STORIES


IM BANN DER SOL

von Werner M. Höbart



Ein greller Lichtblitz ließ die automatische Blende ihres Helms hochfahren, dennoch schloss Raya Bel Tarek für einen Moment auch die Augen. Zugleich kam aus ihrem trockenen Mund blitzschnell der Befehl zu Aktivierung des Schutzschirms, der sie in ihrem SERUN auch vor mittlerem Thermoblasterfeuer ausreichend schützte.
"Ist dieser irre Daan schon wieder an eine Waffe gekommen?" erkundigte sich die Sternennomadin heiser über Standardfunk, während sie mit ihren Gravo-Paks im Zickzackflug durch das Vakuum des freien Weltraums jagte, um nicht von einem Zufallstreffer des wild um sich ballernden Daan erwischt zu werden. Die vielen Wrackteile des Raumschiffriedhofes gaben ihr einigermaßen Deckung vor dem unkontrollierten Feuer aus der Waffe des angetrunkenen Springers. Nicht zum ersten Mal hatte dieser jede Selbstkontrolle verloren.
"Hier Tyr'klüt, ich versuche es mit einem breitgefächerten Paralysestrahl!"
Die schrillen Worte aus ihrem Helmlautsprecher zauberten ein Lächeln ins Gesicht der Sternennomadin terranischer Herkunft - auf die junge Bluesfrau an Bord war eben immer Verlass. Solange Raya ihre Partnerin Tyr'klüt in der Zentrale des gemeinsam erworbenen Einsatzraumschiffes wusste, hatte sie in kitzligen Situationen wie dieser stets eine gute Rückendeckung.
Nur bei der Wahl ihres anderen Partners hatte Raya leider ein weniger glückliches Händchen gehabt. Daan, der rotbärtige Abkömmling der Galaktischen Händler der Milchstraße, trank hochprozentigen Fusel, wie Babys Muttermilch. Sogar bei seiner eigenen Sippe war er wegen seiner Unzuverlässigkeit in Ungnade gefallen, obwohl er als Techniker allseits große Anerkennung fand.
Mit rasendem Puls hing sie nun an einem der vielen abgerissenen Versorgungskabel eines in mindestens drei Teile zerborstenen Walzenraumers. Nur langsam und vorsichtig wagte sich Raya schließlich wieder hinter ihrer Deckung hervor und schwebte am losen Kabel entlang nach oben. Daan, der ebenfalls in einem SERUN steckte, hatte aufgehört hatte zu feuern.
"Er ist jetzt ruhig gestellt", meldete sich Tyr'klüt von Bord der TRAUMFÄNGER, einem hufeisenförmigen Schiff modernster Bauart, mit dem die drei Abenteurer aus der Milchstraße nun schon seit Monaten einem alten Mythos in Andromeda nach jagten. Die Frustration des Springers war somit auch verständlich. Schließlich befanden sie sich hier fern ab der Heimat, einem vagen Traum auf der Spur...
Regungslos hing der hünenhafte Körper des Springers im Traktorstrahl der TRAUMFÄNGER. Geschützt in seinen Anzug, konnte ihm nichts passieren. Aber um seine körperliche Verfassung machte sich Raya auch die wenigsten Sorgen. Vor allem sein Geisteszustand unterlag einem rapiden Verfallsprozess, woran die Sauferei ganz bestimmt nicht unschuldig war.
Ohne jede Eile folgte die Terranerin mit dem Gravo-Antrieb ihres Anzuges dem paralysierten Körper im Kraftfeld. Wie immer arbeitete Tyr'klüt perfekt und bugsierte den rotbärtigen Trunkenbold mit dem Zugstrahl in die Einstiegsschleuse des Schiffes. Keiner konnte mit den Instrumenten und Steuerungen der TRAUMFÄNGER so gut umgehen wie die Bluesfrau. Das musste Raya ihr neidlos zugestehen, obwohl sie selbst auch zu den besten in dieser Branche zählte.
"Für heute habe ich genug", gab Raya noch über Helmfunk durch, dann nahm sie den Helm ab, kaum dass sich die Schleuse geschlossen und mit Luft gefüllt hatte. Einige Stunden anstrengender Suche nach Hinweisen zwischen den im All treibenden Wrackteilen dieses Raumschiffsfriedhofes hinter sich, blieb die Sternennomadin einfach noch einen Augenblick nachdenklich neben dem betrunkenen Daan in der Schleuse hocken. Ihr trauriger Blick wanderte über die vom Alkohol aufgedunsenen Gesichtszüge. Wie lange sollte sie sich das noch antun? Hatte die ganze Sucherei überhaupt noch einen Sinn? Nach all den Monaten voller Enttäuschungen...

