STORIES


CUPIDO

von Helga P. Schubert



In der Frühe

Wie geht es dir?
Fühlst du es denn nicht?
Ich will es von dir wissen.
Aber das weißt du doch. Wie kein anderer. Und ich bin schon sehr gespannt darauf, was du mit dem Wissen anstellen wirst.
Nun sag schon! Wie geht es dir?
Sagen! Hach! Der Witz ist gut. Mir geht es bestens. Ich habe eben einen Unfall gehabt, mein Auto ist nur noch Schrott und meine gerade Nase konnte ich sowieso nie leiden. Wie schön, dass sie jetzt schief ist!
Sarkasmus ist nicht deine Stärke.
Was erwartest du denn? Dass ich dir alles brühwarm beichte?
Ja.
Da hast du Pech gehabt, mein Lieber. Nicht mit mir. Ich bin keiner von denen. Ganz sicher nicht. Ich würde es niemals tun. Verstehst du? Niemals!
Ich kann dir helfen.
Wozu?
Was wozu? Wozu lebst du? Wozu taugst du, wenn du nicht einmal Miriam für dich gewinnen kannst?
Lass sie aus dem Spiel!
Ich erinnere dich nur an CUPIDO. Du hast ihr Parfüm aus dem Rucksack geklaut. Neulich, als sie ihn auf den Tisch gestellt hatte, um deine Kollegin zu begrüßen.
Ich werde dafür sorgen...
Du weißt, dass du mich nicht loswirst?
Unsinn! Das ist ja nun wirklich kein Problem. Ich brauche nur...
Aber das wirst du nicht tun.
Hm, vorläufig nicht.
Also, zurück zur Ausgangsfrage! Wie fühlst du dich?
Mensch! Mir geht es beschissen. Bist du nun zufrieden?
Nicht ganz.
Und ich bin wütend, weil dieser Trottel in mein Auto gerast ist. Ist doch verständlich. Oder?
Und weiter?
Ich habe Schmerzen. Meine Nase ist wahrscheinlich gebrochen und der Hals hat auch was abgekriegt. Ich kann ihn nicht richtig drehen.
Übertreib nicht so! Du hast keine schlimmen Verletzungen. Dir ist klar, dass du dich nur hinter einer Schale versteckst?
Was für eine Schale? Und mich verstecken. Pah! So ein Quatsch!
Oder Hülle, wenn es dir lieber ist.
Das eine Wort ist mir genauso lieb wie das andere, nämlich gar nicht. Warum auch? Und jetzt lass mich gefälligst in Frieden! Ich habe zu tun.

Mittagszeit

Da ist Miriam.
Ich weiß. Ich bin ja nicht blind.
Ist ihr Gang nicht der einer Göttin? Und solche kleinen, süßen Ohren habe ich noch nie bei jemandem bemerkt.
Kein Wunder. Du hast bisher nicht mehr gesehen als ein fünf Tage altes Baby. Denn du bist fünf Tage alt.
Aber...
Spar dir deine Argumente! Du vergisst, wer ich bin.
"Oh, Miriam! Wie schön, dich zu sehen!"
Warum geht sie vorbei? Wie eine Schlafwandlerin. Sie läuft zu diesem Kelinski. Hat sie was mit dem?
Würde es dich stören?
Ach, Unsinn!
Jetzt mal ehrlich.
Der passt nicht zu ihr. Sie hat etwas Besseres verdient.
Dich.
Mir reicht es. Ich will nicht mit dir über Miriam reden.
Reden. Schon wieder so ein Wort. Ich habe die Nase voll von dir. Wie war bloß die Codenummer? Mist! Der Zettel ist weg.
Wie schön. Also bleibt alles beim Alten.
Noch. Aber freu dich nicht zu früh! Ich muss dich nur noch bis 14.00 Uhr ertragen, keine Minute länger.
Ich finde, Miriam ist etwas Besonderes.
Hm. Dich werde ich jetzt wohl nicht los. Aber du hast ausnahmsweise mal Recht.
Sie hat gerade hierher geguckt.
Das habe ich natürlich bemerkt.
Weißt du, sie hat ein Problem.
Tatsächlich?
Sieh dir nur ihre traurigen Augen an.
Meinst du? Ja. Es stimmt. Warum ist mir das nicht schon früher aufgefallen?
Weil du es nicht wahrhaben wolltest. Sie ist eine von ihnen.
Aber das kann nicht sein.
Und sie wird es bald tun.
Ich muss ihr helfen.
Das kannst du nicht. Keiner kann es. Nur ich.
Vielleicht.
Ist es nicht einen Versuch wert?
...
Warum zögerst du? Sie braucht einen echten Freund. Einen, der ihre geheimsten Gedanken kennt. Ich weiß, dass du es weißt.
Miriam! Ich muss...
Du bist ihr nicht so nahe, wie ich es sein könnte. Du hast nicht die geringste Chance. Ich sage ihr, dass es sinnlos ist, was sie vorhat. Sie wird auf mich hören.
Nein. Das geht nicht. Es ist noch zu früh dafür.

