STORIES


BLUE LADY

von Fred H. Schütz



Der Captain saß in der Messe und wärmte seine ewig klammen Hände an einer dampfenden Tasse synthetischen Kaffees. Hin und wieder nahm er einen Schluck und dann verzog sich sein Gesicht jedes Mal zu einer Grimasse. "Grauenhaftes Gebräu!"
Ryan, der auf dieser Reise den Koch machte, sah auf und lächelte. "Ich könnte ein Pfund echten Kaffee kaufen, wenn wir nach Essex kommen," sagte er. "Extra für Sie. Aber ..."
"Bist du von Sinnen," schrie der Captain, "deine Art zu kaufen kenne ich! Das Siegel bleibt intakt oder glaubst du ich würde meine Lizenz für ein Pfund Kaffee auf's Spiel setzen!"
Kaffeeinspektoren auf der Erde hatten den Laderaum der Pandora versiegelt, sobald ein Kontingent Kaffee an Bord war. Danach durfte niemand den Laderaum betreten, auch nicht um den Zustand der Ladung während der Reise zu kontrollieren. Der Captain sah das als Eingriff in seine Rechte, aber letztens blieb ihm nichts anderes übrig als sich zähneknirschend zu fügen. Wenn das Schiff auf Essex eintraf durfte niemand von Bord gehen bis die Kaffeeinspektoren eintrafen. Erst wenn sie das Siegel geprüft hatten und der Kaffee sicher abtransportiert war durfte der Rest der Ladung gelöscht werden und die Passagiere von Bord gehen.
Kaffee, für den exorbitante Preise gezahlt wurden, gedieh nur auf der Erde. Kaffeeschmuggel war eine zeitlang eine beliebte Einkunftsquelle gewesen bis das Kaffeeimperium strenge Kontrollen einführte. Von da an wurde Kaffee nur noch von lizenzierten Frachtern befördert und deren Laderäume versiegelt.
"Ich wollte Ihnen doch nur einen Gefallen tun," sagte Ryan verlegen.
"Danke," brummte der Captain, "Ryan, du bist ein lieber Kerl, aber ich verzichte!" Er zog eine altertümliche Uhr aus der Tasche, verglich sie mit der Schiffsuhr an der Wand. Die Uhr war ein uraltes Familienerbstück, auf das er mit Recht sehr stolz war. Das Gehäuse war aus echtem Gold. Er pflegte sie fürsorglich und die Uhr dankte es ihm, indem sie trotz ihres hohen Alters sehr genau ging.
"Wo bleibt Epeh," knurrte er, "wozu habe ich einen Ersten, wenn er nicht zum Dienst erscheint!"
Er war der einzige Mensch an Bord der "Epeh" sagen durfte. Ernest P. Engstrom nahm es mit dem Protokoll sehr genau; Untergebene hatten ihn mit "Sir" anzusprechen. Ryan grinste. "Wenn er Sie jetzt hören könnte, Captain ..."
"Er hat es gehört!" sagte der Erste in scharfem Ton. Er war so rasch eingetreten, daß jetzt die Tür hinter ihm ins Schloß knallte. "Captain, kommen Sie zur Brücke! Schnell!"
"Was ist los?" Der Captain sprang erschrocken auf die Füße und stieß dabei die Tasse um. Heißer Ersatzkaffee ergoß sich über die Tischplatte und tropfte wie ein kleiner Wasserfall auf den Fußboden. Ryan stürzte herbei, einen Lappen in der Hand, aber das Malheur war bereits passiert. Er konnte nur noch aufwischen.
"Brennt es?" rief der Captain während er schon zur Tür rannte. In seiner Stimme schwang ein Ton wie von Hoffnung als freute er sich über ein Unglück, aber das war bestimmt nur eine Sinnestäuschung.
Der Erste riß die Tür auf, der Captain stürzte hindurch und die beiden rannten zum Lift. "Nein!" schrie der Erste, "schlimmer!"
