STORIES


CENI

Folge 2

von Fred H. Schütz



2.


"Herr," sagt Lili und macht ein Schnütchen, "Herr, du hast noch garnichts von Ceni erzählt!"
Niedlich, Lilis Schnütchen. Sie trägt heute ein flaches Käppi aus goldbesticktem rotem Samt, wie es im Orient oft getragen wird; wegen seiner Form nennt man es Pillendose. Darüber hat sie ihren Schleier drapiert und wegen des Schnütchens sieht sie in dieser Aufmachung aus wie ein Kind das zur Beichte geht. Ich muß lachen. "Wahrlich, Lili, du wirst noch soviel von Ceni hören daß es dir vielleicht zuviel wird! Soll ich beginnen?"
"Ja, Herr!" Eifrig setzt sie sich zurecht, schlägt die Beine unter und stützt das Kinn in die aufgefalteten Hände. Einen Meter über dem Fußboden ...
Abgesehen von der Rasenfläche auf der Frontseite des Schlosses, die vom Gärtner recht mühselig in Schuß gehalten wird, daß sie auch wirklich wie ein Rasen aussieht, gleicht der Schloßpark eher einer Wildnis. Hier hat seit Jahrzehnten keine stutzende Schere mehr eingegriffen und selbst die Wege gleichen mit der Machete in den Dschungel geschlagenen Pfaden. José, der alte Schloßgärtner, hatte ja noch Blumenbeete angelegt und sie liebevoll gepflegt, aber ihn hatte die Herrin des Hauses und mehr noch die ewig keifende Lola vergrault und der neue Gärtner kümmerte sich nur noch um den Rasen. So war der einst wunderschöne Rosengarten am Ostflügel des Schlosses so sehr verwildert und zu einer undurchdringlichen Hecke ausgeartet, daß er eher an Dornröschens Märchenschloß erinnerte, denn an einen Lustgarten. Zum Glück waren keine Kletterrosen darunter, sodaß die Fenster ihrer Sen?oría von einem Dornenkranz verschont blieben.
Auf der Rückseite des Schlosses ist der Park völlig verwildert. Hier bilden vormalige Rasenflächen grüngraue Matten alten Grases die mit zum Gestrüpp ausgearteten Sträuchern und verwitterten Bäumen zu einem Vegetationslabyrinth verkommen sind, wo sich keiner so leicht zurechtfindet - der ideale Ort für zwei Kinder zum Trapper- und Indianerspielen.
Ganz im Norden bildet der Park eine Bucht - quasi wie eine Landzunge die ins Häusermeer der Stadt hineinragt - und dieser Zipfel wird von einem riesigen Baum beherrscht. Es ist eine Araukarie die womöglich von einem Sohn des ursprünglichen Paul Temple als Samen oder Schößling aus dem Reich der Inka hierher gebracht wurde. Hier hat sie ideale Bedingungen gefunden und ist im Laufe eines halben Jahrtausends zur stattlichen Höhe von dreißig Metern emporgewachsen.
Im obersten Wipfel dieses Baumes, genau dort wo sich vielleicht noch ein Eichhörnchen hintraut aber keine Katze, die Hände ins windgeschüttelte Geäst gekrallt, saß Ceni. Sie war mit Hilfe eines Schiffstaus emporgeklettert, das irgendwer mal auf halber Höhe des Stammes befestigt hatte und das ursprünglich wohl bis auf den Boden gereicht hatte; aber der Baum war weitergewachsen und das Seil reichte jetzt gerade noch bis einen Meter über den Boden. Ceni war hoch gesprungen, hatte das Tau ergriffen, dann die Füße gegen den Stamm gestemmt und war so am Stamm emporgelaufen. Dies war die einzige Weise in den Baum zu kommen, denn der Stamm war unten so stark, daß ihn nicht einmal einer erwachsener Mann umfassen konnte. Außerdem wird das Klettern durch die Anordnung der Äste erschwert die geradezu mathematisch verteilt vom Stamm waagrecht wegragen; um zur nächsthöheren Astreihe zu gelangen, muß man sich recken. Der Baum sieht von der Seite her wie ein Leuchter aus und darum heißt er auch Kandelaberbaum.
