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LINDAS HÖRGERÄT

von Susanne Stahr



Als Linda die Augen aufschlug, umgab sie nahezu absolute Stille. Wie jeden Tag, seit nun schon sechs Jahren. Nach der schweren Mittelohrentzündung vor neun Jahren war ihr Gehör immer schlechter geworden. Sie war von einem Arzt zum anderen gelaufen, einige Zeit zwischen Hoffnung und Verzweiflung geschwankt, bis sie die schreckliche Realität akzeptieren konnte. Seither trug sie ein Hörgerät.
Der kleine, rosa Apparat verschwand in ihrem Ohr und wurde auch noch von ihren schulterlangen, mittelbraunen Locken verdeckt. Für ihre 38 Jahre sah sie recht gut aus. Ihre mittelgroße Figur war schlank und die Falten um Mund und Augen rührten mehr vom Lachen als vom Alter. Trotz ihrer Behinderung hatte sie ihren Humor nicht verloren.
Das Hörgerät! Verschlafen tastete sie auf ihrem Nachttisch danach. Wo war nur das Ding? Ihre Finger stießen gegen etwas Kühles und schoben es über die Kante. Mit einem dumpfen Laut schlug es am Parkett auf.
Jetzt war Linda wach. Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Oje! Das Gerät war auseinander gefallen. Erschrocken hob sie die Teile auf und atmete auf. Es war nur die Batterie heraus gefallen. Ihre Hand zitterte leicht als sie sie wieder einsetzte und das Gerät ins Ohr schob.
Schlagartig überfielen sie die Alltagsgeräusche. Das Bremsen und Anfahren der Autos auf der Straße vor ihrem Fenster, das Radio ihres Nachbarn, das Zufallen der Haustür, wenn jemand das Haus verließ oder betrat. Plötzlich hatte sie teil an der Lebendigkeit der Welt.
Erleichtert entspannte sie sich. Nichts kaputt! Sie machte in der Bank zwar keinen Schalterdienst, aber ab und zu kam es vor, dass sie von ungeduldigen Kunden angesprochen wurde. Da wollte sie nicht unhöflich wirken, nur weil ihr Hörgerät defekt war.
Als sie die Straße hinunter ging, fing es an. Ein schrilles Pfeifen ließ sie zusammen zucken. Sofort blieb sie stehen und verstellte die Lautstärke an dem Gerät. Dann ging sie weiter, aufmerksam lauschend. Eine Weile ging alles gut. Sie erreichte ihren Arbeitsplatz in der Bank und alles schien in Ordnung.
Sie war gerade in ihre Arbeit vertieft als sie einen leichten Druck an ihrem Ärmel spürte. Sam Minsky, der Hauptkassier stand vor ihr.
"Ist etwas mit Ihrem Hörgerät, Miss Tymon?", fragte er irritiert. "Ich habe Sie jetzt zweimal angesprochen und reag....." Sein Mund bewegte sich weiter, aber Linda hörte nichts.
"Es tut mir Leid, Mr. Minsky. Das Ding ist mir heute früh auf den Boden gefallen. Obwohl es zuerst funktionierte, scheint es jetzt doch etwas abbekommen zu haben. Ich höre Sie nicht."
Minskys Stirn wurde zu einem zerklüfteten Faltengebirge. Dann schrieb er auf einen Zettel: "Sperren Sie dieses Konto." Es folgte die Nummer. "Der Kunde hat seine Bankomatkarte verloren. dann bringen Sie ihr Hörgerät zur Reparatur."
"Danke, Mr. Minsky", sagte Linda und machte sich ans Werk.
Wenige Minuten später überquerte sie die Straße. Direkt gegenüber gab es einen Optiker, der auch Hörgeräte führte. Ein kleines Schild informierte sie in roten Lettern, dass der Laden diese Woche wegen Urlaub geschlossen hatte. Gehetzt sah sich Linda um. Wo war der nächste Optiker? Nur um irgendetwas zu tun lief sie die Straße hinunter bis zur nächsten Ecke. Zwischen einem Imbiss und einer Videothek entdeckte sie ein schmales Geschäft. Der Name eines bekannten Brillenherstellers prangte auf der Tür.
Schnell schlüpfte Linda hinein. Hier war alles so eng wie es von außen ausgesehen hatte. Eine kleine Tür ließ einen weiteren Raum ahnen. Vielleicht ein Lager oder eine Werkstatt. Vom Personal war niemand zu sehen. Auf dem Tresen lag verlassen ein Hörgerät und eine Packung Reservebatterien.
Ungeduldig ging sie die drei Schritte, die hier möglich waren, auf und ab. Es musste doch jeden Moment jemand kommen! Selten war ihr das Warten so schwer gefallen.
Aus reiner Langeweile betrachtete sie die Brillen, die säuberlich aufgereiht in einem beleuchteten Regal lagen. Alle Bügel hatten verdickte Enden. Das mussten Hörbrillen sein, dachte sie.
Wann kam da endlich ein Angestellter? Ärgerlich stampfte sie mit dem Fuß auf. Da ihr Hörgerät nicht funktionierte, wusste sie nicht, ob sich jemand in dem angrenzenden Raum befand. Ein Blick auf ihre Uhr ließ leise Panik in ihr aufsteigen. Sollte sie nach einem anderen Laden suchen?
Das Hörgerät lag vor ihr und lockte. Unsicher sah sie sich um. Nein, es war niemand da. Sekunden später hatte sie das Gerät ausgetauscht. Sie fühlte einen kleinen Stich im Ohr und einen kurzen Moment wurde ihr schwindlig. Das war sicher die Aufregung. Dann stürmten alle Geräusche von der Straße auf sie ein. Im Laden selbst rührte sich nichts.
Schnell schrieb sie eine Erklärung ihrer Situation samt Telefonnummer auf einen Zettel und eilte zurück in die Bank. Mr. Minsky begrüßte sie mit einem Stirnrunzeln, sagte aber nichts. Sofort vertiefte sich Linda in ihre Arbeit. Den ganzen Vormittag kam kein Anruf für sie. So ging sie in der Mittagspause noch einmal zu dem Laden. Doch jetzt war die Tür abgesperrt. Durch die Scheibe sah sie ihren Zettel und ihr Hörgerät noch immer auf dem Ladentisch liegen. Unverrichteter Dinge ging sie an ihren Arbeitsplatz zurück.
Die Sache ließ ihr den ganzen Tag keine Ruhe. Deshalb ging sie nach Dienstschluss wieder hin. Die Tür war noch immer versperrt. Kurz entschlossen ging sie in die Videothek nebenan. Ein dürrer Jüngling hockte vor einem Regal und sortierte Kassetten. Bei ihrem Eintritt schraubte er sich zu beachtlicher Höhe hinauf.
"Hallo", begrüßte er sie. "Komödie oder Horror?"
"Äh, wie bitte?" Verwirrt blinzelte sie ihn an.
"Ich versuche nur Ihre Vorlieben einzuschätzen", grinste der junge Mann.