Ein Crewlift hat keine Kabine wie Passagierlifte. Er ist ein Schacht in dem die Schwerkraft ausgesetzt ist. Man hangelt sich vermittels der Handgriffe an den Wänden auf oder nieder, wie man's gerade braucht. Das geht rasch und macht keine Mühe. Der Nachteil ist der gräßliche Schwindel der einen überfällt wenn man zu lange darin verweilt.
Der Captain stürzte auf die Brücke wie ein geölter Blitz, der größere Erste etwas gemächlicher hinterdrein. Sein Auge blitzte (er hatte blaue Augen) als er umherblickte. "Was ist los? Wo brennt's?"
Das war eine berechtigte Frage, denn auf den ersten Blick schien alles in Ordnung und an seinem Platz. Auf der Brücke eines Raumschiffes ist für herumliegende Objekte kein Platz. Alles muß an Wänden, Decke oder Fußboden fest verschraubt oder angeflanscht sein. Der große Frontbildschirm war schon nahezu weiß, ein Zeichen daß der Raumsprung unmittelbar bevorstand.
Auf Raumschiffen gibt es keine Fenster durch die man hinausschauen kann. Draußen gibt es nichts zu sehen; der Raum ist eintönig schwarz und Sterne sind zu weit entfernt, als daß man die schwachen Lichtpunkte mit dem bloßen Auge sehen könnte. Bei Überlichtgeschwindigkeit ist es noch schlimmer: Dann scheint das lichtlose Nichts draußen umeinander zu wirbeln und das verdreht einem die Sinne. Daher wird alles, was es zu sehen gibt, auf Bildschirmen dargestellt.
Bei Überlichtgeschwindigkeit bleibt die Zeit an Bord stehen. Wenn das Raumschiff in den Normalraum zurückkehrt, sieht man nur plötzlich eine andere Region auf dem Bildschirm; deshalb spricht man von Raumsprung.
Yverson, den man "Paddy" nannte weil er immer von seinen irischen Vorfahren redete, saß reglos am Steuerpult. Das war ungewöhnlich weil er sonst immer aufsprang sobald der Captain die Brücke betrat. Genauso ungewöhnlich verhielt sich Wagner, der Navigator der sonst immer mit dem Auge an seinem Okular klebte. Beide saßen steif und regungslos auf ihren Plätzen, die Augen blicklos auf den Bildschirm gerichtet.
Sie reagierten auf keinen Anruf, und selbst als der Captain Paddy an der Schulter rüttelte, gab der kein Zeichen, daß er was verspürt hätte. Zum Glück erinnerte sich der Captain, daß ein Doktor Greiner unter den Passagieren war. Der erwies sich zwar als recht unwirsch als der Steward ihn weckte, aber als er erfuhr um was es ging, kam er auf die Brücke geeilt.
Er untersuchte zuerst Paddy, dann Wagner. Zum Schluß schüttelte er den Kopf. "Keine Ahnung was die beiden haben, Captain. Sie sind gesund."
"Aber warum regen sie sich nicht?" fragte der Captain besorgt.
"Das ist eine Stasis," erwiderte der Doktor.
"Ach! Und was hat die ausgelöst?"
Der Doktor hob eine Schulter. "Ich will verdammt sein wenn ich das weiß!" Er holte tief Luft, dann sah er den Captain schief an. "Machen Sie sich keine Sorgen! Früher oder später müssen sie daraus erwachen."
"Früher oder später," knurrte der Captain. "Das genügt mir nicht! Wie lange wird's dauern, Doktor?"
Der hob wieder die Schulter, diesmal die andere. "Eine Stunde, vielleicht. Ein Tag ... Ein Jahr ..."
"Ein Jahr!" Der Captain explodierte. "Doktor, ich brauche die Männer! Wecken Sie sie! Sofort! Ich befehle es!"
