STORIES


IN DIE SCHATTEN

Folge 15

von Thomas Kager



Was bisher geschah:
Sven, Wildfire und Moonshadow wurden entführt und gezwungen, brutale Schaukämpfe auszutragen. Als sie nach langer Zeit endlich frei kommen, stehen sie im Bezirk Puyallup des Seattler Megasprawl des Jahres 2054 ohne Habe und Identität praktisch vor dem Nichts. Daher versuchen sie nun, in das Gewerbe der "freiberuflichen Sonderkräfte" einzusteigen. Besser bekannt als Shadowrunner.
Dabei lassen sie nie ihr Ziel aus den Augen, mehr über ihre Entführer zu erfahren, doch alle Spuren verliefen bisher im Sand. Derzeit können sie sich sowieso kaum darum kümmern, denn das mysteriöse Verschwinden einer Freundin und ein ungewöhnlicher Hilferuf beanspruchen ihre volle Aufmerksamkeit.


Wohl zum hundertsten Male brüteten sie nun schon über den Ausschnitten des Puyalluper Stadtplans, auf denen Taras letzte Aufenthaltsorte verzeichnet waren. Doch wie all die Male zuvor, verlief jede Gedankenkette ins Leere. Egal, wen sie fragten, welch hohes Belohungsgeld sie anboten, welche verlassene Lagerhallen oder Gebäude sie durchsuchten, von der Kleinen war keine Spur zu entdecken. Noch zweimal hatte Moonshadow versucht, sie mittels Magie zu finden, sogar ein erwachtes Spürwesen hatten sie organisiert, doch auch auf diesem Weg war ihnen kein Erfolg beschert gewesen. Es sah so aus, als wäre Tara wie in dieser billigen Trideoserie durch ein Dimensionsloch gefallen und aus ihrer Realitätsebene verschwunden.
Es war draußen schon lange dunkel, als Sven noch einmal die Baupläne des Fast Food Restaurants studierte, in dem Tara das letzte Mal zweifelsfrei gesehen worden war. Vielleicht hatten sie ja einen anderen Ausgang oder eine Verbindung zur Kanalisation oder sonst irgendetwas übersehen. Neben ihm blätterte Wildfire in einem Stapel Ausdrucke, während Moonshadow mit geschlossenen Augen auf ihrem Stuhl saß und ein gebrauchtes Shirt umklammert hielt. Sven nahm an, dass es Tara gehörte. Verstohlen musterte er die konzentrierten Züge der dunkelhäutigen Elfe, auf denen sich in den letzen Tagen immer öfters Traurigkeit und Besorgnis abzeichneten. Etwas, was man früher nie an ihr gesehen hatte. Was in ihr wohl vorgehen mochte? Während ihrer Nachforschungen hatte er erkannt, wie tief die Beziehung zwischen Moonshadow und der Kleinen war. Trotz des Altersunterschiedes und der sozialen Herkunft. Auch wenn man bedachte, dass Tara nicht immer das rebellische Straßenmädchen war, das sie allen vorspielte. Wie würde sich Sven fühlen, wenn Wildfire eines Tages ohne Spuren zu hinterlassen einfach verschwand?

"SIE SIND DA! SIE SIND DA!"
Eine junge Frau in einem weiten blumigen Rock und ärmellosem Pullover stürmte plötzlich ins Zimmer. Sie war völlig aufgelöst, der Blumenkranz hing lose in ihren langen blonden Haaren und ihre hellen grasgrünen Augen waren panisch aufgerissen. Bellis warf sich vor Wildfire auf die Knie und ergriff flehendlich ihre Hand. "Die bösen Menschen sind da! Und sie sind stark. So stark. Sie werden meine Heimat verderben und mich dazu. Bitte, du musst mir helfen!" Während Wildfire verwirrt auf das bettelnde Mädchen starrte, sah Sven ungläubig zu der verschlossenen Wohnungstür. Bellis war durch sie hindurch gelaufen war, als bestünde sie aus Luft. Jetzt wusste er, wie sie vor ein paar Tagen in ihre Wohnung gelangen konnte, um Wildfire so ungewöhnlich um Hilfe zu bitten.
Das harte Poltern eines umstürzenden Stuhls riss ihn wieder in die Gegenwart. Moonshadow stand hoch aufgerichtet neben dem Tisch und starrte auf Bellis. In ihrer hohlen Hand schimmerte es unheilvoll.