"Oh nein. Ich möchte keine Filme. Im Grunde wollte ich nur nach dem Optiker nebenan fragen. Heute vormittags war offen und jetzt ist geschlossen ..." Sie verstummte und zuckte unsicher mit den Schultern.
"Ah, da hatten Sie Glück, dass offen war", meinte der Angestellte jetzt. "Der alte Mr. Crock ist vor einer Woche gestorben. Sein Neffe ist dabei, den Laden aufzulösen. Der versteht aber gar nichts von Brillen und so. Hat er Ihnen was Falsches verkauft?"
"Nicht direkt", meinte Linda vorsichtig. "Wann könnte man denn jemand antreffen?"
"Oh, das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Sie hatten Glück, dass er heute da war." Sein Blick hob sich über ihre Schulter. "Hau ab, Kleiner! Du hast bei mir Hausverbot!" Jetzt sah er gar nicht mehr so jung aus. "Wenn du nicht sofort eine Fliege machst, ruf ich die Bullen!"
Die Tür schlug hinter Linda zu und der junge Mann wandte sich wieder an sie. "Der hat meinen besten Sexfilm geklaut. - Wollen Sie nicht vielleicht doch einen Film ausleihen?"
"Nein, danke, vielleicht ein andermal. Vielen Dank für Ihre Mühe", stieß Linda schnell hervor und verließ das Lokal.
Nachdenklich ging Linda nach Hause. Das Hörgerät lag gut in ihrem Ohr. Sie fühlte es fast gar nicht. Vorsichtig tastete sie danach und erschrak. Es war tief in den Gehörgang hinein gerutscht. In ihrer Wohnung versuchte sie, das Gerät zu entfernen. Vergeblich. Es sank immer tiefer in ihr Ohr. Und dass sie dabei keine Schmerzen empfand, beruhigte sie nicht wirklich. Nach einigen fruchtlosen Versuchen rief sie im Krankenhaus an und schilderte ihr Problem.
"Kommen Sie sofort zu uns", sagte eine kühle Frauenstimme.
Eine halbe Stunde später saß sie auf dem Behandlungsstuhl eines Ohrenarztes. Der leuchtete mit einer kleinen Lampe in ihr Ohr, brummte, spreizte den Gehörgang mit einem speziellen Gerät und brummte wieder. Das wiederholte er beim anderen Ohr in gleicher Reihenfolge.
"Sind Sie sicher, dass Sie das Hörgerät nicht vielleicht verloren haben?", fragte er. "Manchmal fällt es heraus, wenn es schlecht eingesetzt wurde."
"Aber es muss doch noch drin sein", antwortete Linda verwirrt. "Ich höre Sie doch klar und deutlich."
"Ich hab in keinem Ihrer Ohren etwas gefunden. und wenn Sie mich tatsächlich klar und deutlich hören können, brauchen Sie gar kein Hörgerät."
"Ich trage seit sechs Jahren ein Hörgerät", wandte sie hilflos ein.
Die Nasenflügel des Arztes blähten sich. "Wenn das ein Scherz sein soll, dann finde ich ihn nicht lustig. Sie stehlen mir die Zeit. Gehen Sie nach Hause, Miss." Er öffnete unmissverständlich die Tür. "Die Schwester wird Ihnen die Rechnung geben", fügte er noch hinzu.

Verwirrt und nachdenklich ging sie nach Hause. Immer wieder tasteten ihre Finger nach ihrem Ohr. Sie konnte sich nicht erklären, was da passiert war. Die Umstände waren einfach zu ungewöhnlich, als dass sie nur glücklich sein konnte, ihr Gehör wieder zu haben. Gleich morgen wollte sie einen Termin mit ihrem Ohrenarzt vereinbaren. Dr. Stanley betreute sie schon seit ihrer Erkrankung. Mit diesem Vorsatz ging sie zu Bett. Schlaf fand sie aber nicht so bald. Zu viele ungewohnte Geräusche stürmten auf sie ein. Auch während der Nach wachte sie immer wieder auf, weil der nächtliche Straßenverkehr sie störte.
Unausgeschlafen kroch sie am nächsten Morgen aus den Feder und schaltete das Radio an. Das leere Etui ihres Hörgeräts schien sie mahnend anzustarren. Die ersten Nachrichten berichteten von einem verheerenden Brand in der Praxis eines Ohrenarztes, wobei der Arzt schwer verletzt worden war. Atemlos wartete sie, ob der Sprechen auch den Namen des Arztes sagte. Er tat es nicht.
Erfüllt von panischer Angst wählte Linda die Nummer Dr. Stanleys. Eine unsichtbare Faust schien ihr die Kehle zuzudrücken als sie die unpersönliche Automatenstimme hörte: "Wegen eines Unfalls ist die Praxis Dr. Stanleys bis auf weiteres geschlossen. Für dringende Behandlungen stehen Dr. Ashton, Dr. Harding......".
Linda legte auf. Tausend Geräusche stürmten auf sie ein, der Straßenlärm, der Radiosprecher, ein Flugzeug, die Kaffeemaschine in der Küche, streitende Stimmen aus der Nachbarwohnung. Sie hörte zwar alles, nahm aber nichts wahr. Dr. Stanley war fast wie ein Vater für sie gewesen, ein Fels in der lautlosen Brandung ihres Lebens. Nun ja, die Lautlosigkeit gab es ja jetzt nicht mehr.... Eine Weile gab sie sich ihrer Verzweiflung hin und weinte hemmungslos.
Endlich fing sie sich wieder. Schnell wusch sie sich das Gesicht mit kaltem Wasser und machte sich fertig um zur Arbeit zu gehen. Sie würde Dr. Stanley im Krankenhaus besuchen. In dieser Stadt gab es nur ein Krankenhaus.
Mit diesem Vorsatz stürzte sie sich in die Arbeit. Doch im Laufe des Tages schlich sich unbemerkt ein neuer Gedanke bei ihr ein. War es nicht wunderbar, wieder genauso gut zu hören wie alle anderen? Wozu brauchte sie da einen Arzt? Nach dem Mittagessen hatte sie ihr Vorhaben ganz vergessen. Und als sie dann abends vor dem Fernseher saß, freute sie sich, dass sie keine Kopfhörer brauchte. Gegen ihre Gewohnheit ließ sie den Apparat laufen und sah sich noch einen Action-Film an. In einer Werbepause nagte eine kleine Stimme in ihrem Hinterkopf. Hatte sie da nicht etwas vergessen? Sie kam nicht drauf. War wohl nicht so wichtig, außerdem ging der Film wieder weiter.

In den folgenden Tagen gewöhnte sie sich immer mehr an ihr wieder hergestelltes Gehör. Es wurde zur Selbstverständlichkeit. Ja, über weite Strecken des Tages vergaß sie sogar, dass sie jemals taub gewesen war.