Doktor Greiner fuhr auf, "Sie haben mir nicht zu befehlen! Ich bin Arzt!" Dann fuhr er in gemäßigtem Ton fort. "Lassen Sie sie auf die Krankenstation bringen, ich werde mich dort um sie kümmern."
"Was glauben Sie denn, wo wir hier sind!" rief der Captain, "wir haben keine Krankenstation!"
"Dann lassen Sie sie in irgendeiner Kabine unterbringen!" knurrte der Doktor, "und bestellen Sie noch einen Pfleger für die beiden!"
Er verließ die Brücke sichtlich verärgert. "Keine Krankenstation! Was für ein Schiff ist das nur!"
"Was denkt der sich," brummte der Captain seinerseits. "Wir sind doch kein Vergnügungsdampfer!" Aber er befolgte Doktor Greiners Anordnung; eine Kabine wurde hergerichtet in der die beiden Bewußtlosen untergebracht wurden - es machte allerdings einige Mühe ihre steifen Körper ohne größere Blessuren durch die engen Gänge zu befördern - und Martinez als Pfleger bestellt. Martinez war der Steward der den Doktor herbeigeholt hatte. Er war gar nicht glücklich über diesen Auftrag, aber er war der einzige der wenigstens ein bißchen Ahnung von Medizin und Krankenpflege hatte - er hatte sogar schon einmal einen Knochenbruch gerichtet wofür Ingolls, das Opfer, ihm allerdings eine Klage wegen Körperverletzung androhte.
Die Freiwache wurde an Deck beordert und dann hielt der Captain der Crew einen kurzen Vortrag, der darin gipfelte, daß nunmehr alle Doppelwachen arbeiten müssten, solange Yverson und Wagner ohne Bewußtsein und daher arbeitsunfähig seien. Die Leute murrten und der Captain grollte, sagte aber doch schließlich, "Natürlich wird Euch die Extraarbeit vergütet!"
Das bedeutete Überstundenzulage und die Leute waren's zufrieden. Nur Graham, der in der Doppelfunktion eines Zahl- und Lademeisters fungierte, sah den erhofften Profit schwinden. Der Captain suchte ihn zu beschwichtigen, "So schlimm wird's schon nicht werden," aber Leute die von Berufs wegen mit Zahlen arbeiten sind von Hause aus unglücklich. Graham schlich von der Brücke wie ein geprügelter Hund.
Doktor Greiner war ein guter Arzt. Es kann aber auch sein, daß die Aussicht auf zusätzlichen Verdienst seinen Eifer anfeuerte. Wie dem auch sei, nach gut zwei Stunden gelang es ihm Wagner aus seiner Ohnmacht zu holen. Der Captain war sehr glücklich als er vernahm daß sein Navigator keinen Schaden erlitten hatte - er hatte nämlich leise Zweifel was "Epehs" Navigationstalent betraf: der nächste Raumsprung stand bevor.
Welten sind keine fixen Punkte im Raum: sie bewegen sich in ihren Orbits. Diese Orbits wiederum kreisen um einen gemeinsamen Mittelpunkt und auch dieser ist nicht unbeweglich. So kommt es, daß ganze Galaxien umeinander kreisen, usw. usw. Niemand kann die Distanzen, Tangenten und Verschiebungen für einen einzelnen Sprung vom Start zum Ziel berechnen und daher springt ein Raumschiff immer von Peilpunkt zu Peilpunkt bis es sein Ziel erreicht. Wie kompliziert das Ganze ist hatte Wagner seinerzeit dem Captain klargemacht als sie bei einem "schottischen Whiskey" (Fusel aus der Schiffsdestille) in der Messe saßen: "Ein Navigator ist dann ein guter Navigator wenn er mehr seinem Instinkt als dem Computer vertraut!"
Was er sagte als er erwachte ließ den Captain an seiner Gesundheit zweifeln und versetzte Martinez in Schrecken. Er sagte, "Wo ist sie?" und richtete sich auf. Seine Augen schweiften wild als er sich nach allen Seiten umblickte.
