!"
Der Zauberer nickte gnädig und wandte sich wieder der Schriftrolle zu, in der er gelesen hatte. Das war Zorans Zeichen zu gehen.
Er plagte sich noch zwei Stockwerke hoch. Über den rechten Arm hatte er einige weiche Tücher geworfen, mit der linken Hand zog er sich an dem Seil, das als Handlauf diente, hoch.
"Wie lange werde ich das noch tun können?", fragte er sich. Sein rechtes Bein war verkrümmt und steif, wie seine rechte Hand. Das linke Auge war blind und sein Gehör verschlechterte sich auch immer mehr. Sein Rücken wurde von Tag zu Tag krummer, was ihm einerseits große Schmerzen bereitete und andererseits auch seine Körpergröße verringerte. Bei manchen Spiegeln hatte er große Muhe die Oberkante zu erreichen. Die Gefahr, das Glas zu berühren, wurde immer größer Dazu schienen die Spiegel auch immer mehr zu werden.
Oben angelangt machte Zoran eine Verschnaufpause. Dann trat er vor die Tür. Wie jeden Tag öffnete sie sich ohne sein Zutun. Er betrat den fensterlosen Raum, der trotzdem auf geheimnisvolle Weise hell ausgeleuchtet war. Die Wände waren von zahllosen Spiegeln bedeckt. Alle Größen und Formen waren vertreten. Aber sie hatten eines gemeinsam. Sie waren blind. Ein milchiger Schimmer bedeckte das Glas. So war es seit er denken konnte.
Dieser Turm war seine Welt. Er konnte sich an nichts Anderes erinnern. Kozygit hatte ihm auf seine Fragen nach seiner Herkunft nur die kurze Antwort: "Ich habe dich gerettet und dafür hast du mir dankbar zu sein." gegeben.
Wovor hatte ihn der Zauberer gerettet? Mit bösen Worten hatte ihn der Meister an die Arbeit geschickt. Damit war das Thema beendet.
"Warum sind meine Glieder so krumm und schmerzen so sehr?", hatte er einmal gefragt.
Kozygit hatte ihm sanft übers Haar gestrichen und gesagt: "Solange du deine Arbeit machst, wird es dir gut gehen."
Nun, seine Arbeit war die Hausarbeit und das Spiegel putzen. Dass er auf seine Fragen nach seiner Herkunft und seiner Krankheit keine Antworten bekam, hatte er gelernt. Seit er nicht mehr fragte, war Kozygit wesentlich freundlicher geworden und gab ihm auch regelmäßiger zu essen. Das machte ihm das Leben leichter.
Mit einem Kopfschütteln, das heftige Schmerzen im Nacken auslöste, riss Zoran sich aus seinen Träumen. Wie jeden Tag begann er systematisch die Spiegelrahmen abzuwischen. Dabei versuchte sein Blick den milchigen Schimmer zu durchdringen. Manchmal glaubte er, eine Bewegung dahinter zu erkennen. Je näher er sich beugte, umso deutlicher wurde sie. Der Wunsch, Genaueres zu erkennen, war sehr stark. Aber die Angst vor Kozygit war größer. Mit mechanischen Bewegungen wischte er über den Rahmen. Es war der Spiegel, den er damals berührt hatte. Ein kleiner runder Spiegel.
Starr blickte Zoran auf das Glas und strengte sein gesundes Auge an um etwas auszumachen. Etwas bewegte sich. Wenn er nun mit dem Tuch über das Glas ... nein, Kozygit würde ihn wieder hart bestrafen. Aber vielleicht war es nur Staub. Vielleicht brauchte man nur den Staub zu entfernen, um zuerkennen, was der Spiegel zeigte. Heißes Verlangen stieg in seiner Brust auf. Wie in Trance schob sich seine Hand mit dem Tuch näher an das Glas.
Aber, wenn der Meister gerade jetzt den Raum betrat? Noch einmal zuckte er zurück. Da flüsterte eine Stimme in seinem Inneren "Der Meister hat noch nie diesen Raum betreten Und er muss es doch nicht erfahren".
Das war wahr. Nach einem letzten Zögern wischte Zoran über den Spiegel. Ein Blitz fuhr durch seine rechte Hand und der milchige Schimmer wich Eine Wiese bot sich seinem Blick dar. Leiser Wind strich durch die saftigen Halme. Bunte Blumen nickten dazu. Schmetterlinge tanzten von Blüte zu Blüte, deren Duft er zu riechen glaubte.
Zoran war wie verzaubert. Namen von Blumen und Insekten tauchten in seinem Geist auf. Dann nahm er eine Bewegung im Spiegel wahr. Ein kleiner Junge lief jauchzend durch die Wiese, genau auf ihn zu. In einiger Entfernung blieb er stehen und schien ihn nachdenklich zu mustern. "Das bin ich!", schoss es Zoran durch den Kopf.