Doch eine Woche nach dem Vorfall mit dem Hörgerät versetzte ihr ein Albtraum einen heftigen Schock. In diesem Traum war sie wieder taub. Sie hielt ein riesiges Hörgerät in den Händen und lief durch dunkle Straßen auf der Suche nach einem Optiker. Die Häuser um sie waren dunkel drohende Schatten. Da sah sie ein helles Licht, das sie magisch anzog. Mit unnatürlicher Geschwindigkeit schoss sie darauf zu. Im nächsten Moment stand sie in dem kleinen Laden neben der Videothek. Doch jetzt stand ein kleiner, alter Mann hinter dem Tresen. Sein Körper wirkte schwach und hinfällig, aber seine Augen brannten in einem infernalischen Feuer. Zitternd übergab ihm Linda das monströse Hörgerät. Wieder spürte sie einen Stich im Ohr und alle Umweltgeräusche brandeten auf.
"Du musst bezahlen, Linda!", sagte der Optiker ohne die Lippen zu bewegen.
Verzweifelt suchte sie ihre Geldbörse. Wo war das Ding nur?
"Bezahlen! Bezahlen! Bezahlen!", dröhnte es in ihren Ohren.
Sie wollte flüchten, doch ihre Füße waren schwer wie Blei. Die Ohren zuhalten half auch nichts. Die Stimme war direkt in ihrem Kopf. Der alte Mann kam näher und näher. Seine klauenartigen Hände rissen sein Hemd auf und entblößten einen von zahlreichen Messerstichen entstellten Oberkörper.
Schweißgebadet wachte sie auf. Ihr Herz klopfte so heftig als wollte es ihren Brustkorb sprengen. Wie ein Film liefen die Geschehnisse dieses verhängnisvollen Tages vor ihrem inneren Auge ab. Ja, sie hatte das Hörgerät genommen, ohne zu bezahlen. Aber der alte Mann war tot und das Hörgerät war verschwunden. Sie konnte es nicht mehr zurück geben. Und wo sollte sie es bezahlen? Hatte nicht der Mann in der Videothek von einem Neffen gesprochen? Vielleicht konnte sie ihn ausfindig machen. Sicher hatte ihr schlechtes Gewissen diesen Traum geschickt. Linda hatte ihr ganzes Leben noch nie etwas gestohlen.
Der Himmel vor ihrem Fenster war eine graue Schale mit einigen hellen Punkten, den verblassenden Sternen. Etwas Drohendes, Kaltes ging von diesem Grau aus. "Du bist eine Diebin!", schien dieses Grau ihr zuzurufen.
Linda verbrachte die Zeit bis zum Aufstehen in unruhigem Halbschlaf. Immer wieder schreckte sie auf. Zu sehr hatte sie der Albtraum erschüttert. Sie musste unbedingt den Erben des Optikers finden und das Gerät bezahlen, auch wenn es jetzt verschwunden war. Und Dr. Stanley wollte sie auch im Krankenhaus besuchen.

Kurz nach sechs Uhr stand sie auf und duschte gründlich. Nachher war ihre Haut am ganzen Körper rot, so heftig hatte sie sich abgerieben. Sie hatte sich so schmutzig gefühlt. Nun, außer dass ihre Haut jetzt brannte hatte sich nichts geändert.
Sie wusste aus Erfahrung, dass Mr. Minsky immer mindestens eine halbe Stunde vor Dienstbeginn in der Bank war. Ungeduldig beobachtete sie die Zeiger ihrer Uhr. Als sie dann versuchte, ihn telefonisch zu erreichen, hatte sie Glück. Minsky meldete sich gleich nach dem ersten Läuten.
"Mr. Minsky, ich hab schreckliche Kopfschmerzen und Schwindelanfälle", log sie. "Könnte ich heute frei haben, damit ich ...."
"Gehen Sie zum Arzt, Miss Tymon", fiel ihr ihr Vorgesetzter gleich ins Wort. "Vielleicht stimmt etwas nicht mit Ihrem Hörgerät. das kann auch ein Grund für Schwindelanfälle sein. Falsche Einstellung oder so was."
"Ja, Mr. Minsky, das werde ich tun", versprach sie aufatmend.
"Vielleicht haben Sie auch einen Virus erwischt", vermutete Minsky. "Sie sind jetzt schon die dritte, die sich heute mit Kopfschmerzen und Schwindel entschuldigt. Kurieren Sie sich aus, damit Sie möglichst bald wieder fit sind. Hier liegt ein Haufen Arbeit für Sie bereit."
"Oh, ich denke nicht, dass es so schlimm ist. Ich werde sehen, was der Arzt sagt." Erleichtert legte sie auf.

Ihr erster Weg führte sie ins Krankenhaus. Dort erwartete sie der nächste Schock. Hinter einem Schreibtisch voll Papieren saß eine grauhaarige, füllige Krankenschwester. Als sie nach Dr. Stanley fragte, erklärte diese:
"Dr. Stanley ist letzte Nacht verstorben. Seine Verletzungen waren wirklich ... Oh! Geht es Ihnen nicht gut?" Die Schwester kam erstaunlich schnell hinter ihrem Tisch hervor und bugsierte Linda in einen Stuhl. "Sind Sie eine Verwandte?", fragte sie mit einem bedauernden Lächeln.
Linda musste erst einmal tief durchatmen. Die Endgültigkeit dieser Nachricht hatte sich wie ein eiserner Ring um ihr Herz gelegt. "Nein, ich bin ... ich war eine Patientin. Dr. Stanley war wirklich sehr ... sehr um mich bemüht." Dankbar nahm sie das Glas Wasser, das ihr die Schwester wortlos reichte. Dann erhob sie sich. "Vielen Dank. Nun, ich ... wenn Dr. Stanley ..." Sie zuckte mit den Schultern und ging.

Eine Weile ging sie ziellos durch die Straßen. Plötzlich fand sie sich im Stadtpark wieder. Ein Gärtner war dabei, den Rasen zu mähen. Linda liebte den Geruch frisch geschnittenen Grases. Sie setzte sich auf eine Bank und überlegte. Wie konnte sie herausfinden, wer Mr. Crocks Neffe war? Ein kalter Hauch strich an ihr vorbei und die Härchen in ihrem Nacken richteten sich steil auf. Automatisch zog sie die Schultern hoch und schloss den obersten Knopf ihrer Jacke. Doch die Kälte blieb, besonders auf ihrer linken Seite. Langsam drehte sie den Kopf nach links.
Ein kleiner, alter Mann saß neben ihr auf der Bank. Atemlos vor Entsetzen erkannte sie den Mann aus ihrem Traum. Sie wollte davon laufen, aber wie in ihrem Traum, war sie unfähig sich zu bewegen. Jetzt drehte auch er ihr den Kopf zu und der Blick seiner schrecklich brennenden Augen bohrte sich tief in ihre Seele. Vor ihrem geistigen Auge erschien ein Grabstein mit der Aufschrift: "Joseph Crock - Optikermeister - Ruhe in Frieden"
Ein dünnes Lächeln erschien auf dem alten Gesicht. Dann löste sich die Gestalt auf. Die Kälte schwand. Nur in Lindas Kopf dröhnten abwechselnd zwei Worte: "Frieden! Bezahlen! Frieden! Bezahlen!"
