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ZEITWEISE ZEITLOS - EIN UNGLÜCK KOMMT SELTEN ALLEIN

von Andreas Leder



Ich wanderte über verschlungene Zeitpfade, auf staubigen Zeitstraßen und kontrollierte mein Gebiet. Wenn die Wege schlechter wurden, die Hügel zu Gebirgen aufwuchsen, dann wusste ich, jetzt war wieder ein Zeitalter zu Ende, eine neue Ewigkeit brach an.
Die hauptsächliche Arbeit eines Zeitwächters besteht darin, durch seine Anwesenheit Anomalien und solche, die es werden konnten, auszugleichen. Nur selten traf ich auf Wesen, die das Wissen und die Möglichkeiten hatten, den Zeitfluss zu manipulieren.
Noch seltener traf ich auf Meinesgleichen. Das war aber ganz natürlich. Ein jeder von uns hatte in und um ein paar Universen nach dem Rechten zu sehen, da blieb kaum Zeit für einen kurzweiligen Plausch.
Wenn es sich jedoch ergab, dass sich zwei Zeitwächter trafen, dann wurden Geschichten und Neuigkeiten ausgetauscht, dann verging die Zeit noch schneller, als uns lieb war. Und so eine Geschichte, die ich bei Gelegenheit erzählen konnte, war mir vor kurzer Zeit widerfahren.

Soeben hatte ich bemerkt, dass sich an den Rändern zweier naher Universen eine Zeitsenke gebildet hatte, da meldete sich schon Aeternus bei mir. "Was ist, Aequalis, willst du nicht endlich etwas gegen diese Zeitsenke unternehmen oder brauchst du erst einen offiziellen Auftrag von mir?"
"Nein, den brauche ich nicht, aber ich habe auch gerade erst festgestellt, dass sich diese Zeitsenke gebildet hat und konnte noch nichts dagegen unternehmen."
"Warum trödelst du denn so? Dir sollte schon bewusst sein, dass sich die Zeiten zweier Universen nicht vermischen dürfen und je länger du wartest, desto schwieriger wird es!"
Ach, nein! Glaubte er, dass er mir da etwas Neues erzählte? Mir war schon klar, dass ein Chaosloch entsteht, wenn sich die Zeiten zweier Universen vermischen. Die darauf folgenden Zeitanomalien waren weder für uns noch für die Bewohner der angrenzenden Universen angenehm. Man musste sich einfach auf die Zeit verlassen können. Es durfte nicht geschehen, dass sie einmal vor und ein anderes Mal wieder zurück lief und im ungünstigsten Fall sogar zur Seite. Die natürlichen Unregelmäßigkeiten machten uns so schon genug zu schaffen.
"Ich bin ja schon unterwegs", gab ich etwas patzig zurück und jetzt musste ich mich wirklich beeilen. Wenn er mich nicht aufgehalten hätte, hätte ich schon längst etwas tun können.
Nein, es machte nicht immer Spaß Zeitwächter im Dienst von Aeternus zu sein.
Die Wege waren noch nicht so schlecht, wie ich befürchtet hatte und kurze Zeit später war ich am Rand der Zeitsenke angekommen. Nun ja, groß war sie noch nicht und es schaute gar nicht so schlecht aus für mich. Die schaffte ich locker!
Zuerst holte ich aus jedem der benachbarten Universen ein paar Zeitvektoren. Mit einigen schnell hingeworfenen Ankerpunkten befestigte ich sie und richtete sie dann auf den Rand der kleinen Anomalie. Damit tendierte ihre Ausbreitungsgeschwindigkeit gegen Null. Die Reste hinter dem Komma waren hauptsächlich wiederum Nullen und um die musste ich mich jetzt noch nicht kümmern.
Zuerst war wichtig festzustellen, warum die Zeitsenke entstanden war und ob ich genug Zeitsplitter herbeischaffen konnte, um sie wieder aufzufüllen. Ich stellte also meine Messgeräte rund um diese Anomalie auf und wartete auf das Ende des ersten Durchlaufes. Das konnte dauern. Zum Lesen hatte ich leider auch nichts dabei. Daher war ich faktisch gezwungen, mich etwas auszuruhen.
Ich musste wohl etwas eingenickt sein, denn ich schrak hoch, als die Messgeräte zu piepsen und pfeifen begannen.
Nein, das konnte nicht sein! Die Zeitsenke war fort! Als hätte es sie nie gegeben! Das war ein unmögliches Phänomen!
Aber egal, was soll's? Genau diesen Effekt hatte ich erreichen wollen, und jetzt war er da. Also war alles wieder in Ordnung. Das hoffte ich jedenfalls.