*


Jede Nacht der selbe Traum. Kaum genoss Raya die vom Bordsyntron zugeteilte Ruhephase in ihrer Schlafkoje, da erlebte sie in ihren Träumen immer wieder jenen glückseligen Moment, als sie auf ADAMA III den sternförmigen Memokristall gefunden hatte. Zusammen mit Daan und Tyr'klüt, die ebenfalls hinter der selben Sache herjagten: der Unsterblichkeit.
Und die Gerüchte hatten sich bewahrheitet, am Ende einer mühseligen Schnitzeljagd auf den Spuren alter Legenden und Gerüchten fand sich in den Katakomben von ADAMA III der Memokristall mit den Koordinaten jenes Ortes, an dem der Mythos von der Unsterblichkeit wahr werden würde. Ein Traum, den die drei Weltraumvagabunden miteinander teilten, weshalb sie auch gemeinsam zu diesem Abenteuer aufgebrochen waren. Ganz allein in der gewaltigsten Galaxis der lokalen Gruppe, auf der Suche nach dem uraltem Traum aller intelligenten Zivilisationen - ewiges Leben ohne zu altern.
Und welcher Name hätte daher besser zum Raumschiff für diese Mission gepasst als TRAUMFÄNGER? Alle drei waren bereit gewesen, das Risiko einzugehen und nach einem gemeinsamen Traum zu greifen.

Heulende Alarmsirenen weckten die Sternennomadin. Es musste etwas Gravierendes passiert sein, sonst würden nicht die akustischen und optischen Alarmmelder überall verrückt spielen. Auf dem Weg in die Zentrale bemerkte Raya Bel Tarek mit ihrem feinen Gespür sehr genau die kurzzeitigen Aussetzer der Andruckabsorber. Die TRAUMFÄNGER musste gerade gewaltigen Kräften ausgesetzt sein, anders konnte sie sich die Phänomene nicht erklären. In der Zentrale angekommen, sah sie dann auch ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt.
Am Boden der Zentrale lag niedergeschlagen oder paralysiert Tyr'klüt, doch blieb keine Zeit, um sich der offensichtlich bewusstlosen Blue anzunehmen. Denn irgendwie musste der von Raya persönlich weggeschlossene Daan die Sicherheitssperren seines Raumes überwunden haben und saß nun verrückt kreischend im Pilotensessel der TRAUMFÄNGER.
"Du schnallst dich besser an, gleich macht es Rums!" gab Daan lachend von sich, als er Raya bemerkte, die bereits ihren Paralysator im Anschlag hielt. Da sich das Schiff im direkten Sturzflug auf jenen Planeten befand, in dessen Orbit sich die ausrangierten Raumschiffwracks befanden, musste die Terranerin schnell handeln, um nicht die TRAUMFÄNGER zum Neuzugang dieses Raumschiffriedhofes zu machen. Sie hatten die Unsterblichkeit gesucht, möglicherweise aber den Tod gefunden...