"Wo ist wer?" fragte der Captain unwirsch und Martinez sagte verwirrt, "Was?"
"Die Frau!" rief Wagner auf's äußerste erregt und machte Anstalten aus dem Bett zu springen.
"Hier gibt's keine Frau," knurrte der Captain unwirsch und Dr. Greiner drückte den Mann in die Kissen zurück. "Ruhig, Mann!" Jeder an Bord wusste, daß der Captain niemals Frauen anheuerte ("Die machen nur unruhig Blut") und unter den Passagieren dieser Reise befand sich auch keine Frau.
"Das ist es ja!" schrie Wagner und suchte sich dem Griff des Arztes zu entwinden. Der langte nach seinem Spritzenbesteck.
Mit vereinten Kräften gelang es ihnen den Navigator niederzuhalten und als die Wirkung der Beruhigungsspritze einsetzte entlockte ihm der Arzt durch vorsichtige Befragung die Ursache seines Entsetzens.
Nach seiner Darstellung war eine splitternackte Frau aus dem Bildschirm geschlüpft und hatte sich direkt auf ihn gestürzt. "Sie war knallblau!" sagte er abschließend.
Der Arzt blickte den Captain bedeutungsvoll an und der blickte mit gerunzelten Augenbrauen auf Wagner hinunter. "Knallblau warst wohl eher du!" bemerkte er trocken. Für die Mannschaft eines Raumschiffes ist Alkohol tabu, zumindest solange es unterwegs ist.
Der Mann wehrte sich vehement gegen den Vorwurf. "Keinen Tropfen, Captain! Ich schwöre es!"
Das bestätigte der Arzt. "Kein Anzeichen von Trunkenheit, Captain."
Der Captain verzog das Gesicht zu einer Grimasse. "Mann, dann hast du ein Problem wenn dir eine nackte Frau solche Angst einjagt!"
Der Vorgang wiederholte sich als Yverson eine gute Stunde später aus seiner Ohnmacht erwachte. Auch er bedurfte einer Beruhigungsspritze die seinen Fluchttrieb unterdrückte und ihn zusammenhängend sprechen ließ. Er berichtete im Wesentlichen dasselbe wie der Navigator, nur, daß bei ihm die Frau nicht nackt sondern in einen voluminösen blauen Schleier gehüllt war.
"Nun wissen wir wenigstens, daß wir nicht nach einer Frau mit blauer Haut suchen müssen," sagte der Arzt mit leisem Spott in der Stimme.
"Als ob das die Suche erleichtern würde!" murrte der Captain. Er rief erneut die Mannschaft zusammen. "Offensichtlich haben wir einen blinden Passagier," erklärte er, "und werimmer die Frau an Bord geschmuggelt hat kann sich auf was gefaßt machen wenn ich ihn erwische!"
Die Aussicht eine Frau an Bord zu finden - womöglich sogar eine nackte - versetzte die Männer in Hochstimmung. Deshalb nahmen sie es relativ gelassen hin, als auf Geheiß des Captains ihre Quartiere durchsucht wurden und eine Menge Krimskrams ans Tageslicht kam. Als aber Epeh Anstalten machte, einen Koffer zu öffnen, bemerkte der Besitzer trocken: "Vergessen Sie nicht in meinem Kulturbeutel nachzusehen!"
Damit erntete er eine Lachsalve seitens der Crew und einen schiefen Blick des Ersten, der mit hochrotem Kopf von der Suche abließ.
Als keine Frau zum Vorschein kam, entschloß sich der Captain den Laderaum zu öffnen. Er befahl das Siegel aufzubrechen und trug ins Logbuch ein, "Laderaum zwecks Suche nach blindem Passagier geöffnet." Er ließ den Vermerk vom Ersten und von Dr. Greiner als Zeugen gegenzeichnen.