Beim Einsammeln der Messgeräte fielen mir Spuren auf, die ich vorher nicht gesehen hatte. Es sah so aus, als kämen sie aus einer Zeit, die zwischen den Universen lag und genau so seltsam gingen diese Spuren auch weiter. Langsam folgte ich ihnen und siehe da, ein paar Zeitsprünge voraus entdeckte ich eine Gestalt, die sich mit leisen Schritten davon machte.
"He! Du! Bleib stehen! Ich muss dich was fragen!" rief ich der Gestalt nach. Doch dieses Subjekt, wer auch immer das war, machte keine Anstalten stehen zu bleiben, noch, sich etwas fragen zu lassen. Also nahm ich meine Beine in die Hände und legte einen Kurzstreckensprint hin, mit dem ich in vielen Universen sicher einige Wettkämpfe gewonnen hätte.
Wen hatte ich denn da eingeholt? Es war mein alter Freund und Zeitgenosse Viator.
"Viator, puh, ... schön dich wieder einmal zu treffen, was treibt dich in diese verlassene Gegend?!" fragte ich etwas außer Atem.
"Oh, hallo Aequalis! Ja, äh ... auch schön, dich zu sehen. Was ... äh ... machst denn du hier?"
Ich schaute ihn prüfend an. Es waren sicher schon vier, wenn nicht fünf Ewigkeiten her, dass wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Inzwischen kannte ich ihn schon ziemlich gut. Derzeit aber schien er einigermaßen verlegen zu sein, vielleicht sogar etwas durcheinander. Er hätte mich wohl am liebsten gar nicht getroffen. Aber die Zeit vergeht, wie sie läuft und so kann man sich seine Weggefährten nicht immer selbst aussuchen.
"Also, Viator, was machst du hier?" wollte ich wissen, ohne auf seine Frage einzugehen.
"Äh ... also ... nichts. Eigentlich mache ich gar nichts hier", erhielt ich eine recht seltsame und oberflächliche Antwort.
"Viator, alter Freund, schau mich an. Vor mir brauchst du doch nichts zu verbergen", munterte ich ihn auf. Er druckste noch ein wenig herum, wollte zuerst etwas sagen, dann wieder nicht, dann wieder, meinte er, wäre es ihm zu peinlich. "Na, was denn jetzt?", wollte ich wissen
"Na, ja", begann er ganz kleinlaut. "Ich habe da was verloren ... aber das braucht dich nicht zu sorgen, ich hab's wieder gefunden und jetzt ist alles wieder in Ordnung", brach es aus ihm heraus.
Ich musste nicht lange überlegen. Zuerst war es da, weil er es verloren hatte, jetzt war es nicht mehr da, weil er es wieder gefunden hatte. Da konnte es sich nur um ...