"Aufhören!", keuchte Linda und hielt sich die Ohren zu. Aber es half nichts. Taumelnd kam sie auf die Füße. Nur weg von hier! Sie musste unbedingt den Neffen Mr. Crocks finden. Im selben Moment, indem sie diesen Gedanken gefasst hatte, verstummte die Stimme.
Das war ein Geist, stellte ihr Gefühl fest. Es gibt keine Geister!, schrie ihr Verstand. Und was war das dann!, hielt ihr Gefühl dagegen. Der Verstand schwieg.
Auch an Linda war die Esoterikwelle nicht spurlos vorbei gegangen. Sie hatte sogar ein Meditationsseminar besucht und ein paar Bücher gelesen. Wiedergeburt, Nahtoderfahrungen und auch erdgebundene Geister waren die Themen. Mr. Crock war ein Geist, der keine Ruhe fand. Nun, das Buch hatte auch einige Lösungsvorschläge für solche Fälle gebracht. Sie hatte das Hörgerät nicht bezahlt, deshalb war sie ihm etwas schuldig und sie würde auch versuchen, ihm zu helfen.
Wo sollte sie anfangen? Der Friedhof! Er lag am Rande der Stadt. Mit einem Taxi ließ sie sich hinbringen.
Vor dem Friedhof gab es einige Blumenhandlungen. Dort kaufte sie ein kleines Bouquet und eine Kerze. Ihr nächster Weg führte sie in die Friedhofsverwaltung. Sie lag in einem eingeschossigen Backsteingebäude mit kleinen, vergitterten Fenstern. Dementsprechend dunkel war es drinnen. Der Duft von Chrysanthemen und Buchsbaum lag in der Luft. die farbenfrohe Bluse und das junge, frische Gesicht der Angestellten bildeten dazu einen angenehmen Kontrast. Linda fragte sich, was eine junge Frau bewegen konnte, hier zu arbeiten.
"Was kann ich für Sie tun?", fragte das Mädchen und zeigte eine Perlenreihe kleiner, weißer Zähne als sie lächelte.
"Ich suche das Grab von Mr. Crock, Joseph Crock", bat Linda.
Das Mädchen warf einen flüchtigen Blick auf das Bouquet und entfaltete einen abgegriffenen Plan des Friedhofs auf dem Schreibtisch. Ein rosa lackierter Fingernagel tippte auf eine bestimmte Stelle. "Reihe 16, Grab 5. Wenn Sie von der Tür geradeaus gehen, kommen Sie zu Reihe 11. Es stecken kleine Tafeln mit den Nummern in der Erde. Wenden Sie sich nach rechts. Mr. Crock hat schon einen Grabstein. Sie werden das Grab leicht finden."
Linda prägte sich den Weg ein und zögerte. "Können Sie mir sagen, woran Mr. Crock gestorben ist? Ich habe erst vor kurzem von seinem Tod erfahren."
"Oh! Haben Sie es nicht in der Zeitung gelesen?" Eine steile Falte bildete sich zwischen ihren sorgfältig gezupften Brauen. "Ein Junkie überfiel seinen Laden und erstach ihn." Sie legte den Kopf schief in Erwartung weiterer Fragen.
Vor Lindas innerem Auge erschien der zerstochene Oberkörper des Optikers, wie sie es im Traum gesehen hatte. "Könnten Sie mir vielleicht die Telefonnummer Mr. Crocks Neffen geben?
Die Freundlichkeit der Angestellten kühlte um einige Grade ab. "Aus welchem Grund?"
"Es ist wegen eines Hörgeräts. Ich habe es zur Reparatur gebracht und dafür ein Ersatzgerät bekommen ..." Sie zuckte mit den Schultern. "Ich habe gehört, dass Mr. Crocks Neffe das Geschäft nicht weiterführen will. Nun möchte ich diese Sache regeln."
"Ah, ja", machte das Mädchen, wieder etwas freundlicher. "Ich werde Mr. Crocks Neffen anrufen und ihm die Sache erzählen. Wenn Sie zurück kommen, kann ich Ihnen sicher schon sagen,. ob er einen Kontakt mit Ihnen wünscht. Sie müssen verstehen, dass wir nicht einfach so Telefonnummern weiter geben dürfen." Nun lächelte sie wieder.
"Ja, natürlich", nickte Linda und verließ das Haus.
Das Grab war leicht zu finden. Und es sah genauso aus wie in dem Gedankenbild im Park. die Erde war ein wenig eingefallen und ein verwelkter Kranz lag schief auf den Schollen. Linda legte das Bouquet auf den kleinen Hügel und schob auch den Kranz zu Recht. Nun die Kerze. Da sie kein Feuerzeug hatte, entzündete sie sie an dem Ewigen Licht des Nachbargrabes. Dann grub sie ein kleines Loch und steckte sie hinein. In einem kurzen Gebet bat sie um Frieden für den Verstorbenen.
Sie hatte kaum das letzte Wort gesprochen, da ließ sie ein eisiger Windstoß erschauern. Crocks Gesicht schwebte riesengroß direkt vor ihrem Gesicht. Die brennenden Augen bohrten sich in Lindas, umfingen sie, nagelten sie fest.
"Du wirst mir Frieden bringen", dröhnte es in ihren Ohren. "Ich habe dein Gehör wieder hergestellt. Dafür wirst du bezahlen."
"Das will ich doch", flüsterte Linda. Ihre Kehle war vor Angst wie zugeschnürt.
Der Mund der Erscheinung verzog sich zu einem Grinsen und zeigte fleckige Zähne. Nur langsam löste sich das Gesicht auf und ebenso schwand die Kälte. Mit bleiernen Füßen schleppte sie sich zurück zur Friedhofsverwaltung.
Das Mädchen hob besorgt die Brauen als sie sie sah. "Wollen Sie ein Glas Wasser? Sie sehen blass aus."
Lächelnd lehnte Linda ab. "Haben Sie mit Mr. Crocks Neffen gesprochen?"
"Oh ja. Er ist einverstanden, dass Sie mit ihm Kontakt aufnehmen." Sie schob Linda einen kleinen Zettel mit einem Namen und einer Telefonnummer hin.
Nachdenklich begab sie sich auf den Heimweg. Mr. Henry Fowler, stand auf dem Zettel. Was sollte sie ihm sagen? 'Hallo, ich hab ein Hörgerät gestohlen.' Nein, so nicht. 'Ich habe ein Hörgerät gekauft, aber noch nicht bezahlt.' Nein, so schon gar nicht. Grübelnd schlenderte sie die Straße hinunter zur Bushaltestelle. Der Zettel brannte in ihrer Tasche als der Bus sie zurück ins Zentrum der Stadt brachte. Als sie ausstieg, sah sie eine Telefonzelle auf der anderen Straßenseite und ging hinüber. Einmal musste es ja sein, also am besten gleich, entschied sie und wählte die Nummer.