"Du bist ein Geist?" Das war vielmehr eine Feststellung, als eine Frage. Bellis blickte erschreckt und ängstlich auf die Magierin. Offenbar hatte sie die Elfe komplett übersehen, als sie kopflos hereingestürmt war. Vorsichtig rutschte sie auf ihren Knien herum, um Wildfire zwischen sich und die drohende Magierin zu bekommen. Dabei behielt sie ständig ihre Hand umklammert.
"Ein Geist?" fragte die Halbindianerin ungläubig. Zögernd nickte das Blumenmädchen. "Ich glaube, so nennt ihr Wesen wie mich", gab sie kleinlaut zu.
"Aber warum..." fing Wildfire an, brach dann aber verwirrt ab.
"Wer weiß schon, was Geister denken", meinte Moonshadow knapp, schloss ihre Hand und das Schimmern darin erlosch. Sie richtete ihren Stuhl wieder auf und setzte sich, wobei sie Bellis weiterhin misstrauisch musterte. "Aber wir haben sowieso keine Zeit für sie."
"Na hör mal, Moonshadow", sagte Wildfire ein wenig ärgerlich. "Wir kommen hier im Moment sowieso nicht weiter. Da können wir..."
"Ooooh. Duu bist Moonshadow?" fragte Bellis mit großen Augen und musterte die Magierin nun mit unverhohlener Neugier und aufkeimendem Verständnis.
"Na und?" wollte diese mürrisch wissen.
"Sie hat nach dir gerufen und geweint."
Sven hatte die Augen der Elfe noch niemals so groß aufgerissen gesehen.
"Gew...", Moonshadow verschluckte sich fast an diesem Wort, dann beugte sie sich vor. "Wer?"
"Das - Opfer", erwiderte Bellis ängstlich.
"OPFER?!" Moonshadow sprang auf und ihr Sessel polterte abermals auf den Boden. Ihre schlanken Hände umklammerten den Rand der Tischplatte, dass die Knöchel hell hervortraten. Sven hatte den Eindruck, als müsse sie sich festhalten, um nicht über den Tisch zu springen und sich auf Bellis zu stürzen. Panisch versteckte sich der Geist hinter Wildfire, die sich schützend vor ihr aufbaute.
"Nur keine voreiligen Schlüsse", warnte sie die Magierin und sah sie mit festem Blick an. Sven glaubte einen Moment lang, Moonshadow würde ihr einen Kampfzauber entgegenschleudern, doch dann entspannte sich die dunkle Elfe ein wenig. Wildfire nahm das als Zugeständnis und wandte sich zu Bellis. "Von welchem Opfer sprichst du?" fragte sie, bemüht, einen freundlichen Tonfall zu treffen.
"Das Opfer, das die bösen Menschen brauchen, um meine Heimat zu verderben", erklärte der Geist in Gestalt eines Mädchens. Sie hielt ihren Blick so fest auf Wildfire gerichtet, als fürchte sie, er könnte unbeabsichtigt zu der aufgebrachten Magierin rutschen und einen weiteren Ausbruch provozieren.
"Und wer ist dieses Opfer?"
"Ein junger Mensch. Sie war ein paar Mal in meiner Heimat - mit ihr." Nun sah Bellis doch an Wildfire vorbei zu der Elfe. Langsam begann Sven zu begreifen, auch wenn ihm immer noch große Stücke des Puzzles fehlten. Moonshadow richtete sich auf. Man konnte förmlich sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Gefasst ging sie schließlich um den Tisch herum und setzte sich mit unterschlagenen Beinen neben Bellis. Mit der Handfläche nach oben streckte sie ihr die Hand entgegen.
"Zeig mir deine Heimat!" Sven war sich nicht sicher, ob ihr Tonfall nun einen Befehl, eine Bitte oder gar ein Flehen ausdrücken sollte. Vermutlich war es eine Mischung aus allen dreien.
Der Geist blickte unsicher auf die Elfe, dann auf Wildfire. Die Halbindianerin nickte ermutigend und Bellis versuchte ein tapferes Lächeln. Dann legte sie ihre Hand vorsichtig in die Hand der Magierin. Moonshadow schloss die Augen. Bellis Gestalt wurde durchscheinend und war gleich darauf vollkommen verschwunden. Im gleichen Moment verlor Moonshadow jegliche Spannung. Nur ihre aufrechte und ausbalancierte Körperhaltung bewahrte sie davor, zu Boden zu stürzen. Trotzdem erhob sich Sven, um sie notfalls aufzufangen. Ihr Geist hatte ihren Körper verlassen und war nun mit Bellis in den unergründlichen Weiten des Astralraumes unterwegs.