*


Als die Terranerin mit starken Kopfschmerzen erwachte, befand sie sich nicht mehr an Bord der TRAUMFÄNGER. Sie spürte Sonnenstrahlen auf ihrem Körper und hörte leise Wellenbewegungen, als würde sie gerade ihren Urlaub auf Neu-Venus verbringen. Schnell kehrten trotz des Brummschädels die Erinnerungen zurück - schreckliche Bilder dämmerten durch die bleierne Schwere, die über ihrem Denken lastete.
"Tyr'klüt? Daan?" rief sie verzweifelt, noch bevor ihre brennenden Augen ein verschwommenes Bild der Umwelt zeigten. Jeder Knochen ihres geschundenen Körpers tat weh, bestimmt waren einige ziemlich stark geprellt, vielleicht sogar gebrochen.
"Es tut mir leid, aber deine Begleiter sind tot", kam ohne jede Emotion eine unerwartete Antwort. Trotz der Schmerzen ruckte Raya hoch und erblickte hinter sich einen Roboter mit annähernd humanoiden Körperformen. Bestimmt einen Kopf größer als die Sternennomadin und nicht nur wegen der schweren Waffe in den stählernen Armen sehr gefährlich wirkend.
"Wer bist du? Hast du mich gerettet?"
Ohne verbal zu antworten, wies er stumm mit einem Arm in jene Richtung, aus der sie schon zuvor den Wellengang des Meeres vernommen hatte. Und erst jetzt sah die Terranerin in der Bucht die abgestürzte TRAUMFÄNGER. Die beiden offenen Enden des Hufeisenschiffes ragten schräg über die Wasseroberfläche hinaus. Es wirkte, als recke sich ein wütender Krebs mit seinen Scherenarmen anklagend gen Himmel.
"Sind meine Freunde wirklich nicht mehr am Leben?" klagte die fassungslose Raya Bel Tarek und hinkte mühsam zum Strand. "Es sind zwei organische Lebewesen wie ich!"
"Sie wurden geborgen und untersucht. Du kannst mir glauben, ich kenne alle Zustandsformen von euch Organischen. Die beiden konnten nicht mehr, wie du, belebt werden. Deshalb habe ich ihre Körper neutralisiert."
Wieder wies der blauschwarz metallen im Sonnenlicht glänzende Roboterarm in eine bestimmte Richtung. Und es brauchte nicht viel an Vorstellungskraft, um die Spuren im Sand richtig zu deuten. Jetzt wurde klar, wozu der Roboter seine schwere Waffe unter anderem brauchte.
Einem Häuflein Elend gleich hockte die Sternennomadin in ihrer silberfarbenen Bordkombination auf einem kalten Stein am Strand eines Meeres eines unbekannten Planeten in Andromeda. In den steigenden Wellen der Flut versanken nicht nur die gemeinsamen Ersparnisse der drei Abenteurer in Gestalt ihres Schiffes. Den Kopf auf ihre Arme gestützt starrte die geschockte Terranerin auf die letzten sichtbaren Spuren ihrer Gefährten. Nur noch verbrannte Abdrücke im Sand erinnerten an die beiden.
Es lag ein unglaublicher Hohn in diesem Schicksal, denn an den Koordinaten diese Planeten hatte der Memokristall ihnen den Erhalt der relativen Unsterblichkeit verheißen, doch stattdessen...
"Es ist soweit, Auserwählte!"
"Was?" schreckte Raya aus ihren düsteren Gedanken hoch.
"Wir haben dich erwartet, Auserwählte", verkündete die blechern klingende Stimme des Roboters, "der Kristall der Vorsehung hat dich hierher geführt, nun ist die Erfüllung deines Schicksals nah!"
Perplex sah sie nach oben, als sich plötzlich die Sonne verdunkelte und ihr kalte Schauer über den Rücken liefen. Sofort wurde ihr bewusst, dass der Memokristall von ADAMA III wohl doch keine Fälschung gewesen war. Aus dem unbewölkten Himmel sank ein titanisches Gebilde herab. Zwei riesige Kugeln mit einem Zylinderstück verbunden zu einem eindrucksvollen, mächtigen Raumschiff, von dem ebenfalls viele alte Legenden kündeten: die SOL.
"Das kann doch nicht wahr sein? Bin ich seit dem Unfall vielleicht im Koma oder in einem Wahn gefangen?" Fieberhaft überlegte die Sternennomadin aus der Milchstraße, welche Erklärungen es noch geben konnte. Aber über ihr schwebte eindeutig ein hantelförmiges Raumschiff von mindestens drei Kilometern Länge. Schon als Kind hatte sie dieses Bildnis in den historischen Holo-Dateien mit Ehrfurcht bestaunt - die SOL! Nach der BASIS das zweitgrößte Raumschiff, das ihr Volk jemals in seiner langen Geschichte erbaut hatte.
"Du brauchst nicht verwirrt zu sein, Auserwählte, dieses Schiff ist hier, um dir für deine Mission als Raumfahrzeug zu dienen!"
"Mir bei einer Mission dienen?"
"Ja, du bist von ES auserwählt worden", erwähnte der Roboter ganz nebenbei, während er seinen menschlichen Gast sanft in ein vom Hantelschiff kommendes Antigravfeld bugsierte, "denn du sollst als eine Gesandte der Superintelligenz fungieren."
Ungläubig schüttelte die Terranerin ihren Kopf so heftig, dass ihre langen schwarzen Haare wild um ihren Kopf tanzten. Zwar langsam, aber durch die künstliche Schwerelosigkeit der Antigravröhre in verschiedene Richtungen. Vom Roboter gehalten schwebte sie sicher in die SOL ein.
Hätte sie nicht diese höllischen Schmerzen in allen Gliedern und Knochen gefühlt, wäre die Möglichkeit eines Traumes nahe gelegen, doch dies konnte nur die Realität sein, das stand für Raya Bel Tarek mit absoluter Sicherheit fest. Sie verstand nun all die Prüfungen, die ihr in der Vergangenheit abverlangt worden waren. Ihr Schicksal lag nun klar vor ihr - als auserwählte Gesandte von ES.