"Fowler", meldete sich eine sonore Stimme.
"Hallo, Mr. Fowler", begann sie beherzt. "Hier ist Linda Tymon. Ich habe bei Mr. Crock ein Hörgerät zur Reparatur gegeben und er hat mir dafür ein Ersatzgerät gegeben. Nun habe ich erfahren, dass Mr. Crock verstorben ist und Sie das Geschäft nicht weiter führen..."
"Richtig. Ich bin kein Optiker. Ich kann ja mal Onkel Sephs Unterlagen durchsehen. Vielleicht finde ich Ihr Gerät. Vielleicht hat er es schon repariert und wenn nicht, dann können Sie es ja zu einen anderen Optiker bringen. Für das Ersatzgerät müsste ich Ihnen aber etwas verrechnen."
"Ja, natürlich, Mr. Fowler", stimmte Linda gleich zu. "Wo könnte ich Sie treffen, damit wir die Sache besprechen können?"
"Ich könnte zu Ihnen kommen, wenn es Ihnen nichts ausmacht", schlug Fowler vor.
Linda schnappte erst einmal nach Luft. "Nun, das halte ich nicht für eine gute Idee", lehnte sie kühl ab. "Kennen Sie das Polly's Lodge?" Das war ihr Lieblingslokal. Jede Kellnerin kannte sie dort mit Namen. "Haben Sie heute Zeit? 16 Uhr?"
"Hm, naja, ich werde dort sein", stimmte Fowler zu, wobei seine stimme ein wenig missmutig klang.
Linda beschrieb ihm ihre Kleidung, Jeans, eine weiße Hemdbluse und eine dicke, blaue Strickjacke und machte sich auf den Weg.
Die Sonne stand hoch im Zenit. Sie hatte also noch einige Stunden Zeit. Gemächlich ging sie nach Hause und machte sich ein paar Sandwichs. ein eigenartiges Gefühl beschlich sie dabei als beobachte sie jemand. Ihre Wohnung lag in der ersten Etage. Da konnte sicher kein Passant durch ihr Fenster sehen. Und gegenüber war eine Sporthalle mit einem Glasdach, keine Fenster zur Straße. Es gab keinen Grund, sich unbehaglich zu fühlen, trotzdem...
Mit akribischer Genauigkeit begann sie, ihre Küche aufzuräumen. Plötzlich fuhr ein eisiger Windhauch durch den Raum und ihre Nackenhaare stellten sich auf.
"Ich bleibe bei dir bis du bezahlt hast", flüsterte Crocks Stimme in ihrem Kopf.
Linda wurde ganz steif vor Grauen. Noch eine Stunde bis zu dem Treffen mit Fowler. Nur um die Zeit tot zu schlagen schaltete sie den Fernseher ein. Es lief gerade eine Talk-Show. Linda hasste Talk-Shows, aber es war besser als diese fürchterliche Stimme zu hören.

Polly's Lodge war an diesem Nachmittag gut besetzt, aber nicht überfüllt. Erfreulicherweise war ihr bevorzugter Tisch an einem der großen Fenster frei. Eben hatte ihr die Kellnerin ihren Kaffee serviert, da setzte sich ein etwa 35jähriger Mann in einem graublauen Anzug zu ihr.
"Sie müssen Miss Tymon sein", sagte er und lächelte sie an.
Sie konnte keine Ähnlichkeit mit seinem Onkel entdecken. Er war einfach ein gutaussehender Mann, der sich mit der Geschmeidigkeit eines gut trainierten Sportlers bewegte. "Mr. Fowler?", vergewisserte sie sich dennoch und er nickte. "Nun, sie wissen ja", fuhr sie fort. "Es handelt sich um das Hörgerät ..."
"Oh ja. Am besten wird sein, Sie geben mir 800 Dollar und wir sind quitt", unterbrach er sie und legte fragend den Kopf schief.
Peinlich berührt bemerkte Linda, dass sein Blick immer wieder von ihrem Gesicht zu ihrem Ausschnitt schweifte. Und dann dieser Preis! Ihre Miene verschloss sich. "Das Gerät, das ich von Mr. Crock habe, kostet 498 Dollar wenn es neu ist und es war gebraucht. Außerdem haben Sie noch mein defektes Gerät, das auch einen gewissen Wert darstellt", entgegnete sie kühl.
Für einen Moment blitzten seine Augen zornig auf. "Da hab ich wohl etwas verwechselt", lenkte er dann ein. "Ich bin eben kein Optiker, tut mir Leid."
Heiße Wut stieg in ihr auf. Er hatte versucht, sie über den Tisch zu ziehen! Das sollte er büßen. Was bildete er sich eigentlich ein?! Dafür sollte er büßen. Nie wieder sollte er eine Frau so ansehen. Nie wieder!
"Miss Tymon! Bitte beruhigen Sie sich!", drang aus weiter Ferne eine Stimme zu ihr durch. "Bitte, geben Sie mir den Aschenbecher, Miss Tymon, bitte!"
Verwundert sah sie sich um. Oh, das war Polly's Lodge. Aber warum war der Tisch umgeworfen? Und ein Stuhl war auch zerbrochen. Am Boden lagen Glassplitter ... Ihre Schultern wurden schmerzhaft nach hinten gedrückt. Sie konnte sich gar nicht bewegen. Und sie stand inmitten einer schweigenden Menschenmenge.
"Bitte, lassen sie mich los!," bat sie und ihre Stimme klang dünn und zittrig.
"Zuerst geben sie meinem Kollegen den Aschenbecher", forderte eine Stimme hinter ihr.
"Aschenbecher?" Ihr Blick glitt zu ihrer rechten Hand. Ja, sie hatte einen schweren Porzellanaschenbecher in der Hand. Und vor ihr stand ein Polizist und streckte ihr seine Hand entgegen. Plötzlich schien die kleine Keramikschale zentnerschwer zu wiegen. Es kostete ihr eine unendliche Anstrengung, die Hand zu heben. Doch dann hatte der Polizist den Aschenbecher und stellte ihn sacht aufs Fensterbrett. Erschrocken bemerkte sie erst jetzt, dass das Fenster zerbrochen war.
"Was ist hier geschehen?", flüsterte sie. Verzweifelt suchte sie ein bekanntes Gesicht. Da! Das war doch Betty, eine der Kellnerinnen. Warum wich sie ihrem Blick aus.
"Wissen Sie es nicht, Miss Tymon?", fragte der Polizist.
Sie konnte nur den Kopf schütteln. "Ich war hier mit einem Herrn verabredet .... Wo ....?"
"Ihr Freund ist gegangen. Sie haben ....." Seine Hand beschrieb eine Geste die das Chaos vor ihr einschloss.
"Er ist nicht mein Freund", korrigierte sie matt. "Ich bin ihm Geld schuldig. Er verlangte viel zuviel ....." Dann brach mit ungeheurer Wucht die Erkenntnis über sie herein, was der Officer angedeutet hatte. "Was habe ich? Das kann doch nicht sein! Nein! Bitte, sagen Sie mir, was hier passiert ist!"