"Ich geh schon mal zum Wagen", sagte Wildfire und warf sich ihre Jacke über. Sven nickte zustimmend. Sie hatten zwar nicht einmal die Hälfte von all dem verstanden, aber dass gleich Eile angesagt war, war ihnen beiden klar.
Kaum eine Minute später erwachte Moonshadow wieder. Sie blickte sich einen Moment verwirrt um, dann hatte sich ihr Geist wieder in der körperlichen Hülle zurechtgefunden.
"Der verlassene Sportflugplatz", presste sie zwischen den Zähnen hervor. "Und wir müssen uns beeilen."

Wildfire saß bereits auf dem Beifahrersitz ihres Wagens und telefonierte, als Sven und Moonshadow einstiegen. Ihr Gesicht wirkte angespannt und Sven war sich sicher, dass das nicht alleine an der derzeitigen Situation lag. Ihre Wunden schmerzten wohl wieder, weil sie so schnell die Treppen heruntergehumpelt war. Als sie hörte, wohin es ging, schluckte sie trocken, dann gab sie den Ort durch das Handy weiter.
"Wer war das?" wollte Sven wissen, während er den Wagen durch den Verkehr jagte, der zu dieser Nachtzeit glücklicherweise kaum der Rede wert war.
"Schmeling, der Typ von Tostlaws Sicherheitsdienst", antwortete sie. "Ich dachte, es wäre ganz gut, wenn er Bescheid weiß. Apropos Bescheid wissen..." damit drehte sie sich zu Moonshadow um, die nervös auf der Rückbank hin und her rutschte.
"Bellis ist ein Geist", begann die Magierin zu erklären. "Ein freier Naturgeist um genau zu sein. Zwar recht stark, aber noch relativ jung und unerfahren. Sie dürfte erst vor kurzem erwacht sein. Ihre Domäne, also das was sie ihre Heimat nennt, ist der verlassene Sportflugplatz. Ich hatte euch doch erzählt, dass der Ort mit Magie erfüllt ist. So wie es aussieht, hat eine Gruppe Giftschamanen ebenfalls Interesse an diesem magischen Potential gefunden."
Sven fluchte innerlich. Er konnte sich noch gut an die Begegnung mit einem dieser Verrückten während ihres ersten großen Auftrages erinnern. Nur ein gut gezielter Schuss von Wildfire hatte ihm damals das Leben gerettet. Was mochte wohl auf sie zukommen, wenn sie es nun mit einer ganzen Gruppe zu tun bekamen?
"Um diese Magie nutzen zu können, müssen sie sie jedoch ihrer verdrehten Denkweise anpassen. Und zwar mittels Blutmagie. Ein Opferritual."
"Und als Opfer haben sie sich ausgerechnet Tara ausgesucht", folgerte Wildfire.
"Ja, ausgerechnet Tara." Frustriert schlug Moonshadow ihre Faust auf den Sitz. "Kann denn diese Karre nicht schneller fahren?"
Sven verbiss sich einen Kommentar. Sicherlich hätte Tinkerbell noch weitaus rascher und besser einen Weg durch den lockeren Verkehr gefunden. Aber leider war ihre Werkstatt zu weit entfernt, als dass die zierliche Elfenriggerin rechtzeitig vor Ort gewesen wäre. Also mussten sie sich wohl oder übel auf seine Fahrkünste verlassen. Wegen der Polizei machte sich Sven dabei keine Sorgen. Um diese Uhrzeit ließ sich die hier sowieso nie blicken. Er hoffte nur, dass nicht irgend so ein Möchtegern auf die Idee kam, seine Fahrweise als Aufforderung zu einem Rennen zu interpretieren.
"Aber wie ist Bellis darauf gekommen, ausgerechnet mich um Hilfe zu bitten?" wollte Wildfire weiter wissen.
"Du bist auf dem Flugplatz angeschossen worden", erklärte Moonshadow und die Halbindianerin verzog das Gesicht bei der Erinnerung an diese lebensgefährliche Nacht. "Dabei hast du eine Menge Blut verloren. Mitten in ihrer Domäne. Blut ist ein ganz besonderer Saft. Besonders in der Magie. Mächtig. Kraftvoll. Fruchtbar. Nichts verbindet Geist und Körper stärker. Bestimmte höhere magische Wesen können darin lesen, wie in einem Buch. Das Aufspüren einer Person mit Hilfe ihres Blutes, ist für sie ein Kinderspiel. Scheinbar hat Bellis zugesagt, was sie in deinem Blut las und beschlossen, dich zu suchen. Sie wusste, dass du ihr beistehen wirst."