*


Mit großer Ehrfurcht betrachtete sie die Lichtgestalt, die in der Zentrale der SOL an der Decke schwebte. Ob es ein Bote von ES war, oder eine Manifestation der Superintelligenz selbst, konnte man wohl nicht mit Gewissheit sagen. Laut den alten Geschichtsaufzeichnungen sollte die kosmische Macht ja einen sehr skurrilen Sinn für Humor besitzen und somit musste man sicherlich auf einiges gefasst sein.
"Du brauchst dich nicht zu fürchten", kam eine verzerrte Stimme aus dem Energiewesen, als das sich ES an Bord der SOL zeigte. "Wie durch meine Nachricht im Kristall versprochen, erhältst du von mir die relative Unsterblichkeit!"
In der Zentrale und höchstwahrscheinlich in der ganzen gigantischen SOL gab es unzählige dieser Roboter, gleich jenem, der sie auf dem Planeten aufgelesen hatte. Einer dieser Metallenen brachte ein eiförmiges Gerät an einer Kette. Die Augen der Terranerin begannen zu leuchten. Das musste einer der alten Zellaktivatoren sein, die ES sie schon vor sehr langer Zeit ausgestreut hatte. Also existierten doch noch welche! Aber bestimmt hatte eine Macht wie ES andererseits auch keine Probleme, neue Aktivatoren zu besorgen.
Als der Roboter ihr die Kette um den Hals legte und der Aktivator nahe ihrem Herzen baumelte, da fühlte sie bereits die belebende Kraft, die von diesem Gerät ausging. Ihr Lebenstraum war in Erfüllung gegangen, sie hatte die Unsterblichkeit erlangt. Und noch mehr, sie durfte für die Superintelligenz ES im Sinne der gesamten Menschheit wirken. So wurde ihr ab nun unsterbliches Leben auch noch mit einem tiefen Sinn erfüllt - eine herrliche Fügung! Die Sternennomadin erlebte den glücklichsten Tag ihres Lebens!