"Du kannst sie jetzt loslassen, Hal", sagte der Polizist und der Druck auf Lindas Schultern wich. "Sie kommen mit uns mit. Bitte, machen Sie keine Schwierigkeiten. Wir bringen Sie ins Krankenhaus."

Eine Stunde später lag sie in einem weißen Bett. Ihre Hände und Füße waren mit breiten Stoffbändern am Bett festgebunden. Sie halten mich für verrückt!, schoss es ihr durch den Kopf. Ihre Hüfte schmerzte von der Spritze, die ihr ein weißhaariger Arzt verabreicht hatte. Warum sagte ihr niemand, was passiert war? Sie konnte sich nicht erinnern. Die Augen fielen ihr zu. Gnädiges Dunkel umhüllte sie.
"Linda!" Die befehlende Stimme ihres Vaters beendete abrupt ihre schönen Träume. Nein, sie wollte noch weiter schlafen. Brummelnd drehte sie sich auf die andere Seite. Wo war nur ihr Teddybär? Suchend tastete ihre Hand danach.
"Linda! Wach auf!", drang es schneidend in ihr benebeltes Bewusstsein.
Das war gar nicht ihr Vater. Und sie war auch kein Kind mehr und auch nicht zu Hause. Nun nahm sie auch den Geruch von Chemikalien wahr. Vorsichtig öffnete sie die Augen. Weiße Wände, ein weißes Bett, eine weiße Tür, ein weißes Waschbecken in einer Ecke. Das ist ein Krankenhaus, schoss es Linda durch den Kopf. Warum war sie nur hier? Irgendetwas Schlimmes war passiert. Ihr Hörgerät spielte dabei eine Rolle. Ach ja! da war doch auch ein Mann, in Polly's Lodge, und ein Aschenbecher, eine zerbrochene Fensterscheibe....
"Linda! Du musst bezahlen!", dröhnte Mr. Crocks Stimme durch ihren schmerzenden Schädel. "Steh auf! Du musst ihn finden und für sein Verbrechen bestrafen."
"Was?" Verwundert wollte sie sich aufrichten und wurde von breiten Leinenbändern an ihren Handgelenken zurück gehalten. "Wen soll ich bestrafen?" Sie erinnerte sich jetzt immer mehr an die letzten Ereignisse und die Angst hob ihr hässliches Gesicht, Crocks Gesicht mit diesen schrecklichen, brennenden Augen. Mitten im Zimmer schwebte dieses Antlitz.
"Meinen Mörder!", gellte es in Lindas Ohren. Nun konnte sie auch seinen mageren Oberkörper sehen, die runzlige Haut mit den klaffenden Wunden.
Eine Eisenfaust schien Lindas Kehle zusammen zu drücken. Verzweifelt schnappte sie nach Luft. In diesem Moment ging die Tür auf und ein junger Mann kam herein.
"Guten Morgen, Miss Tymon." Er ging mitten durch Mr. Crocks zerstochenen Oberkörper und setzte sich auf einen Stuhl neben Lindas Bett. "Wie geht es Ihnen? Ich bin Detektiv Wheeler."
"Besser, denke ich", antwortete sie. "Könnten sie diese Dinger abmachen?" Sie hob eine Hand. Zweifelnd wiegte er den Kopf. "Bitte! Ich habe nicht die Absicht irgendetwas Gewalttätiges zu tun."
"Zuerst möchte ich Ihnen ein paar Fragen stellen", lenkte er ein. "Dann sehen wir weiter. Warum haben sie Mr. Fowler angegriffen?"
"Ich habe ihn angegriffen?" Linda kramte in ihrer Erinnerung, aber da war nur ein schwarzes Loch. "Ich kann mich nur erinnern, dass ich mit Mr. Fowler am Tisch saß. Das Nächste war, dass die Scheibe zerbrochen war und jemand mich fest hielt. Waren Sie das?"
"Äh, ja." Wheeler räusperte sich. "Sie haben Mr. Fowler ein Glas gegen den Kopf geworfen, den Tisch in die Scheibe geknallt und dann wollten Sie ihm mit dem Aschenbecher den Rest geben. Ich war zufällig mit meinem Partner im Lokal und habe alles gesehen."
"Nein." Linda schüttelte energisch den Kopf. "Warum hätte ich das tun sollen? Außerdem ist der Tisch viel zu schwer für mich."
"Nun." Der Polizist zuckte mit den Schultern. "Sie werden sich mit dem Gedanken anfreunden müssen, dass sie es getan haben. Dafür gibt es ja noch mehr Zeugen. es fragt sich nur, warum Sie ausgerastet sind. Sie sagten, Mr. Fowler ist nicht ihr Freund. Was wollte er von Ihnen oder Sie von ihm?"
"Es war wegen meines Hörgeräts." Prüfend sah sie Wheeler an, aber der Blick des Polizisten ruhte ruhig und aufmerksam auf ihr. "Könnten Sie eine, nun ja, ungewöhnliche Erklärung akzeptieren?", fragte sie vorsichtig.
"Versuchen Sie's doch mal."
Noch immer konnte sie kein Anzeichen von Misstrauen oder Unglauben entdecken. Oh Gott! In den letzten Tagen war soviel passiert, das eigentlich gar nicht hätte passieren können. Und sie hatte niemanden gefunden, mit dem sie darüber reden konnte. Dieses freundliche, offene Gesicht ließ alle Barrieren brechen. Und so erzählte sie alles, was sie erlebt hatte seit sie dieses unselige Hörgerät in ihr Ohr gesteckt hatte.
Er unterbrach sie kein einziges Mal. Als sie fertig war, stützte er die Ellenbogen auf die Knie und legte die Fingerspitzen gegeneinander. "Also, was haben wir?", rekapitulierte er dann. "Ein Hörgerät, das in Ihrem Ohr verschwindet und ihr Hörprobleme löst und einen Geist, der Rache für seine Ermordung fordert. Ihr behandelnder Ohrenarzt ist tot und alle Unterlagen zu Ihrer Erkrankung wurden durch ein Feuer vernichtet. Wer kann denn bezeugen, dass sie tatsächlich hörbehindert waren?"
"Mr. Minsky", kam es wie aus der Pistole geschossen. "Er ist mein Vorgesetzter in der Bank."
"Das werde ich überprüfen." Geschmeidig erhob er sich und wandte sich zum Gehen.
Crocks Gesicht erschien auf dem breiten Rücken des Beamten. "Steh auf, Linda! Der Mörder läuft frei herum. Er muss sterben!"
"Der Mörder läuft frei herum", wiederholte sie tonlos. "Er muss sterben."
Wheeler fuhr herum. "Was sagten Sie?"
"Der Mörder läuft frei herum. Er muss sterben." Entsetzt schlug sie die Hand vor den Mund.