"Das ist ja überhaupt kein Problem, Viator, lieber Freund. Damit hast du mir im Endeffekt nur eine große Freude bereitet. Anfangs vielleicht etwas Arbeit, aber schlussendlich bin ich doch sehr froh."
Jetzt wusste er nicht, was er sagen sollte. Damit hatte er nicht gerechnet.
"Was meinst du, Aequalis?"
"Ich meine, du hast die kleine Zeitsenke, die da drüben gelegen ist, verloren, und während ich mich ausgeruht habe, hast du sie wieder gefunden und an dich genommen. Stimmt's?"
"Ja, ja natürlich stimmt das. Aber wieso....?"
"Schau, Viator, das ist doch nicht so schwer. Zuerst war die Zeitsenke da, und du hast sie gesucht. Nachdem du sie gefunden hast, war sie nicht mehr da. Na? Hab' ich recht?"
"Äh... ja... du hast schon recht", gab Viator kleinlaut zu.
"Was mich noch sehr interessiert: Wo ist die Zeitsenke jetzt, lieber Freund?" dabei lächelte ich ihn sehr freundlich und ganz unbefangen an.
Da griff er in seine Hosentasche und präsentierte mir auf der flachen Hand ein kleines glänzendes Gebilde. Es sah aus wie ein ungeschliffener Edelstein im Scheinwerferlicht. Gleichzeitig hatte das Ding keine klaren Grenzen und schien sich hin und her zu bewegen. Es war schön - einfach nur schön.
"Wie bist du zu diesem ... äh ... Ding gekommen?" wollte ich jetzt wissen.
"Peregrinus hat es mir gegeben," offenbarte er mir.

Jetzt war ich sprachlos.
Peregrinus?! Wollte er mir ein Kindermärchen als große Neuigkeit auftischen? Für so dumm konnte er mich doch nicht halten!
"Viator, bitte! Wir beide sind doch erwachsen. Du glaubst doch selber nicht die alte Geschichte vom Fremden, der in allen Zeiten lebt und kleine Kinder, die abends nicht einschlafen wollen, in das zeitlose Universum entführt."
"Ich bitte dich, Aequalis, glaub' es mir. Ich dachte auch, dass Peregrinus nur in den Geschichten und Erzählungen existiert, aber gestern ist er mir persönlich begegnet."

Ich sah ihn prüfend an. Irgendetwas war da in seinem Blick. Vielleicht sagte er die Wahrheit, vielleicht war er auch nur ein guter Schauspieler. Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen. Peregrinus war das Paradebeispiel einer fantastischen Geschichte, die irgendwann irgendjemand erfunden hatte, um eine abschreckende Figur bereit zu haben. So sah ich das.

Da meldete sich Aeternus bei mir: "Das hast du gut gemacht, Aequalis. Ich habe nicht gerechnet, dass du diese Zeitsenke so schnell beseitigen kannst. Ich freue mich - du wirst immer besser."
"Danke, Aeternus!" Ich war sprachlos. Lob von Aeternus war ungefähr so selten, wie der versuchte Diebstahl der Zepto- und Yoccto-Sekunden (*).
"Und noch was, Aequalis!"
"Ja, was denn?"
"Schöne Grüße von Peregrinus! Er lässt sich recht herzlich bedanken, dass du das Problem so schnell bereinigt hast. Es war ihm sehr unangenehm!"
Und schon wieder hatte er es geschafft, mich sprachlos zu machen. Glaubte er an so einen Kinderkram?
"Gern geschehen," stotterte ich und als ich mich wieder gefangen hatte fügte ich etwas sarkastisch hinzu: "Schöne Grüße auch von mir, falls du ihn wieder triffst."
Antwort bekam ich keine mehr. Ich hörte nur sein Lachen, das immer leiser wurde. Nein, dass Aeternus, der Ewige, bei diesen Spielchen mit machte, enttäuschte mich schon. Von Viator hätte ich mit zwar auch etwas Anderes erwartet, aber bitte - die Zeit ändert bei manchen Leuten auch den Charakter.
Vorsorglich hatte sich Viator inzwischen aus dem Staub gemacht. Ich hätte gerne noch mehr von ihm erfahren. Offensichtlich hatte er verstanden, dass ich ihm sein Märchen nicht glaubte und eine andere Erklärung hatte er nicht bereit.
Was soll's!
Ich nahm also langsam den Rückweg in Angriff. Zeit hatte ich schließlich genug.


(*) siehe FUTURE MAGIC Nr. 50, S. 96, "Zeitweise zeitlos"


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