*


"Ist das hier das Zielsystem?"
Die Roboter bestätigten die Annahme der Auserwählten, die die Ortungsergebnisse auf den Schirmen in der SOL-Zentrale analysierte. Der erste Auftrag von ES betraf ein Planetensystem mit drei Welten, die einen blauen Stern umkreisten.
"Wir fliegen zum Planeten Nummer drei!" Mittlerweile liebte es die Terranerin, dem Roboterheer und der SOL zu befehlen. Zwar wirkten die stählernen Gestalten allesamt wenig kommunikativ, doch mangels organischer Lebewesen blieb nur die Ansprache an diese künstlichen Geschöpfe. Und diese waren schließlich Diener von ES und bestimmt recht intelligent. Anders konnte Raya es sich gar nicht vorstellen. Genüsslich streichelte sie beim Gedanken an ES ihren Zellaktivator, der ab nun immer an der unzerreißbaren Kette nahe ihrem Herzen baumelte.
Nur noch selten dachte Raya an Tyr'klüt und Daan. Zwei Opfer im kosmischen Spiel, doch so musste es eben sein. Nur durch die Hilfe der beiden war sie als Auserwählte an den richtigen Treffpunkt mit ES gelangt. Es war wohl Bestimmung!
Aber von diesen traurigen Begleiterscheinungen abgesehen, hätte ihr Leben keine schönere Wendung nehmen können. Wenn ein gottgleiches Wesen wie ES sich dafür entschied, eine vergleichsweise primitive Rasse, wie die Menschen, mit Aufträgen zu betrauen, dann wählte sie dafür bestimmt nur die besten Exemplare aus. Leute wie Perry Rhodan; und nun sie, Raya Bel Tarek, die Sternennomadin. Jetzt sah sie so vieles in einem klareren Licht. Ihre mühseligen Reisen, auf denen sie trotz größten Einsatzes immer nur Pech erleben musste. Aber nur so hatte sie vom Leben gelernt, um nun als Gesandte von ES ihre Aufträge erfüllen zu können. All diese Wirrungen konnte Raya nun einordnen - es war ihr kosmisches Schicksal!
Die SOL tauchte in die Atmosphäre des Zielplaneten mit dem schönen Namen Ennui ein und landete an dem von ES genannten Ort. Die Terranerin konnte es gar nicht mehr erwarten, bis sie die Superintelligenz wieder sehen würde, doch seit ihrer Instruktion blieb die Lichtgestalt leider verschwunden. Aber wenn Raya erst diesen Auftrag zur Zufriedenheit der Superintelligenz erledigt haben würde, dann kam die Manifestation von ES bestimmt zurück.
"Eine Gruppe von zehn Robotern begleitet mich!" befahl die Sternennomadin nun schon im angewöhnten Befehlston. In Begleitung ihrer Schutztruppe ließ sie sich per Transmitter in einen der äußeren Hangars der SOL abstrahlen und bestieg dort eine große Schwebeplattform. Eingehüllt in einen Schutzschirm verließ die Plattform das Hantelschiff und nahm Kurs auf die Oberfläche. Probleme waren laut den Instruktion von ES bei diesem ersten Probeauftrag nicht zu erwarten. Sie sollte nur eine wichtige Anlage auf diesem Planeten reaktivieren, mehr nicht.
Bewundernd betrachtete die Terranerin die herausragende Architektur der Städte auf Ennui. Teilweise erinnerten die in den Himmel ragenden Gebäude an die Trichterbauten der arkonidischen Kultur. Nur saßen auf den Säulen hier kugelförmige Aufbauten.
"Wo sind eigentlich die Ennuiau, die Bewohner des Planeten, von denen ES erzählt hat? Nirgendwo sind hier Einwohner zu sehen!"
"Deshalb bist du ja hier", antwortete einer ihrer stählernen Begleiter kryptisch, "wir sind am Versorgungskern angelangt, deine Mission kann beginnen!" Wie ihr von ES und nun von den Robotern geheißen, verließ Raya die sanft gelandete Transportplattform und ging schnurstracks in die vor ihr liegende Kathedrale des Versorgungs-Kerns, dem Lebensnerv und Energiezentrum des Planeten Ennui.
"Begib dich in den Sensorraum, dort wird dein persönliches Individualmuster aufgenommen und der Sensorkern registriert dich mit einem Ennuiau-Status als Bewohnerin des Planeten!"
"Ist dann mein Auftrag erfüllt? Klingt ja sehr einfach!"