Auch im Zeitalter der Weltraumfahrt gibt es blinde Passagiere. In aller Regel sind es Leute die vor dem Gesetz fliehen und die nichts zu verlieren haben als ihr eigenes Leben. Die riskieren alles indem sie die Sicherheitsvorkehrungen der Raumhäfen umgehen oder durchbrechen und sich an Bord eines Raumschiffes stehlen in der Hoffnung noch einmal davonzukommen. Diese Menschen sind gefährlich, nicht nur weil sie Krankheiten an Bord schleppen können, sondern auch, oder gerade weil sie in ihrer Verzweiflung zum Äußersten gehen. Der Captain war daher nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, alle Maßnahmen zu treffen die zur Ergreifung des blinden Passagiers führten, und dazu gehörte auch das Öffnen des Laderaums. Dabei bereitete es ihm ein geheimes Vergnügen dem Kaffeeimperium ein Schnippchen zu schlagen und sich auch den letzten Winkel seines Raumschiffes zugänglich zu machen.
Im Laderaum fanden sich die intakten Kaffeesäcke und die restliche in Kisten, Ballen und Fässern verpackte Ladung, aber nichts was auch nur annähernd blau ausgesehen hätte und schon gar keine Frau. Die Männer der Suchmannschaft waren hier die einzigen lebenden Wesen.
Es war schlicht und ergreifend kein blinder Passagier an Bord.
Der Captain erklärte der Crew daß es sich um einen schlechten Traum gehandelt hatte, dem Yverson und Wagner zum Opfer fielen und befahl ihnen ihren Dienst wieder anzutreten. Die Leute murrten weil es nun doch keine Sonderzulage gab und außerdem war ihnen keine nackte Frau in die Arme gelaufen. Die ganze Aufregung war umsonst gewesen. Der Captain ließ den Laderaum neu versiegeln und das Protokoll von den beiden Zeugen gegenzeichnen. Wagner berechnete den nächsten Raumsprung und der wurde erwartungsgemäß erfolgreich durchgeführt; niemand fiel in Ohnmacht.
Das Leben auf der Pandora ging wieder seinen geregelten Gang.
Bis die Erscheinung Mr. Oglethorpe in Ohnmacht schickte. Mr. Oglethorpe war Seniorpartner der galaxieweit rühmlich tätigen Anwaltspraxis Oglethorpe, Whipple & Whipple, und darum ein wichtiger Zeitgenosse. Aus einem unerfindlichen aber für den Captain einträglichen Grund zog er die Pandora anderen besser und luxuriöser ausgestatteten Raumschiffen vor, und nun lag er, hingesunken wie eine groteske Marionette (er wog nahezu drei Zentner) in der Schiffsbar. Der eilends hinzugezogene Dr. Greiner stellte die gleichen Symptome wie bei Yverson und Wagner fest, aber dann mußten vier Mann hinzuspringen um Mr. Oglethorpe niederzuhalten als er wieder zu sich kam. Es überraschte daher niemanden als er eine wilde Mär von einer nackten Frau von sich gab die sich mit wogendem Busen und wie im Sturm flatternder Mähne auf ihn stürzte. Das Erschreckende an ihr, sagte er, war, daß sie vom Scheitel bis zum Zeh von himmelblauer Farbe war.
Aber es blieb nicht bei Mr. Oglethorpe. Bis zum Wachwechsel war die Frau vier Mann der Schiffsbesatzung und sechs Passagieren erschienen und allen widerfuhr bei ihrem Anblick die nämliche Bewußtseinsstörung. Allerdings war der Erregungsgrad nicht bei allen gleich. Manche nahmen die Erscheinung sogar relativ gelassen auf, was Dr. Greiner mit einem Seufzer der Erleichterung quittierte; er hatte bereits befürchtet daß sein Vorrat an Beruhigungsmitteln zu Ende sein würde ehe die Pandora auf Essex eintraf. Nicht auszudenken, meinte er als er sich mit dem Captain zur Lagebesprechung traf, was für ein Pandämonium herrschen würde wenn alle auf dem Schiff gleichzeitig verrückt wurden.
