STORIES


MITBEWOHNER

von Susanne Stahr



Angefangen hatte alles mit dem Toilettenpapier. Kaum hatte Melissa eine neue Rolle in den Spender getan, war es auch schon wieder zu Ende. Jedenfalls kam es ihr so vor. Dann wurde die Milch im Kühlschrank sauer, zwei Tage vor dem Ablaufdatum. Nun ja, die Wohnung war sehr warm. Aber trotzdem.
Die Fernbedienung für den Fernseher verschwand und tauchte an den unmöglichsten Stellen wieder auf Ronalds Bild fiel jeden Tag ein paar mal von ihrem Nachttisch. Sie konnte doch nicht alles auf ihren schwarzen Kater Nestor schieben! Nein, wenn es nicht unmöglich wäre, würde sie sagen, ein Geist oder etwas Ähnliches trieb hier sein Unwesen.
Und jetzt waren ihre Schuhbänder so hoffnungslos verknotet, dass sie entweder andere Schuhe anziehen musste oder zu spät zu ihrer Verabredung kommen würde. Das andere Paar war so furchtbar unbequem, weshalb sie es auch nur selten trug.
Endlich war der Knoten gelöst. Befreit seufzend schlüpfte sie in den linken Schuh. Ein paar Minuten später würden Ronald wohl nichts ausmachen. Kracks! Bestürzt starrte sie auf das abgerissene Schuhband.
Seit Tagen hatte sie sich auf dieses Date gefreut. Sie kannte Ronald jetzt seit drei Wochen. Geduldig und charmant hatte er sie umworben. Noch immer erfüllte der Duft der roten Rosen vom letzten Treffen ihre kleine Wohnung. Heute wollte sie ihn erhören.
Und jetzt das! Ob sie die Sandalen anziehen sollte? Nein, das war unmöglich, denn in diesem Moment klatschten große Tropfen gegen ihr Fenster. Doch die unbequemen Schuhe. Seufzend schlüpfte sie in den einen. Wo war der Zweite? Verzweifelt kramte sie in dem kleinen Abstellraum. Vergeblich. Der zweite Schuh war nicht da. Nun ging sie systematisch die ganzen 30 qm ihrer Wohnung durch. Nichts. Der zweite Schuh war einfach unauffindbar. Es war wie verhext.
Leise Musik drang aus dem Wohn-Schlafraum, dann ein rhythmisches Rattern. Oje, der Kater! Schnell humpelte sie in das Zimmer. Tatsächlich. Nestor saß am Drucker und schien sie anzufeixen. An dem grünen Lämpchen sah sie, dass das Gerät eingeschaltet war. Das passierte relativ oft. Aber wie hatte er nur das Radio eingeschaltet?
"Du hast ungeahnte Fähigkeiten", sagte Melissa lächelnd und schaltete den Drucker aus.
In diesem Moment ging der Fernseher an und Nestor sauste fauchend aufs Bücherregal. Das Lächeln fiel ihr förmlich aus dem Gesicht. Das konnte nicht Nestor gewesen sein. Genervt schaltete sie den Apparat aus.
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie bereits eine Viertelstunde zu spät dran war. Mit zitternden Fingern wählte sie Ronalds Nummer. Es dauerte lange, bis er abhob. Und dann war seine Stimme durch all die Nebengeräusche schwer zu verstehen.
"Hallo?" So kalt hatte seine Stimme noch nie geklungen.
"Hier ist Melissa", sagte sie leise.
"Wer ist da?"
"Melissa. Ich habe ganz schreckliche Kopfschmerzen, deshalb ...", log sie.
Zuerst hörte sie nur das kreischende Lachen einer Frau. "Ach, Kopfschmerzen?" sein Tonfall ließ keinen Zweifel, dass er ihr nicht glaubte.
"Ja", beharrte sie trotzdem. "Ich hatte fürchterlichen Stress im Büro. Und dann nahm ich ein Aspirin, aber es wurde nur noch schlimmer. Es tut mir Leid, Ronald. Wir könnten doch..."
"Braucht es nicht", schnitt er ihr das Wort ab. "Ich ruf dich an, Kleine." Damit beendete er das Gespräch. Bevor die Verbindung abbrach, hörte sie jedoch noch, wie er sagte: "Komm, Süße, küss mich!"
Melissa sank auf ihren einzigen Küchenstuhl und starrte das Handy an. War das der höfliche, immer verständnisvolle Ronald?