Mit lautem Knall zerbarst der Spiegel und gleichzeitig ertönte von unten ein lauter. Schrei. Zoran erschrak. Was hatte er getan? Gedankenvoll strich er sich das Haar aus der Stirn. Da. sah er, dass seine rechte Hand sich verändert hatte. Die Finger waren nicht mehr krumm und steif. Auch der Schmerz war gewichen. Verwundert betrachtete er seine Hand. Das Gefühl, etwas Unschätzbares gewonnen zu haben, durchflutete ihn.
Das Geräusch eiliger Schritte auf der Treppe schreckte ihn auf. Der Zauberer! Nun kam seine Strafe. Zitternd begann er den nächsten Rahmen abzuwischen. Die Schritte stoppten vor der Tür. "Zoran!" Die Stimme Kozygits klang wütend. "Komm sofort heraus!"
Zoran zögerte. Noch immer klang das Bild der Wiese in ihm nach. "Er kann mich für zwei Spiegel nicht mehr bestrafen als für einen", dachte er und wischte schnell über das Glas des zweiten Spiegels. Es war ein achteckiges Exemplar. Diesmal fuhr der Blitz durch seinen Kopf und im selben Moment erklang ein Schrei vor der Tür.
Als der Schimmer wich, legte er einen Waldsee frei. Dunkle Tannen umstanden ihn. Ein Reh trat zwischen den Bäumen hervor, hob witternd den Kopf, um ihn dann zum Wasser zu senken. Da entdeckte er den Jungen. Er saß mäuschenstill im Moos, den Rücken gegen einen Stamm gelehnt und beobachtete atemlos das trinkende Reh.
Wieder schoss es Zoran durch den Kopf: "Das bin ich!" Und. im selben Moment zersprang der Spiegel.
"...du undankbarer, nichtsnutziger Faulpelz! Ich werde dir das Fell über die Ohren ziehen, wenn du nicht sofort herauskommst!"
Erst jetzt wurde es Zoran bewusst, dass Kozygit die ganze Zeit vor der Tür stand und zeterte.
"Warum kommst du nicht herein, Meister?" Zoran schlug die Hand vor den Mund angesichts solcher Kühnheit. Da fiel ihm auf, dass er links genauso gut sehen konnte wie rechts.
Hinter der Tür ertönte ein wütendes Zischen. "Weil es dein Raum ist!" Die Worte klangen qualvoll herausgepresst, als versuchte der Zauberer sie vergeblich zurück zu halten.
Nun brach der letzte Damm. Kozygit hatte zugegeben, dass seine Macht vor dieser Tür endete. So schnell er konnte, hinkte er zum nächsten Spiegel und wischte über das Glas.
Diesmal fuhr der Blitz in sein lahmes Bein. Das blanke Glas zeigte nun eine Dorfstraße. Eine Horde halbwüchsiger Jungen lief um die Wette. Männer, Frauen und Kinder standen vor den Häusern oder lehnten an den Fenstern und feuerten sie an.
"Das bin ich, mit meinen Freunden!" Wieder ein Knall und der Spiegel zerbarst. Zoran stieß ein paar Scherben mit dem Fuß beiseite. Mit dem Fuß? Sein rechtes Bein war gerade und kräftig und folgte jedem Impuls.
Vor der Tür verlegte sich der Zauberer auf Bitten. "Zoran, mein Guter, komm heraus", lockte er. "Ich werde dich reich machen." Ein Ächzen unterbrach den Redefluss. Dann hob er wieder an: "Wir waren doch so glücklich hier, wir beide. Halt ein, sonst ist alles zerstört. Komm heraus, lieber Zoran."
Aber der Junge hatte genug. Er hat den Zauber durchschaut. Schnell ging er von Spiegel zu Spiegel und wischte über die Oberflächen. Häuser, Wiesen und Wälder tauchten auf. Und Menschen, Freunde, Verwandte, Eltern, Geschwister. Und immer war er dabei, als Kind, als Jüngling, als Mann. Jeder Spiegel enthüllte eine Facette seines Seins und nahm gleichzeitig eine Behinderung, einen Schmerz fort. Die Schreie des Zauberers vor der Tür verwandelten sich in ein Schluchzen, dann in ein leises Wimmern.
Als der letzte Spiegel zersprungen war, öffnete sich die Tür und Zoran trat hinaus. Ein hoch gewachsener, gut aussehender, junger Mann. Gesund und stark. Nachdenklich blickte er auf das Häufchen Elend, das neben der Tür lag. Dieser verkrüppelte, halbblinde alte Mann sollte der gütige Zauberer sein, der ihn gerettet hatte? Zoran konnte nur den Kopf schütteln.
"Ich verlasse dich jetzt, Zauberer", sagte er ruhig und stieg über Kozygit hinweg. Tänzelnd lief er die Stufen hinunter, glücklich über die Kraft und Geschmeidigkeit seines Körpers, bereit all die Wunder zu entdecken, die die Spiegel ihm gezeigt hatten.

ENDE


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