"Warum saß Ceni denn auf dem Baum?" fragt Lili eifrig. Wie ein Kind hat sie sich vorgebeugt um zu lauschen - als ob sie so besser hören könnte. "So hoch über dem Boden, das muß doch gefährlich gewesen sein?"
Richtig. Der Baum war ihr Refugium in das sie immer flüchtete wenn ihr das Leben auf dem Boden zum Halse heraus hing - und das war oft der Fall. Vor allem Lola, der die Hand allzu leicht ausrutschte, machte ihr das Leben schwer. Wenn Mamá das sah, lachte sie nur kalt und geringschätzig, "Was hat das Balg schon wieder angestellt!" Das war keine Frage sondern eine Feststellung. Don?a Dolores haßte ihre Tochter inbrünstig und aus tiefstem Herzen.
"Warum haßte sie sie?" Lili runzelt die Stirn. Das tut sie, weil sie verwirrt ist. "War Ceni denn böse?"
Natürlich war sie das nicht. Bosheit war nicht Teil ihres Charakters. Don?a Dolores haßte sie, weil sie wegen ihr gelitten hatte. Das hatte schon in der Schwangerschaft angefangen und die Geburt war ganz besonders schlimm gewesen (das stimmte sogar.) Don?a Dolores hatte dem Marquis einen Erben schenken wollen - nur deshalb hatte sie seine widerlichen Umarmungen ertragen - und nun das! Wollte Gott das Balg wäre nie zur Welt gekommen! Warum war sie nicht schon im Mutterleib verendet ...
"Geh mir aus den Augen! Warum stirbst du nicht einfach" war das Lied, das Ceni täglich zu hören bekam.
"Das verstehe ich nicht," sagt Lili und ihre Augen flehen mich an. "Eine Mutter sollte ihr Kind doch lieben! Aber ..." Sie holt tief Luft. Zum Glück verdecken ihre Arme die Aussicht und verhindern damit einen Herzinfarkt. "Aber ich verstehe warum Ceni sich in den Baum geflüchtet hat. Das hätte ich wohl auch getan ..."Nimm zum Beispiel den Tag an dem Pol mit Papás Auto Cenis rechten Fuß überfuhr. Pol hatte sich ans Steuer gesetzt und den Schlüssel gedreht. Der Wagen startete sofort. Ceni war neugierig herangetreten und das rechte Vorderrad erwischte den Fuß. Durch den Schmerz war sie augenblicklich in Ohnmacht gesunken aber Pol erzählte ihr wie Mamá sich aufführte.
Sie war außer sich vor Zorn. "Esta cría maldita - dieses verfluchte Balg! Nichts als Ärger hat man mit ihr! Und was das jetzt alles kostet ..." Daß Pol den Unfall verursacht hatte, war unerheblich. Er wurde auch nicht bestraft. Pol wurde nie bestraft.
Der Wagen war an der Hausmauer zum Stehen gekommen und Pol war herausgesprungen. Ceni lag bewußtlos und blutend auf der Erde. Sie kam eilends ins Krankenhaus wo die Ärzte einen komplizierten Bruch der rechten Fußknochen feststellten. Solange der Fuß im Streckverband hing blieb sie dort und Pol durfte sie ein paarmal besuchen. Aber nach drei Wochen ließ Mamá sie zurückbringen und Ceni wurde in ihr Zimmer verfrachtet. Das Angebot des Krankenhauses eine Pflegerin zu stellen lehnte Mamá kategorisch ab. "Lola kann das machen. Ich zahle keinen Céntimo mehr für das Gör!"
Lola ließ ihr Wut über die Extraarbeit an Ceni aus und das Kind lernte hungern ohne zu klagen. Schon früher hatte sie lieber der Köchin etwas zu Essen abgebettelt als sich bei Tisch den Abkanzelungen von Mamá auszusetzen. Wer mit Leidenschaft kocht hat Liebe im Herzen; die Köchin seufzte, "Pobrecita, esa cenicienta - armes Ding, dieses Aschenputtel!" Das übrige Personal stimmte zu: nie war eine Bezeichnung zutreffender gewesen!