Nach zwei Stunden

Hörst du den Krach? Und die Sirenen. Die anderen kommen schon. Es ist vorbei.
Schade. Ich wollte mit dir gern noch über Miriam reden.
Reden. Was soll das?
Sie wird sterben. Morgen. Übermorgen. Was machst du dann? Du weißt es nicht. Lauf! Verlass das Gebäude! Gib uns einen Aufschub.
Was tue ich bloß? Meine Beine rennen wie von alleine durch die Gänge. Ich muss verrückt geworden sein.
Lauf! Du brauchst mich. Wie willst du sonst ohne sie klarkommen?
Das weiß ich auch nicht. Schon der Gedanke daran macht mich wahnsinnig. Aber da ist das Trappeln von Füßen. Stimmen. Leute. Ich schaffe es nicht. Sie kriegen mich. Uns.
Leb wohl, mein Freund. Das war es dann wohl.

Eine Stunde später

"Hört auf! Warum habt ihr das Implantat entfernt? Bloß weil ich die vereinbarte Zeit nicht eingehalten habe? Der PSY 1 heilt die Seele. Glaubt mir! Was redet ihr da von gefährlichen psychischen Abhängigkeiten? Was wisst ihr denn schon! Ich habe den PSY 1 entwickelt, damit er eine therapeutische Beziehung zum Menschen aufbaut. Es hat geklappt. Und was tut ihr? Ihr nehmt ihn mir weg. Jeder vierte in unserer Gesellschaft bringt sich um. Wollt ihr das weiter zulassen? Gebt mir den PSY 1 zurück! Bitte! Ich, ich brauche ihn."

Abends

Miriam ist heute nicht zuhause erschienen. Ich weiß, was das bedeutet. Der Wendelturm in der Altstadt. Das Ziel der Selbstmörder. Wie schrecklich. Sie hat es getan.
Ein Leben ohne Miriam ist sinnlos, kalt. Ich friere. Ich zittere. Ich bin traurig. Nein, es ist mehr. Aber ich habe keine Tränen. Warum ist alles um mich herum so dunkel?
Der Wendelturm ist zu weit weg. Ich schaffe es nicht bis dahin.
Es weht ein Duft herüber. CUPIDO. Miriams Parfüm. Es riecht so vertraut. Und es tut weh. Doch dort fährt die Schnellbahn. Dreihundert Stundenkilometer. Sie ist genau richtig für mich. Ich werde nichts merken.
Miriam!

Zur selben Zeit

Auf dem Beton liegt mein Kaugummi. Er ist blau. Ich kann ihn von oben nicht sehen, aber ich weiß, dass er dort ist. Ich habe ihn in der Mitte des Platzes angeklebt. Ich werde fallen, wie ein Vogel, der seine zarten Flügel starr an den Körper gelegt hat. Genau auf diese Stelle.
Es gibt kein Zurück. Es gibt nur den Wendelturm und den Tod. Und mich.
So viele tun es. Sie haben ihre Gründe. Wichtige Gründe. Wie ich.
Einen Schritt voran. Noch einen. In meiner Vorstellung sehe ich mich schon leblos, mit verrenkten Gliedmaßen auf dem Beton liegen. Das Blut wird aus meinem Körper fließen.
Ist es das, was ich will?
Vielleicht gibt es doch einen Ausweg? Vielleicht denke ich in einer Woche anders darüber?
Denn das Sterben ist endgültig. Ich kann es niemals wieder rückgängig machen.
Nein. Fort. Was tue ich nur auf dem Wendelturm?
Es ist ein Fehler. Noch kann ich ihn ausmerzen.
Leben.
Ich muss.
Ich will.
Ich werde diese Stufen hinunter gehen, genau zu der Stelle, an der mein Kaugummi klebt. Dann werde ich emporschauen, geläutert, erfahrener und stark.
Ja, ich will.
Wo kommt bloß dieser Duft her? CUPIDO. Mein Parfüm.
Leben.


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