Den Captain traf diese Mitteilung wie ein Hammer. Er fürchtete nichts so sehr als sowohl sein Patent wie die Lizenz zu verlieren. Wenn das geschah würde die Pandora unter den Hammer kommen und er konnte froh sein wenn er in einem Heim für alte und kranke Raumschiffer unterkam. Den Traum von einer kleinen Villa als Altersruhesitz auf der Erde konnte er begraben.
Das heißt, es gab ja auch keine Missus mit der er die letzten Lebensjahre genießen konnte. Ihm war nie die Richtige über den Weg gelaufen die ihm hätte Sitzfleisch anerziehen können; besser gesagt, seine unstete Lebensweise hatte ihn nie einer interessanten Frau begegnen lassen die sich gleichfalls für ihn erwärmte. Er hatte sich immer recht wohl dabei gefühlt, aber plötzlich überfiel ihn die Einsamkeit. Er spürte sie so deutlich wie das Gewicht seiner Jahre und fragte sich unwillkürlich ob es wohl schon zu spät sei.
Es gab ein probates Mittel solch triste Regungen hinunterzuspülen, aber gerade als er dem Impuls Trost in der Messe zu suchen nachgeben wollte fiel ihm ein, daß er ein Schiff voller Narren zu führen hatte und deshalb besser nüchtern blieb. Wenn sie auf Essex eintrafen war immer noch Zeit sich einen Affen anzuhängen und außerdem würde er dort besseres finden als seinen Schiffswhiskey.
"Captain," flüsterte der Arzt, "Captain ..." Seine Stimme klang heißer.
Aus seinem Tagtraum gerissen der gerade in eine Vision von einer Sechzigjährigen abgleiten wollte, die aussah wie zwanzig und die den Kochlöffel beherrschte wie weiland Paganini seine Geige, sah der Captain unwirsch auf. "Was!"
"Captain," krächzte Greiner, "hinter mir ..."
Der Captain blickte, sah Watson am Steuerpult der den Bildschirm mit einem Gesichtsausdruck anstierte als rekelte sich dort ein Pornostar (es war aber nichts darauf zu erkennen als die üblichen Lichtpunkte mit eingeblendeten Positionsdaten) und blickte wieder den Doktor an. "Was soll hinter Ihnen sein?"
"Sie," stieß der Doktor hervor. Sein Gesicht war aschfahl. "Sie steht hinter mir, streckt ihre Krallen nach mir!" Dabei stöhnte er wie einer mit Bauchgrimmen.
Das entsprach genau den Berichten seiner bisherigen Patienten. Stets hatten sie das Gefühl gehabt jemand oder etwas von dem Gefahr ausging stünde hinter ihnen, oder sie sahen etwas Blaues aus dem Augenwinkel, und werimmer seine Angst überwand und sich umsah erblickte - nichts.
"Doktor," schrie der Captain, "Sie auch?" Er packte den Arzt an den Rockaufschlägen und begann ihn zu schütteln wie einen nassen Aufwischlappen (er war ein gutes Stück größer.) Seine blauen Augen blitzten und seine Stimme grollte wie Hagel der auf ein Blechdach prasselt. "Kommen Sie zu sich, Mann! Ich brauche Sie!"
Er sieht aus (dachte Ryan der gerade ein Tablett durch die Tür bugsierte) wie Thor bei Ragnarök. Der Vergleich kam ihm weil er erst kürzlich den Realo "Der Kampf der Asen mit den Eisriesen" gesehen hatte. Auf dem Tablett das er geschickt balancierte befand sich eine Flasche Scotch (Schiffswhiskey, was sonst) neben einer Karaffe mit Eiswasser über die er dem Whiskeybecher gestülpt hatte, und einem Schinkensandwich mit Kresse. Über letzteres hatte er zum Schutz vor Fliegen (die es in dieser Umgebung natürlich nicht gab, aber alte Gewohnheiten sterben bekanntlich nie) eine Serviette gebreitet.