"Sie irren, Miss Tymon", erklärte der Polizist ruhig. "Wir haben den Mörder gefasst. Es ist ein junger Junkie. Er wollte Mr. Crock ausrauben."
"Der war es nicht!", dröhnte Crocks Stimme durch Lindas Kopf.
"Der war es nicht", kam es noch einmal aus ihrem Mund. Doch jetzt war ihre Stimme tief und knarrend, die Stimme eines alten Mannes.
"Langsam glaube ich Ihnen", sagte er schief grinsend. "Aber sagen Sie das nicht meiner Dienststelle."
Dann fiel die Tür hinter ihm zu und sie war wieder allein. Auch die Erscheinung hatte sich aufgelöst. Allein mit ihrem Entsetzen. Crock hatte durch sie gesprochen. Es dauerte lange, bis sie die Gänsehaut verließ.
Eine vage Erinnerung blitzte auf. Dieses Lächeln. Wo hatte sie es schon gesehen? Grübelnd lag sie im Bett und beobachtete eine Fliege, die übers Fensterbrett krabbelte. Es wollte ihr nicht einfallen.

Eine Woche und eine Anzahl gründlicher Untersuchungen später wurde sie entlassen. Detective Wheeler erwartete sie vor dem Tor.
"Kommen Sie mit mir aufs Revier", bat er höflich und hielt ihr die Tür eines silbergrauen Wagens auf.
"Bin ich jetzt verhaftet?", fragte sie erschrocken.
"Nein." Wieder dieses Lächeln. und jetzt erinnerte sie sich, wo sie das schon gesehen hatte. Es war ein Esoterik-Seminar gewesen, das sie belegt hatte.
Wheeler führte sie in ein winziges Abteil, das vom Rest des Reviers durch eine dünne Wand, die zur Hälfte aus Glas bestand, abgetrennt war. Ein Schreibtisch, ein Aktenschrank und zwei Stühle. Damit war der vorhandene Raum nahezu verbraucht.
"Ich erinnere mich jetzt an Sie, Detective. Endlich ist es mir eingefallen", sagte Linda als sie ihm in dem engen Gelass gegenüber saß. "Sie haben an Professor Chandras Seminar teilgenommen."
"Shshsh!" Verschwörerisch legte er den Zeigefinger gegen die Lippen. "Nicht so laut. Meine Vorgesetzten sind von solchen Aktivitäten nicht gerade begeistert." Misstrauisch lugte er zwischen den Lamellen der Jalousie durch, die vor der Glasscheibe hing. "Ich hab mich ein wenig umgehört während Sie im Krankenhaus waren. Nun hätte ich nur gern gewusst ...."
Linda seufzte. Fragen, Fragen und wieder Fragen. "Was wollen Sie noch wissen?"
"Wie wollen Sie weiter vorgehen? Ich habe Ihre Geschichte überprüft. Sie stimmt in allen wesentlichen Punkten. Nur eins ist mir unklar. Sie haben behauptet, dass Caleb Malloy nicht der Mörder Joseph Crocks ist. Wie kommen Sie darauf? Der Junge wurde vor Crocks Laden aufgegriffen, eine halbe Stunde nach der Tat. Er hatte das blutige Messer noch bei sich. Und er hat ein Geständnis abgelegt."
Ängstlich sah sich Linda um und beugte sich dann vor. "Crock hat es mir gesagt", flüsterte sie.
"Sein Geist?", fragte Wheeler.
"Mhm", nickte sie. "Er war so sicher."
"Warum haben Sie mir das nicht gleich im Krankenhaus gesagt? Alles andere haben Sie mir doch auch erzählt."
"Er ließ es nicht zu. Ich wollte sprechen, konnte aber nicht. Detective, ich habe Angst." Lindas Hände begannen zu zittern. "Er spricht immer vom Bezahlen. Da dachte ich an das Hörgerät. Was soll ich denn jetzt tun? Ich habe von Mr. Fowler nichts mehr gehört ..."
"Ich habe mit ihm gesprochen. Er möchte die Sache so schnell als möglich hinter sich bringen. Als Treffpunkt hat er Mr. Crocks Laden vorgeschlagen. sie könnten dann gleich nachsehen, ob Sie ihr altes Hörgerät dort finden. Er hat von einer Anzeige Abstand genommen. Ehrlich gesagt, hat mich das gewundert, da Sie einander ja gar nicht kennen. Aber, so ist es nun mal und für Sie ist es sicher nur gut."
Ein großer Stein fiel von Lindas Herzen. Aber schon türmte sich die nächste Hürde auf. Der Gedanke, mit Fowler allein in diesem kleinen Laden zu sein, behagte ihr gar nicht. Wenn jemand sie begleiten könnte .....
Der Polizist sprach ruhig weiter. "Allerdings wollte er auf Nummer Sicher gehen, dass nicht noch einmal so eine Sache passiert. Deshalb hat er vorgeschlagen,. dass ich an diesem Treffen teilnehme, falls Sie nichts dagegen haben."
"Oh nein, nein. Ganz und gar nicht", rief sie schnell. "Ich bin sehr froh, wenn Sie mitkommen. Auch ich will mit Mr. Fowler nicht allein sein."
"Meiner Ansicht nach hat Mr. Crocks Geist Sie übernommen. Man könnte sagen, er hat ihren Körper benutzt. Mag ja sein, dass er seinen Neffen nicht mochte. Ich werde auf Sie aufpassen und falls er wieder einen Angriff startet, habe ich einige gute Ideen parat." Er lächelte ihr aufmunternd zu. "Rufen Sie am besten gleich Mr. Fowler an." Damit schob er ihr das Telefon hin und einen Zettel mit Fowlers Nummer.
Linda atmete einmal tief durch, dann wählte sie die Nummer. Fünf Minuten später stand der Termin fest. Morgen vormittags, 9 Uhr in Mr. Crocks Laden.
"Ich hole Sie um 8 Uhr 30 von zu Hause ab", versprach der Beamte und lächelte sie wieder an. "Und jetzt bringe ich Sie nach Hause."
Vor ihrer Haustür hielt er sie noch einmal auf. "Wenn der Junge nicht Crocks Mörder ist, wer ist es dann? Hat Crock Ihnen einen Namen gesagt?"
Stumm schüttelte sie den Kopf und sperrte die Tür auf.

Als sie die Wohnungstür hinter sich schloss, atmete Linda zuerst einmal auf. das war ihr Reich, ihre Burg, ihre Zuflucht. Endlich zu Hause. Sie ließ sich in einen Polstersessel fallen und wollte ihr Hörgerät aus dem Ohr nehmen. Aber da war kein Hörgerät. Die fernen Geräusche von der Straße, das Knacken des Hauses, sie konnte es nicht aussperren. Wie eine eiskalte Dusche überfiel sie die Realität.