"Aber wenn das so einfach ist, warum hast du nicht etwas von Taras..."
"Das hatte ich", knurrte Moonshadow verdrossen. "Diese 'bösen Menschen' müssen sie hinter einer sehr machtvollen Barriere versteckt haben. So wie sich selbst, denn sonst hätte Bellis sie weitaus leichter und schneller gefunden. - Was zum..."
Plötzlich war ein dunkler Hubschrauber knapp über sie hinweggebraust und flog nun unmittelbar vor ihnen, nur ein paar Meter über der Straße. Eine irrsinnige Aktion, inmitten der ganzen Häuser. Ein überraschter Fahrer verlor bei dem unerwarteten Anblick die Kontrolle über seinen Wagen und schlitterte quer über die Straße. Sven konnte gerade noch einen Zusammenstoß verhindern. Gleichzeitig meldete sich Wildfires Telecom.
"Die Kavallerie", sagte sie knapp, nachdem sie abgehoben hatte. "Tostlaws Sicherheitsdienst."

Sven trat voll in die Bremsen und brachte den Wagen am Straßenrand zum Stillstand, während der Hubschrauber mitten auf der Fahrbahn aufsetzte und die Seitentür aufglitt. Ohne auf die Anwohner und Passanten zu achten, die ungläubig das einmalige Schauspiel verfolgten, hasteten sie auf den Hubschrauber zu. Moonshadow sprang wie ein Schatten in das Innere. Sven hockte sich auf den Rand, um Wildfire beim Einstieg zu helfen. Die ehemalige Texas Rangerin war kaum eingestiegen, als der Pilot seine Maschine brutal nach oben zog. Kräftige Hände packten zu, hielten Sven fest und zogen Wildfire ins Innere. Durch den Lärm konnte er ihren schmerzerfüllten Aufschrei hören. Die Seitentür schnappte zu und jemand stülpte ihnen Kopfhörer über. Sofort wurde es ruhiger und Sven erkannte Moonshadows Stimme, die bereits dabei war, die Lage und die weitere Vorgehensweise knapp zu erläutern. Wie selbstverständlich hatte sie das Kommando übernommen. Schmeling, der nur durch eine Markierung auf seinem Vollvisierhelm erkennbar war, hörte aufmerksam zu.
Die Leute auf den schmalen Pritschen trugen die gleichen dunklen Körperpanzer, wie sie Sven letztens in ihrer Nachbarwohnung gesehen hatte. Doch diesmal waren sie nicht mit vergleichsweise harmlosen Tasterpistolen bewaffnet, sondern mit scharfen Maschinenpistolen. Tostlaw schien es mit der Rettung seiner Tochter todernst zu sein.
Jemand streckte Sven eine schusssichere Weste und ein Waffe entgegen. Doch er winkte ab und fischte sich stattdessen einen Schlagstock aus Fiberglas mit quer liegendem Griff aus einem Gürtel. Bei dem bevorstehenden Kampf würde er sich auf seine ki-Kräfte verlassen. Nur Wildfire ergriff die angebotene Automatik und überprüfte sie fachmännisch. Ihre noch nicht vollständig verheilten Verletzungen erlaubten es ihr nicht, in den Nahkampf zu gehen.
Plötzlich sackte der Hubschrauber einige Meter ab. Sven meinte fast, die Kufen durch das hohe Gras des ehemaligen Sportflugplatzes schneiden zu hören. Ein leichtes Flimmern legte sich überraschend um das Luftfahrzeug.
"Bellis", flüsterte Moonshadow mit einem grimmigen Lächeln. "Braves Mädchen."
Was auch immer der Naturgeist gemacht hatte, es nützte nicht gegen die Giftgeister, welche die Shamanen zu ihrem und dem Schutz ihres Rituals beschworen hatten. Plötzlich flammte unmittelbar vor ihnen eine hohe giftgrüne Flammenwand auf. Der Pilot riss die Nase des Hubschraubers so steil in die Höhe, dass Sven jeden Moment damit rechnete, den Heckrotor auf dem Boden aufschlagen zu hören. Doch mit einer fliegerischen Meisterleistung behielt er die Maschine in einem Stück und unter Kontrolle. Die Kufen hatten kaum die Erde berührt, als Schmelings Leute aus den aufschnappenden Seitentüren stürmten und ihre automatischen Waffen das Knattern des Hubschraubers übertönten. Die weltlichen Waffen mit ihren kleinen metallenen Geschossen waren zwar keine ernsthafte Bedrohung gegen die magischen Entitäten, doch sie würden sie eine Zeitlang beschäftigen. Und mehr wollte Moonshadow auch gar nicht erreichen.