Der Captain sah auf, erkannte Ryan und erinnerte sich dunkel, daß er gerade erst Hunger verspürt und ein Sandwich geordert hatte. Guter Ryan! Niemand reagierte so schnell wie er wenn es darum ging dem Captain einen Gefallen zu erweisen. Der Captain bemühte sich mit normaler Stimme zu sprechen, "Danke, Ryan."
Er ließ den Doktor los. Der tat einen Schritt zurück, blickte sich um, sah, daß nichts und niemand auf der Brücke war was nicht auf die Brücke gehörte, seufzte erleichtert und griff in die Tasche. "Auch eine, Captain?"
Er hielt eines jener braunen Plastikfläschchen in der Hand in denen Medizinen verkauft werden. Der weiße Plastikverschluß war bereits geöffnet. Kleine weiße Pillen befanden sich darin. "Was ist das?" fragte der Captain mißtrauisch.
"Dasselbe was ich meinen Patienten verabreiche," knurrte Dr. Greiner. Er schüttelte eine Pille in seine Hand und poppte sie in den Mund. Dann nahm er den Becher vom Tablett, schenkte sich Wasser ein und spülte die Tablette hinunter. "Besorge dem Captain ein Glas, Ryan."
Ryan stellte das Tabett auf die nächste Konsole und eilte hinaus. Der Doktor wandte sich an den Captain. "Die einzige Medizin die hier vonnöten ist. Sie beruhigt ungemein."
"Nein, danke," sagte der Captain. Seine Stimme klang wie eine Stubentür mit ungeölter Angel. "Ich brauche einen klaren Kopf."
Der Wachwechsel brachte neue Ausfälle, diesmal waren es aber die Passagiere die sich allesamt in ihren Kabinen einschlossen. Sie ließen sich auch ihre Mahlzeiten dort servieren und die drei Stewards hatten alle Hände voll zu tun um allen Anforderungen gerecht zu werden. Ihre Vorsicht schützte die Passagiere aber keineswegs vor der Heimsuchung (die blaue Lady kam einfach durch die Wände) und Dr. Greiner sah mit Besorgnis seinen Vorrat an Beruhigungsmitteln dahinschmelzen.
Yverson baute sein Männchen vor dem Captain als er sich wieder zum Dienst meldete. "Na, Paddy, keine Angst vor der blauen Lady?" fragte dieser leutselig, froh, daß die Mannschaft wieder voll im Einsatz war.
Paddy wurde rot, dann grinste er. "Ich werde sie in meine Koje einladen wenn sie wiederkommt, Captain!"
"So ist's recht." Der Captain nickte. "Dann schau mal, was Watson so am Bildschirm fasziniert hat!"
"Essex," sagte Wagner knapp als er seinen Platz einnahm. Er und Yverson arbeiteten so gut wie immer zusammen. Schon hing sein Auge am Okular.
"Was, schon?" fragte der Captain verblüfft. Er schaute zum Bildschirm, aber trotz aller Erfahrung vermochte er kein Anzeichen zu entdecken, daß sie sich dem Planeten näherten; der war noch viel zu weit in den Tiefen des Alls versteckt.
Wagner sah flüchtig auf. "Sie werden sehen, Captain!"
Der Bildschirm wurde zum letzten Mal weiß und als der Normalraum wieder zu sehen war hing der Planet genau in seiner Mitte, wie eine riesige blauweiß gebänderte Billardkugel. Den Captain überkam ein Gefühl wie von Wehmut: genauso sah die Erde aus.