*


Ein sehr schöne Stadt. Nur seltsam, dass sich keine Einwohner blicken ließen. Ohne Roboterbegleitung schlenderte Raya zwischen zwei Säulenbauten mit dicken Wohnkugeln durch, das herrliche Wetter genießend. Laut der Auskunft der Roboter würde ES sich melden, sobald wieder eine Mission für sie als Gesandte der Superintelligenz anstand.
"Hallo", hörte die Sternennomadin plötzlich jemand in Interkosmo rufen, "bist du ein Neuzugang?"
Verwundert wandte Raya sich um und staunte nicht schlecht. Aus dem Schatten eines Kuppelbaues traten ein Ertruser und eine Arkonidin. Die helle Stimme gehörte zur freundlich wirkenden arkonidischen Frau, die sich sogleich als Systra vorstellte. Der Ertruser redete eher wenig, folgte aber der sich entwickelnden Unterhaltung interessiert.
"Wo sind denn die eigentlichen Einwohner, die Ennuiau", wollte Raya von den beiden schließlich wissen. Ein zufälliges Treffen mit Leuten aus der Heimatgalaxis, hier auf einem von der Milchstraße so weit entfernten Planeten, auf dem sie eine Mission für ES zu erledigen gedachte? Alles sehr seltsam.
"Hast du es immer noch nicht geschnallt, du Blitzmerkerin? Die Ennuiau sind schon seit Generationen ausgestorben! Deshalb siedeln uns die Roboter auch hier an, damit auf Ennui alles weiter läuft!"
Dem ihr von der Superintelligenz verliehenen Titel angemessen, antwortete Raya Bel Tarek gelassen auf die anzügliche Frage des Ertrusers: "Ich bin eine Gesandte der Superintelligenz ES und mit einem Auftrag von höchster Bedeutung hier!"
"Wieder eine, die bis zum Schluss den Schwindel nicht kapiert hat", meinte nun auch die Arkonidin seltsam geringschätzig, "die Roboter werden eben mit der Zeit wohl immer besser mit ihrer Schmierenkomödie."
Die Terranerin rang um Luft. Wollten die beiden sie einfach nicht ernst nehmen. Sie als Unsterbliche und Gesandte kosmischer Mächte! Da sah sie zu ihrem Entsetzen, dass auch die beiden Galaktiker jeweils einen Zellaktivator trugen.
"Du stierst auf unsere ZAs, sicherlich wunderst du dich, warum wir diese Fälschungen nicht abnehmen, aber wir tragen sie alle noch als eine Art Symbol. Damit wir nie vergessen, wie man uns an der Nase herumgeführt hat!"
Erst ganz langsam dämmerte es bei der Terranerin. Man hatte nicht nur sie, sondern scheinbar eine ganze Reihe von Galaktikern aus der Milchstraße mit dem Traum von der Unsterblichkeit geködert und mit falschen Spuren und Attrappen auf diesen Planeten gelockt.
"Das gibt es doch nicht - und die SOL?"
"Als Terranerin müßtest du eigentlich viel früher als wir bemerkt haben, dass das nicht die echte SOL ist. Dieser Nachbau ist nicht nur viel kleiner, sondern auch in so einigen Details abweichend vom Original."
Nun fiel es der Sternennomadin wie Schuppen von den Augen, natürlich waren ihr so manche Unstimmigkeiten aufgefallen. Doch für alles hatte sie Erklärungen gefunden, motiviert aus ihrer Gier nach Unsterblichkeit heraus. Und die SOL hätte im Dienst der Superintelligenz ja auch umgebaut werden können. Lange genug war die SOL schon Legende beziehungsweise terranische Geschichte.
Vor Zorn biss sich Raya auf die Unterlippe und verfluchte innerlich ihre unglaubliche Naivität. Wie hatte ihr nur so etwas passieren können? Eine holographische Lichtgestalt als Manifestation einer Superintelligenz zu akzeptieren, verdammt! Und sich auch noch die belebende Wirkung einer Zellaktivatorattrappe einzubilden. Bei einer Betrachtung aller Zusammenhänge konnte sich die Terranerin nun nur noch selbst sehr über ihre Leichtgläubigkeit wundern.
"Mach dir nichts daraus, wir alle sind mehr oder weniger heftig auf das Theater der Roboter hereingefallen - sonst wären wir nicht hier!"
"Warum haben sich die Roboter solche Mühe gemacht, diese alten Mythen der Milchstraße auferstehen zu lassen, um uns hier her zu locken?" Für die völlig fassungslose Raya brach eine Welt zusammen und am liebsten hätte sie auf den muskulösen Ertruser einfach drauf los gedroschen, weil er sich immer noch ein bisschen über ihre unverzeihliche Naivität amüsierte.
"Diese Roboterkultur wurde von den letzten noch lebenden Ennuiau zu ihrem Schutz geschaffen", erklärte die Arkonidin nun freundlich, "aber im Versorgungs-Kern von Ennui gibt es eine Vorrichtung, die der Roboterkultur die Energieversorgung abstellt, sobald der letzte Ennuiau gestorben wäre. Also holen die Roboter humanoide Wesen, die den Ennuiau ungefähr gleichen und lassen sie im Versorgungs-Kern als Eingeborene registrieren."
Jetzt verstand auch Raya die Täuschung in ihrem ganzen Umfang. Die scheinbare Mission im Versorgungs-Kern diente nur einem Zweck: auch sie wurde als Ersatz-Ennuiau registriert. Und solange ihre Individualmuster vom Versorgungs-Kern auf dem Planeten angemessen wurden, liefen die Anlagen für die sich selbständig gemachte Roboterkultur weiter. Unglaublich erfinderisch diese Roboter! Sie mussten die Bedürfnisse und Geschichten vieler Raumfahrer analysiert haben, um eine solche Strategie entwickeln zu können.
"Habt ihr nie an Flucht gedacht?"
Das Stirnrunzeln der Arkonidin sprach mehr als tausend Worte. Bestimmt hatte es schon eine ganze Reihe von Fluchtversuchen gegeben. Aber solange der Versorgungs-Kern des Planeten die Roboterkultur mit Nachschub und Energie belieferte, konnten diese anscheinend sehr kreativen Gesellen mit allen Fluchtversuchen spielend fertig werden.
"Vielleicht müssen wir alle nur zuvor einfach den Löffel abgeben, damit wir von hier wegkommen", überlegte Raya laut. Woraufhin die Arkonidin noch mehr die Stirn runzelte.
"Ihr Terraner wart mir noch nie geheuer..."