Mit großen Schritten hastete die Magierin auf eine Gruppe von Leuten in schmutzigen und zerlumpten Kapuzenkutten zu, die sich um einen groben Klotz versammelt hatten. Sven hastete hinterher und erkannte recht schnell, dass der Klotz ein Altar aus Stein war, in den bedrohlich wirkende Zeichen und Symbole geschnitten worden waren. Zusätzlich erglühte er in einem ungesund grünlichen Licht und beleuchtete die Szenerie der mondlosen Nacht in einer beunruhigenden Art und Weise. Auf dem Stein lag ein Mädchen. Nackt, mit kahl rasiertem Schädel. Arme und Beine weit gespreizt und aufgespannt wie auf einer Streckbank waren ihre Hand- und Fußgelenke an den Ecken des Altares festgebunden. Wild zerrte sie an den Fesseln, jedoch vergebens.
"TARA!" schrie Moonshadow und in ihrer Hand loderte Feuer auf. Mit einer kraftvollen Bewegung schleuderte sie den Feuerball auf den Shamanen, der bedrohlich über dem hilflosen Mädchen aufragte.
Der Zauber, riss den Giftschamanen von den Füßen und schleuderte ihn weit zurück. Augenblicklich fingen die dreckigen Lumpen Feuer und der gezackte Opferdolch, gerade noch gefährlich über Taras Brust schwebend, fiel harmlos ins hohe Gras. Mehrere seiner Brüder hielten in ihrem nervenaufreibenden Singsang inne und blickten sich so ratlos um, als hätten sie von dem anfliegenden Hubschrauber, dem Kampf ihrer Geister mit den Sicherheitsleuten und Moonshadows und Svens Annäherung nicht das Geringste bemerkt. Erst jetzt fiel Sven das leichte Flimmern um sich und die Elfe auf.
"Danke, Bellis", flüsterte er ohne in seinem Lauf inne zu halten, trotzdem war er sich sicher, dass der Naturgeist ihn hörte. Seine magisch verstärken Bewegungen trugen ihn in den Kreis der Schamanen und er schmetterte den Schlagstock auf den Kopf des am nächsten Stehenden. Noch während dieser, steif wie ein Stück Holz umkippte, tauchte Sven unter dem ungeschickten Schwung eines blitzenden Dolches hindurch und rammte seine Faust in den nachgiebigen Bauch seines weiteren Giftschamanen. Nach Luft schnappend krümmte sich dieser nach vorne. Svens Knie schnellte in die Höhe, knallte in die dunkle Höhle der Kapuze und katapultierte das verdrehte Bewusstsein aus seiner fleischlichen Hülle.
Eine elektrische Entladung krachte laut und Flammen brüllten wütend auf. Sven erlaubte sich einen schnellen Blick zur Seite und konnte sehen, wie sich Moonshadow mit drei Shamanen gleichzeitig ein magisches Duell ohne jegliche Kompromisse lieferte. Schneeweiße Haare standen ihr in der geladene Luft vom Kopf ab und ihre Augen schienen zu glühen, als eine Feuerlanze aus ihren Fingern brach und sich unaufhaltsam in die Brust eines Kapuzenträgers bohrte. Um sie brauchte sich Sven bestimmt nicht zu sorgen. Daher wandte er sich seinem nächsten Gegner zu, der wild mit den Armen gestikulierend auf ihn zulief. Doch noch bevor er seinen Zauberspruch beendet hatte, geriet er ins Straucheln und stürzte lange ausgestreckt zu Boden. Sven brauchte ihn nur noch mit dem Schlagstock endgültig ruhig zu stellen. Er war sich sicher, dass auch hier Bellis ihre unsichtbaren Finger im Spiel hatte. Schließlich ging es um ihre Domäne, ihre Heimat, und sie würde sicherlich alles daran setzten, dass sie auch die ihre blieb.
Eine Salve aus Wildfires Maschinenpistole streckte einen Giftschamanen nieder, der erst jetzt aus seiner Trance hoch geschreckt war. Ein zweiter folgte ihm kurz danach.