"Was ist das, Aschenputtel?" fragt Lili. Sie kann das Wort kaum aussprechen. Ich seufze und bemühe mich es ihr zu erklären. "Eine Märchengestalt?" sagt sie und ich frage mich was höher klettert, ihre Schultern oder ihre Augenbrauen. Eine mit Bezug zur Realität, Lili.
Lola brummte nur, "Vaya por diós - um Gotteswillen!" Sie war aber klug genug den Eltern nichts über diese Namensgebung zu sagen, aber fortan wurde das kleine Mädchen nur noch Cenicienta genannt. Von allen außer den Eltern - und von Lola erst recht nicht.
In Spanien ist es ebenso wie anderwärts gang und gäbe Namen abzukürzen und zu verniedlichen, und Pol machte es genauso: aus Cenicienta wurde Ceni.
"So ist das also," sagt Lili nachdenklich und runzelt die Brauen. Sie schweigt einen Moment wie um schwer Verständliches innerlich zu verarbeiten und schaut dann auf. "Wie hat sich denn Ceni dazu gestellt?"
Ihr war der neue Name sehr recht. Immer wenn Mamá oder Lola sie bei ihrem Taufnamen rief (die Sitte Töchtern den Namen ihrer Mütter zu geben ist nicht nur in Spanien allgemein verbreitet) gaben sie ihrer Stimme einen scharfen Klang, "Dolores!" und dem Kind fuhr ein Stich wie weißglühendes Eisen ins Herz; die in ihrem kurzen Leben bereits reichlich gemachten Erfahrungen hatten sie gelehrt, daß etwas für sie Unangenehmes auf der Stelle folgen würde. Besonders Lola war bei "Strafen," wie sie es nannte sehr erfindungsreich.
"Pobrecita," murmelt Lili und überrascht mich mit dem spanischen Wort; sie spricht sogar das C als Zischlaut aus wie sie es von mir gehört hat. "Armes Kind. Ist ihr niemals in den Sinn gekommen wegzulaufen?"
Deshalb saß sie so oft im Wipfel des Kandelaberbaumes. Was jenseits der hohen Mauern existierte die den Schloßpark umsäumten, war ihr unbekannt. Es kamen zwar gelegentlich Leute ins Schloß - Lieferanten und Postboten, die vom Personal abgefertigt wurden, hin und wieder auch Besuch für die Hausherren - aber soweit es Ceni betraf, waren das Schattenwesen ohne jegliche Identität, die aus dem Nichts auftauchten und wieder ins Nichts verschwanden und auch keine Spuren hinterließen die sie erkennen konnte.
Wenn sie von ihrem hohen Sitz aus das madrider Häusermeer überblickte, sah sie nur tote Landschaft die sich lediglich in der Färbung von den undeutlich sich abzeichnenden Bergen am fernen Horizont unterschieden. Daß unter den schmutzigroten Dächern Menschen lebten und arbeiteten, geboren wurden und starben kam ihr niemals in den Sinn. Wohl darum schaute sie lieber in den hitzeflimmernden tiefblauen Himmel hinauf der nur im Winter eine andere Färbung annahm, und wie viele Kinder mag sie davon geträumt haben auf einer der behäbig dahinziehenden weißen Wolken liegend hoch über die Welt zu segeln.
Und wie die Jahre vergingen schaute sie immer öfter nach unten wo die Tiefe magisch lockte. Pol hatte ihr erzählt, daß ein Sturz aus großer Höhe tödlich sein soll. Ein Sprung würde ihr das Ende bringen und sie würde frei sein ...
"Aiii!" Der unterdrückte Laut ist ein Schrei des Entsetzens. Lili hat schöne große Augen; jetzt sind sie soweit aufgerissen, daß ich das Weiße rund um die Pupillen sehe. "Ist sie wirklich gesprungen, Herr?"
Nein, sie ist nicht gesprungen. Sie hatte bisher nur vom Wasser der Leiden genippt und der Quell der Lebenskraft sprudelte kraftvoll. Als nach zwei Monaten der Gips endlich herunterkam war der Fuß steif. Der Arzt empfahl Heilgymnastik und Massagen aber Mamá wollte davon nichts hören. "Die Umstände, und was das alles kostet ...!" Und dabei blieb es. Ceni biß die Zähne zusammen und lernte wieder gehen, und langsam ging auch die Steifheit weitgehend zurück.