*


Es hatte einige Zeit gedauert, doch endlich war es geschafft. Mit sehr viel Mühe und Überzeugungsarbeit konnte Raya nach nur wenigen Wochen alle siebenundzwanzig Ersatz-Ennuiau für ihren riskanten Plan gewinnen. Unter den auf Ennui gefangenen Milchstraßenbewohnern befand sich glücklicherweise ein sehr begabter Jungmediziner aus dem Volk der Ara. Mit seiner Hilfe hatte die Sternennomadin eine Art von Krankenstation der ausgestorbenen Ennuiau für ihren großen Plan umfunktioniert. Es konnte losgehen.
Gerade der unbeugsame Willen der erfindungsreichen Terranerin hatte auch noch die letzten Zweifler überzeugt. Zwar gab es eigentlich keine Chance für die kleine Schar organischer Lebewesen gegen die abertausenden Roboter auf Ennui im Kampf zu bestehen, jedoch durfte man eines nie unterschätzen, menschliche Fantasie und Ideenreichtum.
"Muss das wirklich sein?" fragte der Ertruser, der als letzter auf seiner Liege an die vom Arawissenschaftler vorprogrammierten Gerätschaften angeschlossen wurde. Um ihm und einigen anderen noch die letzten Bedenken zu nehmen, setzte der Mediziner mit sanfter Stimme zu einer Erklärung an.
"Es kann nichts passieren, meine dreifach gesicherte Anordnung ist mit Notstrom versorgt, auch wenn der Ennui-Versorgungs-Kern alle Anlagen dieser Welt wie geplant abschaltet. Sogar die Roboter und Raumschiffe dürften noch einige Zeit weiter funktionieren, sie haben ja auch aufgeladene Energiezellen."
Man musste aber kein Telepath sein, um dem Ertruser und einigen anderen ihre Skepsis von der bleichen Nasenspitze ablesen zu können. Trotz ihrer Furcht vor diesem Experiment zwischen Leben und Tod, unterstützten sie alle den gewagten Plan. Sie hatten es satt, auf Ennui zu versauern und nie mehr ihre Freunde und Verwandten in der Heimat wieder zusehen.
"Dann los!" gab Raya das Kommando. Sie wusste zwar, dass sie damit den klinischen Tod aller intelligenten Lebewesen auf Ennui einleitete, aber das war es wert, um damit eine unumkehrbare Abschaltung des Versorgungs-Kerns zu bewirken. Von einer Sekunde auf die andere hörten die siebenundzwanzig Herzen der Galaktiker aus der Milchstraße auf zu schlagen.