Und dann war es plötzlich ruhig. Nur mehr die auslaufenden Turbinen ihres Hubschraubers und das Prasseln von mehreren kleinen Feuern im hohen Gras waren zu hören. Im gleichen Moment in dem die Giftshamanen ausgeschaltet waren, waren auch die Giftgeister nicht mehr an sie gebunden. Nunmehr frei hatten sie keinen Grund oder Lust, sich weiter mit den Sterblichen herumzuschlagen und waren augenblicklich in ihre Metaebenen zurückgekehrt. Sven konnte sehen, wie Schmelings Leute sich bemühten, eine Frau auszugraben. Nur mehr der Helm und ein Arm ragten aus dem aufgewühlten Boden in dem ein Geist sie gezogen hatte. Ein Mann kümmert sich um einen Kameraden, der Verätzungen am Arm davongetragen hatte. Aber scheinbar war niemand ernsthaft verletzt worden.
"Die sind ja gar nicht so tough, wenn sie überrascht sind", meinte Wildfire mit einem grimmigen Lächeln und hängte sich die Maschinenpistole über die Schultern. Ja, die Überraschung hatte hervorragend funktioniert. Dank der Hilfe des ansässigen Naturgeistes. Sven wollte sich nicht vorstellen, wie die Auseinandersetzung ausgegangen wäre, wäre ihre Annäherung nicht so gut getarnt gewesen.
"Nicht anfassen!" warnte Moonshadow und Wildfire zog sofort ihre Hand zurück. Misstrauisch musterte sie den steinernen Altar, der immer noch grünlichen glühte. Tara verdrehte sich verzagt den Hals, um sie anzusehen. Ihre dunklen Augen waren immer noch vor Angst geweitet, ihr Atem ging stoßweise. Sven lächelte sie beruhigend an, wagte aber nicht, näher heranzugehen. Die dunkle Elfe begann einen weiteren Zauberspruch und ging dabei leicht in die Knie. Ihre Hände fassten nach unten, wie um unter eine Sitzbank zu greifen. Dann richtete sie sich auf und hob die Arme, als würde sie die imaginäre Bank hoch in die Luft stemmen. Ein paar Meter vor ihr folgte Taras Körper der Bewegung und begann zu schweben, doch noch immer waren ihre Hand- und Fußgelenke an den Altar gefesselt. Und auch wenn die Stricke nur dünn waren, wollten sie nicht nachgeben. Taras Rücken bog sich schmerzhaft durch und sie zog scharf die Luft ein. Sven griff sich den gezackten Opferdolch, der dem Ritualleiter aus den Händen gerissen worden war. Eine brutale Klinge, die mörderische Wunden verursacht hätte. Mit einem schnellen Schnitt durchtrennte er die Stricke, die bei näherer Betrachtung an Menschenhaar (Taras Haare?) erinnerten. Von den Fesseln befreit machte Tara einen Satz in die Höhe, wurde aber sofort wieder von den magischen Banden aufgefangen. Rasch schwebte sie von dem Altar weg und sank schließlich in Moonshadows wartende Arme. Sie schluchzte verzweifelt und kuschelte sich haltsuchend an die dunkle Elfe, die das zitternde nackte Mädchen fest umfangen hielt. Sven meinte, eine Träne auch über die Wange der Frau laufen zu sehen.
Unerwartet stand Schmeling neben ihm und drückte ihm eine Decke in die Hand. "Für Miss Tostlaw", erklärte er leise. "Es ist wohl besser, wenn wir uns ein wenig zurückhalten. Sie hat gewisse Vorbehalte uns gegenüber." Sven nickte verstehend und der Leiter des Sicherheitsdienstes zog sich zu seinen Leuten zurück, welche die fest verschnürten und vermummten Giftschamanen in den Hubschrauber verluden. Dabei warf er besorgte Blicke in Taras Richtung. Sven brachte die Decke zu den beiden Frauen. Moonshadow sah ihn dankbar an und hüllte die immer noch haltlos schluchzende Tara fest ein.
Was mochte sie wohl erlebt haben in den letzten Tagen, fragte sich Sven. Wie würde er empfinden, wenn er auf so einem Opferaltar liegen würde, den eigenen grausamen Tod so unmittelbar vor Augen? Er schüttelt sich bei der bloßen Vorstellung.
Wildfire berührte ihn leicht an der Schulter und lenkte seine Aufmerksamkeit auf eine einsame Gestalt in einem blumigen Rock und ärmellosem Pullover. Wo sie mit ihren bloßen Füßen durch das hohe Gras schritt, erloschen die letzten Flammen und geknickte Pflanzen begannen, sich langsam aufzurichten. Traurig musterte Bellis die verkohlten Flächen, das zertrampelte Gras, die aufgewühlte Erde und die Blutlachen.
Wildfire und Sven gingen ihr entgegen. Vor der Halbindianerin machte sie wieder ihren Knicks. Trotz der Traurigkeit über die Verwüstungen leuchteten ihre grasgrünen Augen hell. "Ich danke dir. Ich wusste, dass du meine Heimat und mich beschützen würdest."