"Weitgehend?" Lili hat eine steile Falte zwischen den Augenbrauen. "Wurde ihr Fuß denn nicht gesund?"
Nein. Ein gewisses Maß Unbeweglichkeit blieb, und auch Schmerzen. Ihr Gang wurde ungelenk weil sie den Fuß schonte, und so blieb es für den Rest ihres Lebens.
"Pobrecita," wiederholt Lili das fremde Wort und seufzt. "So ein schönes Mädchen ..."
"Woher weißt du denn, daß sie schön war, Lili?"
"War sie es denn nicht?" fragt Lili kleinlaut. Ihre Stimme klingt weinerlich und sie sieht wahrhaftig aus als ob sie jeden Moment losheulen würde.
"Sie hätte es sein können." Ich wiege den Kopf, den Blick nach innen gerichtet. Die Erinnerung schmerzt. "Sie hatte die besten Anlagen. Als Tochter eines Hauses der höchsten Adelskreise hätten ihr alle Türen offen gestanden. Sie wäre, sobald sie alt genug war, von Verehrern umringt gewesen; sie hätte wählen können wen sie wollte, hätte als Ehefrau eines Edelmannes und Mutter froher und gesunder Kinder ein Leben in Glück und Luxus führen können. Stattdessen ..."
"Stattdessen?" Was ein Schrei werden sollte erstickt im Schluchzen und Tränen kullern über Lilis Wangen. Es gibt mir einen Stich ins Herz zu sehen, was die Geschichte Lili antut. Es ist nicht rechtens. Geteiltes Leid, halbes Leid, daß ich nicht lache! Ich bereue zutiefst.
"Soll ich das Ende gleich erzählen, Lili?" Besser ein Ende mit Schrecken, aber dann ist es überstanden und ...
"Nein, nein." Sie lächelt durch Tränen, die versiegen wollen. Das Lächeln ist mühsam und ihre Augen glänzen, vom Weinen noch feucht. Sie setzt sich zurecht und faltet die Hände im Schoß. Was ist nur aus dem Afrit geworden, der sie einmal war? Vor mir sitzt ein Mädchen das seine Gefühle offen zeigt, ein schüchternes Mädchen in Haremskleidung. Einen Meter über dem Fußboden ...
"Erzähle bitte weiter, Herr." Sie schlägt die Augen auf, blickt mich erwartungsvoll an.
Bei der Behandlung die sie erfuhr, kein Zeichen von Liebe und immer nur Strafen für Dinge von denen sie keinen Schimmer hatte, was sie getan haben sollte, konnte es nicht ausbleiben, daß Ceni eine Trotzhaltung entwickelte - was allerdings alles noch verschlimmerte. Aber woher hätte sie wissen sollen, wie man andere dazu bringt einem freundlich zu begegnen ... Sie ging den Erwachsenen aus dem Weg wo sie konnte, erschien kaum bei Tisch und ließ sich auch nicht von der Gouvernante blicken.
Die Gouvernante, eine Miss Alexandrine Whimsey aus Dorset, eine vertrocknete Vierzigerin mit gestärkter Bluse und etwas zu stark nach Veilchen duftendem Parfüm, sollte den Kindern vor allem Englisch beibringen. Bei Pol gelang es ihr aber Ceni musste mit dem Gesicht zur Wand in der Ecke stehen - nachdem sie den Stock zu spüren bekam ...
Zu meiner Überraschung übergeht Lili meine Bemerkung über die strenge Pädagogik der frustrierten Engländerin. "Wer ist denn dieser Pol von dem du dauernd sprichst?"
"Pol, das ist, was die spanische Zunge aus dem englischen Paul macht. Im Geburtsschein steht natürlich Pablo als Taufname. Er war Cenis kleiner Zwillingsbruder, dreißig Minuten jünger als sie, drei Fingerbreit größer und etliche Kilos schwerer als sie. Man konnte ihm ansehen daß er es sich bei Tisch schmecken ließ und das ist auch der Grund warum er ihr nicht in den Baum folgen konnte. Das frustrierte ihn und darum behandelte er sie mit Herablassung, aber dennoch erblickte sie in ihm ihren Freund, ihren einzigen Freund und sie liebte ihn abgöttisch."