Stechender Geruch ließ sie aufsehen. Die kleinere Herdplatte glühte dunkelrot und der Joghurtbecher, den sie dort abgestellt und vergessen hatte, sank in sich zusammen. Mit einem schluchzenden Aufschrei sprang sie auf und drehte zuerst einmal die Platte ab. Dann begann sie das zerlaufene Plastik methodisch mit einem Lappen zu entfernen.
Zuerst liefen ihr die Tränen nur so über die Wangen. Dann wurde sie wütend. Was bildete sich der Kerl eigentlich ein? Er war wohl enttäuscht, sagte die Stimme der Liebe leise. Er hätte auch anrufen können, antwortete die Stimme der Vernunft wesentlich lauter. Die Nebengeräusche im Telefon hatten sich sehr nach einer Kneipe angehört. Wie lange saß er schon dort? Er hatte sich offenbar sehr schnell mit einer ‚Süßen' getröstet.
Es sollte ihr egal sein. Bis jetzt hatte immer sie auf ihn gewartet, wenn sie verabredet waren. "Mein Chef wollte noch ...", hieß es immer entschuldigend und sie hatte ihm immer verziehen. Kaum verspätete sie sich, ließ er die Maske fallen.
Noch einmal wischte sie über die Platte. Alles sauber. Am liebsten hatte sie auch die Erinnerung an Ronald weggewischt, so wie sie es in einer lustigen Werbung gesehen hatte.
Beim Putzen hatte sie schon eine Menge Ärger und Enttäuschung verarbeitet. Jetzt ein Glas Milch. Ja, das sollte den Rest wegschwemmen.
Vorsichtig nahm sie die Packung aus dem Kühlschrank und roch daran. Sie war noch in Ordnung. Heiße Schokolade war noch besser, dachte sie.
Da fiel ihr Blick auf ihren Fuß und sie musste lachen. Sie hatte noch immer den Schuh an. Schnell schlüpfte sie heraus und kickte ihn ins Vorzimmer. Sie würde den zweiten schon finden. Leise summend bereitete sie ihren Kakao.
Was gab es denn heute im Fernsehen? Oh! Ein uralter James-Bond-Film! Und er hatte schon angefangen! Ein Druck auf die Fernbedienung, die überraschend auf ihrem Platz lag, und schon schlenderte Sean Connery über den Bildschirm. Welch ein Mann! Wie gebannt sank sie in ihren Fernsehsessel. Vergessen blieb der Kakao in der Kochecke stehen. Sie dachte auch nicht mehr daran als der Film zu Ende war und sie zu Bett ging.
Zusammengerollt unter der weichen Decke, den Kater im Arm, dachte sie über diesen Abend nach. Wenn die Sache mit den Schuhen nicht passiert wäre, läge sie jetzt nicht allein hier. Wäre das nicht schöner? Nein, er hatte ihr ein Theater vorgespielt, um sie herum zu kriegen. Im Grunde war sie dankbar, dass es so gekommen war. Schicksal. Aus eigener Kraft hatte sie es nie geschafft, zu spät zu kommen. Es würde einen anderen geben, einen netten, ehrlichen Mann. Mit diesen Gedanken schlief sie ein.
Lautes Schnurren holte Melissa aus dem Schlaf Mit einem halben Auge schielte sie nach der Wanduhr. 5 Uhr 30. Nestor war der beste Wecker. Wenn er nicht eine Stunde vorginge. Verschlafen tappte sie in die Kochecke und füllte Nestors Futterschale. Dabei stieß sie an etwas. Die Kakaotasse! Erst jetzt fiel sie ihr wieder ein. Wo blieb die braune Sturzflut? Oh, die Tasse war leer.
"Nestor!", schimpfte sie halbherzig. "Du hast meinen Kakao getrunken."
Der Kater schmatzte unbeirrt und ignorierte sie einfach. Darin war er echt gut.
Im Vorzimmer entdeckte sie den Schuh, den sie gestern so verzweifelt gesucht hatte, - neben dem zweiten. Dazu kam noch, dass beide Schuhe strahlend geputzt waren.
Die größte Überraschung erwartete sie aber im Badezimmer. Auf dem Toilettendeckel lag eine große Rolle säuberlich aufgewickeltes Toilettenpapier. Darauf lag ein Kärtchen mit den Worten: "Danke für den Kakao."


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