"Es tut mir leid, dass wir nicht schneller waren und deine Heimat so in Mitleidenschaft gezogen wurde", meinte Wildfire, der die restlose Bewunderung ein wenig peinlich war. Doch Bellis lächelte nur. "Die Wunden werden heilen", versicherte sie. "Auch wenn es vielleicht etwas dauern wird. Aber sie werden genauso verschwinden, wie die kalten Spuren der Menschen." Dabei warf sie einen Blick zu den Ruinen der Kontrollgebäude und den brüchigen Überresten der Startbahn. Wenn der Naturgeist bei der Beseitigung der Brandflächen genauso fleißig war, wie er den Verfall des Betons beschleunigte, dann würde schon bald keine Spur mehr von den Geschehnissen dieser Nacht zu sehen sein.
"Und es ist schön, dass damit auch deine vorrangige Aufgabe ein glückliches Ende genommen hat. Deine Freundin wird sich von den letzten Tagen sicherlich schnell erholen."
"Ja. Ein sehr glücklicher Zufall."
"Zufall?" fragte Bellis und schüttelte dann den Kopf. "Nein, kein Zufall. Die bösen Menschen hatten meine Heimat schon länger beobachtet, um eine Möglichkeit zu finden, sie mir wegzunehmen. Als sie deine Freundin mit der großen Erwachten hier sahen, erkannten sie sofort, dass sie ideal für ihr Vorhaben war. Denn nur eine Unberührte konnte dem Ritual eine ausreichend große Macht verleihen."
"Unberührte?" fragte Sven ungläubig. Er konnte sich nur sehr schwer vorstellen, dass das Straßenmädchen noch eine Jungfrau war. Andererseits hatte sie sie schon mehr als einmal überrascht.
"Sie meint damit Taras genetische Unverträglichkeit gegenüber Cyberware", erklärte Moonshadow, als hätte sie Svens Gedanken erraten. Sie war unbemerkt näher getreten. Aufgerichtet und mit gefasstem Gesicht war sie nun wieder die reservierte und geheimnisvolle Magierin. Neben ihr stand, fest in die Decke eingehüllt, Tara. Trotz des kahl rasierten Schädels und der Tränenspuren im Gesicht, willensstark und nicht weniger trotzig, wie sie sie kennen gelernt hatten. "Dieser Unverträglichkeit verdankt sie es, dass ihre Essenz noch rein und unberührt ist. Außerdem hatte ich ein wenig nachgeholfen. Dass die sexuelle Jungfräulichkeit in der Magie so wichtig sei, ist nur ein dummes Ammenmärchen."
Ein wenig eingeschüchtert trat Bellis einen Schritt von Moonshadow weg. Fast schien es so, als versuche sie abermals, sich hinter Wildfire zu verstecken. Sven war sich über das Verhältnis zwischen der Magierin und dem Naturgeist nicht im Klaren. Als ki-Adept, dessen magische Fähigkeiten sich rein auf die körperlichen Aspekte beschränkten, hatte er keinen Einblick in diese Bereiche der Magie.
"Es gibt da nur noch ein großes Problem", meinte Bellis zaghaft und sah zu dem Steinaltar, der immer noch in seinem grünlichen Licht glühte.
"Er muss zerstört werden", nickte Moonshadow bekräftigend.
"Machst du das?" fragte Wildfire.
"Ich bin zu erschöpft, um seinen machtvollen Zauber zu brechen", gab die dunkle Elfe bedauernd zu. "Und du wohl auch", ergänzte sie mit einem Blick auf Bellis. Der Geist nickte zögernd.
"Schön, wenn man einmal sieht, dass auch Magie ihre Grenzen hat", sagte Wildfire mit einem vergnügen Grinsen und humpelte zu dem Hubschrauber. Kurz darauf kam sie mit einem Gurt zurück, an dem mehrere eiförmige Gegenstände baumelten.
"Sprengstoff hatten sie zwar keinen dabei, aber dafür ein paar spezielle Handgranaten mit verbesserter Druckwirkung."
"Das sollte reichen", meinte Moonshadow und wirkte einen einfachen Zauber. Dann nahm sie eine Granate nach der anderen vom Gürtel, zog die Sicherungsstifte heraus und platzierte sie in der Luft vor ihr, wo sie ruhig schweben blieben. Als die Magierin fertig war, glitten die Handgranaten gemächlich über den Altar und stapelten sich zu einer Säule auf.