Lilis Gesicht erhellt sich. "Ach, dann war sie gar nicht allein!"
"Wie man's nimmt. Schließlich mußte Pol doch zur Schule gehen ..."
"Schule," fragt Lili mit der Unschuld des dreitausend Jahre alten Geistes, "was ist das?"
Ich versuche es ihr zu erklären. "Ein Haus in dem gelehrt wird was der Mensch wissen muß."
"Ist das schlimm?"
Ich muß lachen. "Nein, Lili! Es ist gut, daß der Mensch lernt. Je mehr man weiß desto besser findet man sich im Leben zurecht."
Lili zieht wieder ihr Schnütchen. "Ich bin nie zur Schule gegangen!"
"Doch, Lili." Ich versuche sie zu beschwichtigen. "Du warst in der Schule des Lebens. Bist es noch. Die Schule des Lebens endet selten vor dem Tod."
Mit großen Augen sieht sie mich an und zwischen ihren Brauen steht eine senkrechte Furche. "Bin ich eine gute Schülerin?"
"Ja, Lili." Sie lernt schnell. "Du verdienst eine Eins in allen Fächern!"
"Eine Eins?" Die Falte ist jetzt noch tiefer.
"Die Benotung. Eins ist die Beste."
"Ach!" Sie freut sich sichtlich, patscht in die Hände, aber die Falte bleibt stehen. "Wozu braucht man Noten? Erklärst du es mir?"
"Später, Lili. Soll ich fortfahren?"
"Ja, bitte!" Sie setzt sich wieder zurecht und zu meiner Erleichterung verdecken ihre Arme erneut die Aussicht. Mein Herz ...
"Gut, also: Als Pol in die Schule kam war sie meistens allein. Sie ..."
"Ging sie denn nicht zur Schule?" Die steile Falte ist jetzt womöglich noch tiefer.
"Man ließ sie nicht. Da war zum Beispiel das schöne Bilderbuch das ihr so gut gefiel. All die schönen Bilder darin ... Jedenfalls wollte Pol es für sich alleine haben und ließ sie nicht hineinschauen. Darüber war sie so erbost, daß sie es mit Marmelade beschmierte. Darauf bekam Pol ein neues, mit dem Befehl gut darauf aufzupassen und er ließ sie überhaupt nicht mehr hineinsehen. Als er dann eingeschult wurde durfte sie nicht mit."
Das schmeckt Lili nicht und sie läßt ihrem Glauben an patriarchalische Allmacht freien Lauf. "Was sagte denn der Vater? Warum hat er es nicht angeordnet?"
"Der Marquis? Der sah sie ja kaum. Und wenn, dann hatte seine Frau flugs ein neues Ammenmärchen über die angebliche Bosheit des Kindes parat. Darum hielt er sie für geistig unterentwickelt und das ließ er auch der Schulbehörde mitteilen."
Zu meiner Erleichterung will Lili nicht wissen was eine Schulbehörde ist. Sie runzelt die Brauen. "War Ceni denn dumm?"
"Sie war im Gegenteil sehr klug. Aber sie hatte keine Möglichkeit ihren Vater davon zu überzeugen. Die Marquise gab ihr nicht den Hauch einer Chance."
"Dieses böse Weib!" Lili ist ehrlich empört. "Ich hoffe sie hat ihre gerechte Strafe bekommen!"
"Nun, sie fühlt sich bestraft, Lili. Sie ist sehr dick geworden und läßt sich kaum noch vor den Leuten sehen."
"Dick sein ist eine Strafe?" Lili macht große Augen. "Die Kad'na die ich kannte waren alle sehr dick. Sie hielten sich für schön."
Kad'n, die Hauptfrau oder Haremsvorsteherin. Das ist türkisch. Ob's auch ein arabisches Wort dafür gibt? "Hierzulande gelten dicke Frauen als häßlich, Lili."