Als die Terranerin wieder zu sich kam, wusste sie, das die automatischen Geräte zur Wiederbelebung funktioniert hatte. Nachdem alle Anwesenden für einige Sekunden aus dem Leben geschieden waren, kehrten die Lebensgeister wieder zurück.
"Wir leben ja wirklich noch", freute sich der bis zuletzt noch sehr skeptische Ertruser. Als wolle er seinen Augen nicht trauen, betastete er mit seinen Händen alle Gliedmaßen. Dann fühlte er seinen Herzschlag am Hals und sank beruhigt wieder auf die Liege zurück.
"Nein", beantwortete Raya die Frage, die eigentlich gar keine gewesen war, "wir leben wieder! Für einen kurzen Zeitraum waren wir alle klinisch tot!" Nicht auszudenken, wenn die automatische Wiederbelebung nicht funktioniert hätte, Raya schauderte plötzlich selbst vor ihrer eigenen Courage. Doch jetzt schien es geschafft, also wollte sie auch sehen, ob das Wagnis auch einen Sinn gehabt hatte.
Der erste Fußmarsch der Gruppe führte sie zum Versorgungs-Kern, doch schon die vielen regungslosen Roboter auf dem Weg dorthin sprachen für sich: ein Erfolg auf ganzer Linie! Wie metallene Skulpturen standen die Roboter in unterschiedlichen Posen einzeln oder in kleinen Gruppen. Einige hielten Instrumente und Werkzeug in den Händen, andere standen vor wichtigen Einrichtungen Wache - ab heute für die Ewigkeit.
"Scheinbar hat die Abschaltung des Versorgungskerns auch ein Signal an alle Roboter zur Selbstausschaltung bewirkt", vermutete der Ara, "also brauchen wir uns mit diesen Maschinen nicht mehr auseinandersetzen." Er ließ sich nicht anmerken, dass er selbst unglaublich überrascht war, wie positiv sich alles in ihrem Sinne entwickelte. Was wäre gewesen, wenn der künstliche Tod von nur wenigen Sekunden zu kurz für die vorprogrammierte Abchaltung des Kerns gedauert hätte?
Und jetzt trat sogar noch der günstigste Fall ein, die Roboter blieben passiv, keine Anzeichen für eine Racheaktion des Maschinenheeres. Der Weg in die Freiheit lag ohne weitere Hindernisse vor ihnen.
"Suchen wir uns ein Schiff und fliegen heim in die Milchstraße", schlug die Arkonidin Systra vor und mit einem Freudengeheul stimmten ihr alle zu. Die Anspannung der letzten Tage schien wie weggeblasen und eine ausgelassene Stimmung erfasste die bunte Truppe aus unterschiedlichen humanoiden Völkern.
Vielleicht waren auch die Ennuiau einst aus der Milchstraße gekommen, überlegte Raya bei sich, wahrscheinlich Nachkommen der Lemurer. Sehr schade, dass die Ennuiau ausgestorben waren. Trotzdem hatte Systra recht, auch in ihr gab es diesen Drang, möglichst schnell von hier weg zu kommen. Allein die geisterhaft dastehenden Robotstatuen an allen Ecken und Winkeln konnten einen ziemlich nervös machen.
"Je früher wir von hier abhauen können, umso besser!" stimmte Raya Bel Tarek aus ganzem Herzen zu. "Aber zunächst sind wir uns noch eine Geste der Befreiung schuldig!"
Sie streifte die Kette mit der Zellaktivatorattrappe über den Kopf und warf das Ding in weitem Bogen davon. Wortlos folgten ihr alle anderen und entledigten sich jenes Symbols, das sie bisher als mahnende Erinnerung an die große Täuschung am Leib getragen hatten.
Menschlicher Einfallsreichtum und Fantasie hatten über Legionen intelligenter Maschinenwesen gesiegt. Ein Gefühl von Stolz und sogar ein bisschen Zufriedenheit machte sich bei der Terranerin bemerkbar. Zwar hatte sie keine Unsterblichkeit errungen, doch wussten nun Raya und ihre neu gewonnenen Freunde etwas als oft viel zu selbstverständlich Genommenes sehr zu schätzen: Die Freiheit!

ENDE


Die vorliegende Geschichte wurde bereits im Jahr 2000 im Magazin SOL Nr. 17 veröffentlicht.


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