Die Pandora schwenkte in den Orbit und schon dockte die erste Fähre. Als erste betrat ein Trio Kaffeeinspektoren das Schiff, respektlos und herausfordernd als seien sie die Herren von allem. Wie erwartet erhoben sie beim Anblick des beschädigten Siegels einen Mordsspektakel und wollten sich auch nicht beruhigen als sie die Rechtfertigung des Captains hörten und die Eintragungen im Bordbuch lasen. "Überstellen Sie uns den blinden Passagier!"
Der Captain musste zugeben, daß man keinen gefunden hatte. Die Probleme, die die Erscheinung der blauen Lady bei Mannschaft und Passagieren hervorgerufen hatte, behielt er wohlweislich für sich. Es fehlte gerade noch, daß man sie als Gespensterseher verspottete!
Aber die Inspektoren setzten noch einen darauf. Offener Hohn stand in ihren Augen als sie ihn der Hehlerei bezichtigten. "Die Eintragungen sind falsch! Sie wollen damit vertuschen, daß hier Diebstahl im großen Stil begangen wurde! Wir werden Polizei an Bord rufen und das Schiff durchsuchen lassen. Solange bleibt es in Quarantäne!"
"Nichts dergleichen!" Eiskalte Wut ging vom Captain aus wie ein Bündel tödlicher Strahlen. Der Erste baute sich breitbeinig neben ihm auf, die Fäuste in die Seiten gestützt und die Beamten duckten sich erschreckt. "Wenn Sie nicht wollen daß ich Sie in Eisen legen lasse, benehmen Sie sich wie zivilisierte Leute," donnerte der Captain. "Prüfen Sie zuerst mal den Kaffee ob er intakt ist! Dann nehmen Sie ihre verfluchte Ladung und verschwinden von hier!"
Die eingeschüchterten Beamten taten wie ihnen geheißen, und als sich herausstellte daß das Gewicht der Kaffeeladung haargenau mit den Angaben der Frachtpapiere übereinstimmte verschwanden sie kleinlaut.
Die Leichter dockten an, die restliche Fracht wurde gelöscht und die Passagiere gingen von Bord. Der Captain sah mit Genugtuung, daß sie allesamt ganz flink zu Fuß waren.
Niemand sah richtig hin und keiner beobachtete die durchsichtig wirkende, blaßblaue Gestalt die lautlos mit ihnen von Bord huschte.
Als letzter verabschiedete sich Dr. Greiner. "Ich habe mir Ihre Worte zu Herzen genommen," sagte der Captain als er ihm die Hand schüttelte. "Ich werde eine Krankenstation einrichten. Hätten sie nicht Lust als Schiffsarzt für mich tätig zu sein?"
"Können Sie mir garantieren, daß keine blaue Lady Ihr Schiff heimsucht?" erwiderte der Arzt mit einem schiefen Lächeln.
Der Abstand zwischen Erde und Essex ist keine fixe Distanz wie, sagen wir, zwischen Paris und London, denn beide Himmelskörper bewegen sich unabhängig voneinander im Weltraum und die Abstände verändern sich ständig. Ohne die Möglichkeit der Raumsprünge würde ein Raumschiff niemals ankommen, aber auch mit diesen "Abkürzungen" ist die Reisezeit nicht gering und die Peilpunkte - die auch nicht immer die gleichen sind - müssen für jede Reise neu berechnet werden. Deshalb nimmt man als mittlere Reisezeit für eine Rundreise zwei Jahre an.
Als am Ende der nächsten Rundreise die Pandora wieder auf Essex anlegte, kamen zwar wieder die Kaffeeinspektoren an Bord, aber nicht als freie Männer. Sie kamen wie Verbrecher in Eisen gelegt und der Befehlshaber der begleitenden Wachmannschaft übergab sie dem Captain mit den Worten: "Nehmen Sie diese Schurken mit zur Erde zurück und nehmen Sie Ihren teuren Kaffee gleich wieder mit! Wir brauchen ihn nicht mehr denn wir haben jetzt unseren eigenen: wir haben Blue Lady!"

ENDE


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