"Ach." Die Augen sind jetzt womöglich noch größer. "Bin ich dick, Herr?"
"Du?" Ich muß lachen. "Nein, Lili, du bist nicht dick! Du hast im Gegenteil eine sehr schöne Figur und ich möchte, daß du so bleibst."
"Ja, Herr." Ein Wort von mir und die Sonne geht auf. Eben hat sie noch geweint, jetzt lächelt sie. Sie macht eine einladende Geste. "Erzählst du bitte weiter?"
"Nun, da war die Sache mit Abuelito ..."
"Abd el Ido?" Das hat mir noch gefehlt! Jetzt macht sie aus einem spanischen Wort einen arabischen Namen, und selbst so bereitet es ihr Schwierigkeiten. "Wer ist das?"
"Abuelito, Lili! Das ist die Koseform von Abuelo und das bedeutet Großvater."
"Also bedeutet Abd el Ido Großväterchen?"
Ich seufze. Die gutturale arabische Aussprache massakriert das Wort, aber sie muß es ja nicht besser können. "Du hast es erfaßt, Lili."
"Ah. Aha," sagt Lili und sieht mich neugierig an. "Was war mit ihm?"
Abuelito war Mamás Vater. Er hatte, als die Tía starb, seinen Haushalt aufgelöst und war mit seinem Diener Manuel ins Schloß gezogen, um seiner Tochter und ihrer Familie nahe zu sein. Er war immer ein netter alter Herr gewesen, hatte die Kinder auf seinen Knien geschaukelt als sie noch klein waren und ihnen golosinas (Süßigkeiten) und öfter mal ein Spielzeug geschenkt.
Mit der Zeit war er, ohne daß man es in der Familie so recht bemerkte, wunderlich geworden. Erst als Manuel einem tödlichen Unfall erlag und er danach unausstehlich wurde, kam man dahinter, daß etwas mit ihm nicht stimmte. Für Mamá war es allerdings ein Anzeichen seiner besonderen Originalität.
Nur zu Ceni blieb er nett. Er gesellte sich zu ihr und sah zu, wie sie im Park spielte, und das liebebedürftige Kind vertraute ihm.
Eines Tages griff er zu als sie ahnungslos an ihm vorüberrannte. Sie war acht Jahre alt. Er riß sie zu Boden und verging sich an ihr. Dann stand er auf, ging in seine Gemächer und schloß sich ein.
Pol fand sie mit zerrissener Kleidung und mit blauen Flecken übersät in einer Blutlache liegend. Entsetzt rannte er ins Haus zurück und schrie um Hilfe.
Ceni wurde ins Krankenhaus gebracht, wo man sie eingehend untersuchte und anhand ihrer Verletzungen eine Vergewaltigung diagnostizierte. Wer der Übeltäter gewesen war wurde rasch ermittelt.
Der Marquis war entsetzt. Eine Vergewaltigung in der höchsten Gesellschaft begangen von einem Familienmitglied, nicht auszudenken; der Skandal durfte nicht an die Öffentlichkeit gelangen, koste es was es wolle! Er rief persönlich im Krankenhaus an und beschwor den Chefarzt seine Schweigepflicht auf die Identität des Opfers auszudehnen; dasselbe sollte auch für das gesamte Krankenhauspersonal gelten. Augenscheinlich hatte er damit Erfolg; über den Vorfall ist in der Öffentlichkeit nichts bekannt geworden. Reporter, soweit sie überhaupt Wind von der Angelegenheit bekamen, wurden gekauft. Der Marquis knirschte mit den Zähnen - und zahlte.
Mamá hatte nur einen Kommentar: "Esta cría maldita - dieses verfluchte Gör! Nichts als Ärger hat man mit ihr!"
Das geschockte Kind floh auf seinen Baum.
Lili hat die Hand zur Faust geballt die sie gegen ihren Mund preßt, und sieht schwimmenden Auges zu mir auf. "Aiii ..."
Später, viel später trat Pol unter ihren Baum und rief hinauf, "Ceni, komm runter! Männer in weißen Kitteln sind da! Sie wollen den Abuelito abholen. Er kommt in eine Anstalt!"

Ende zweiter Teil


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