"Hier." Damit reichte sie die letzte Granate an Tara, die sie mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck entgegen nahm. Dann blickte sie zu dem Stein und in ihren Augen loderte es plötzlich wild auf. Mit einem Ruck riss sie den Sicherungsstift heraus und warf die Sprengwaffe in die flache Mulde, in der sie vor kurzem noch gelegen hatte und die ihr Blut aufgefangen hätte. Das tödliche Ei sprang einmal auf und verschwand in dem senkrechten Loch inmitten der Mulde durch das das verhexte Blut hinab in den Boden geronnen wäre. Gleichzeitig sprangen die Sicherungsgriffe von den übrigen Granaten ab und wie an einer Perlenkette hängend, folgten sie der ersten.
Ein lautes Knallen zerriss die nächtliche Stille und abgesehen von Moonshadow duckten sich alle unwillkürlich. Bellis schrie gepeinigt auf, als die Erde unter ihren Füßen erzitterte. Als sich ihre Augen nach dem grellen Blitz wieder an das Dunkel gewöhnt hatten und der aufgeworfene Staub sich senkte, sahen sie den Steinaltar immer noch an seiner Stelle stehen. Doch das grünliche Glühen war verschwunden. Stattdessen war ein feiner Riss quer durch den ganzen Stein zu erkennen. Der Zauber, der ihm inne gewohnt hatte, war gebrochen.
"Schmelings Leute werden die Überreste morgen früh abtransportieren", versprach Wildfire. Bei dem Namen verzog Tara das Gesicht, doch Bellis strahlte sie überglücklich an.

Noch bevor sie sich weiter äußern konnten, erklang Rotorenlärm in der Ferne. Ein Hubschrauber, der genauso aussah, wie der, mit dem sie gekommen waren, näherte sich dem alten Sportflugplatz mit hoher Geschwindigkeit. Die Kufen hatten kaum aufgesetzt, als auch schon die Tür aufgestoßen wurde. Sven hätte Boris Michail Tostlaw solch eine Schrittgeschwindigkeit gar nicht zugetraut. Doch je näher der stämmige Konzernexec ihnen kam, umso langsamer und zögerlicher wurde er. Schließlich blieb er ein paar Meter vor ihnen stehen. Aber er hatte nur Augen für Tara. Vater und Tochter musterten sich mit undefinierbarem Gesichtsausdruck.
"Nadinka, ich ..."
"Kannst du dich nicht endlich aus meinem Leben heraus halten!?" Taras heftiger Ausbruch überraschte alle. Vielleicht abgesehen von Tostlaw, der die Lippen in stillem Kummer aufeinander presste.
Das Mädchen drehte sich rasch um und rannte schnell davon. Die Decke fest um sich gerafft und den kahlen Kopf tief zwischen die Schultern gezogen. Moonshadow folgte ihr irritiert nach einer Schrecksekunde.
"Tut mir leid, dass es so gekommen ist", meinte Sven zu dem geknickt wirkenden Mann. "So haben Sie sich das Wiedersehen sicherlich nicht vorgestellt."
"Ehrlich gesagt, hatte ich es mir schlimmer vorgestellt", gestand dieser offen. "Aber zumindest hat sie mich nicht einfach ignoriert. So wie früher." Er seufzte leise, dann straffte er sich und war wieder der beherrschte Konzernexec. Er hielt Sven ein kleines Chipetui hin.
"Wir haben doch gesagt, dass wir dafür kein Geld von Ihnen annehmen", sagte Sven mit einem ärgerlichen Unterton, doch Tostlaw winkte ab.
"Das ist kein Geld, sondern ein Polizeibericht über einen Einsatz gegen die Veranstaltung unerlaubter Wettkämpfe und der Erstellung illegaler Simsinn-Aufnahmen im Distrikt Puyallup des Seattler Metroplex vor ein paar Monaten. Er ist zwar frühzeitig abgebrochen worden, unvollständig und mit Sicherheit sind viele der angegebenen Personaldaten gefälscht, aber ich denke, Sie werden ihn trotzdem als überaus informativ einstufen."
Svens Mund wurde mit einem Schlag trocken. Dort auf dem Chip waren womöglich die Informationen, nach denen er, Wildfire und Moonshadow die ganzen letzten Monate gesucht hatten. Die Identität ihrer Entführer. Oder zumindest Hinweise darauf. Auf jeden Fall einen heiße Spur. Und die Chance auf Vergeltung.
Sven ergriff das Chipetui und schloss seine leicht zitternden Finger fest darum.

Wird fortgesetzt...


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