Die Tage im Krankenhaus hatten ihr Ruhe und Entspannung gebracht. Der tote Optiker war ihr nach dem Gespräch mit Wheeler nicht mehr erschienen. Sie hatte sich in einer scheinbaren Normalität sicher gefühlt. Das war jetzt vorbei. Sie konnte Crock nicht entkommen, bis sie bezahlt hatte, das wusste sie mit schmerzhafter Deutlichkeit. Und jetzt wartete sie fast darauf, sein runzliges Gesicht mit den brennenden Augen zu sehen.
Nur um sich abzulenken checkte sie den Inhalt ihres Kühlschranks und die anderen Vorräte. Die Milch war sauer und der Streichkäse hatte Schimmel angesetzt. Das Steak schillerte grün und roch nach Verwesung. Angewidert warf sie alles in den Müll. Ein kleiner Topf mit Gemüsesuppe kam ihr auch suspekt vor. Sie schüttete die Suppe in die Toilette und wusch den Topf aus. Dann bereitete sie sich aus den vorhanden Lebensmitteln eine einfache Mahlzeit.
Bei all diesen Tätigkeiten hatte sie immer wieder den Drang, über die Schulter zu schauen. Jeden Moment erwartete und fürchtete sie, den Geist zu sehen oder auch nur zu hören. Aber alles blieb ruhig. Vielleicht war es ja doch vorbei? Gegen Abend schaltete sie den Fernseher ein. Es lief gerade ein Bericht über ein Naturschutzgebiet in Afrika. dankbar, dass es keine Talk-Show war, folgte Linda den Ausführungen des Wissenschafters. Danach sah sie noch Nachrichten.
"Das reicht für heute", sagte sie leise zu sich selbst und machte sich fertig zum Schlafengehen. Crock hatte sie nicht behelligt.
Doch als sie im Bett lag und das Licht ausgeschaltet hatte, erschien sein Gesicht vor ihr. Es hing einfach in der Luft und starrte sie an. "Morgen wirst du bezahlen, Linda", sagte es. "Schlaf gut, Linda!" Damit verschwand es.
Schreckensstarr lag sie da, unfähig auch nur einen Finger zu rühren. Ja, sie würde bezahlen, auch wenn Fowler auf 800 Dollar bestand. Wenn nur dieses entsetzliche Gesicht aus ihrem Leben verschwand.

Vogelgezwitscher und strahlender Sonnenschein begrüßte Linda am nächsten Morgen. Trotzdem fühlte sie sich bedrückt. Ungeduldig wartete sie auf den Detective. Als es um Punkt 8 Uhr 30 an ihrer Tür läutete, lief sie gleich die Treppe hinunter.
Wheeler begrüßte sie mit einem aufmunternden Lächeln. "Haben Sie alles, was Sie brauchen?"
"Fast. Es wäre nett, wenn sie beim nächsten Bankomat stehen bleiben könnten. Ich muss Mr. Fowler ja das Hörgerät bezahlen." In seiner Gegenwart lockerte sich ihre Beklemmung erheblich. Dieser Beamte strahlte etwas aus, das ihr Kraft gab. Ob das etwas mit der Silberkette zu hatte, die sie durch den offenen Hemdkragen an seinem Hals sah? Sie konnte sich nicht erinnern, sie schon einmal an ihm gesehen zu haben. Es musste etwas Schweres an dieser Kette hängen, denn sie schnitt tief in die Haut.
Wheeler fing ihren Blick auf. "Das ist ein Talisman", erklärte er ruhig.

Der kleine Laden schien, von der Straße aus gesehen, unverändert. Doch als sie eintraten, sah Linda, dass die Regale und Vitrinen ausgeräumt waren. Das Lokal wirkte wie ein Mensch, dem man gewaltsam die Kleider vom Leib gerissen hatte, nackt, verletzt, misshandelt. Es tat weh, diesen entkleideten Raum zu sehen.
Ihr Blick fiel auf Fowler, der einen frostigen Gruß von sich gegeben hatte. Dieser geldgierige Faulpelz! Sicher hatte er das Geld, das er für die Waren bekommen hatte, mit seinen sauberen Freunden verprasst. Warum hatte er nicht warten können? Dafür hatte er Strafe verdient. So ein Bastard hatte gar kein Recht auf Leben.
"Miss Tymon!", drang die Stimme des Polizisten in Lindas Bewusstsein. Ein schwerer Vorhang hob sich und dann war Wheelers Hand vor ihren Augen. Sie hielt eine Silberkette, an der ein nussgroßer, ungeschliffener Amethyst hin und her baumelte. "Miss Tymon! Geht es Ihnen wieder gut?" Er drehte sich zu Fowler um, der kreidebleich am Tresen lehnte. "Könnten Sie Miss Tymon ein Glas Wasser bringen?"
Es sah schon nach Flucht aus als er in den hinteren Teil des Ladens verschwand. Linda fühlte sich unendlich schwach. Am liebsten hätte sie sich auf den Fußboden gesetzt. Wieder reagierte Wheeler blitzschnell. Sein kräftiger Arm stützte sie. Gleichzeitig schob er sie auf einen Stuhl zu, der vor einem kleinen Tisch stand.
"Was habe ich getan?", fragte sie und erschrak über ihre piepsige Stimme.
"Noch nichts", beruhigte der Polizist sie. "Aber Sie waren drauf und dran. Es muss etwas mit Fowler zu tun haben. Irgendein nicht geschlichteter Streit zwischen ihm und seinem Onkel."
"Was ist mit meinem Onkel?", fragte Fowler, der mit einem Glas Wasser zurück kam. er stellte es vor Linda auf den Tisch und setzte sich auf einen Hocker hinter dem Tisch. Man konnte ihm ansehen, dass er sich hinter dieser Barriere nicht sicher fühlte.
"Hatten Sie einen Streit mit ihrem Onkel, kurz bevor er ermordet wurde?", fragte Wheeler.
"Das geht Sie doch nichts an", kam die patzige Antwort. "Diese Person soll ihre Schulden bezahlen und verschwinden. Ich hoffe auch, dass ich sie nie wieder sehe."
Als hätte das Wort 'bezahlen' eine unsichtbare Tür geöffnet, hing plötzlich Crocks Gesicht zwischen den drei Menschen und jeder konnte ihn sehen. Fowler wurde noch blasser und auch Wheeler verlor ein wenig Farbe.
"Bezahlen!", kreischte der Geist und glitt auf Linda zu. Abwehrend hob sie die Hände. Nein! Nein! Sie wollte ihn aufhalten und konnte es nicht.,

"Mörder! Mörder!", kam es kreischend aus ihrem Mund, aber es war Crocks Stimme. Ja, bezahlen. Heute war Zahltag. Keinen Tag sollte er sich länger an seinem Blutgeld freuen.
Die letzte Farbe wich aus Fowlers Gesicht. "Das kann doch nicht ...", stammelte er und hob abwehrend die Hände.
"Miss Tymon!" Das war Wheeler.
Zitternd suchte Linda seinen Blick. "Er kommt über mich", hauchte sie schwach. Vor ihr hing das fürchterliche Gesicht als permanente Drohung. Langsam glitt es auf sie zu. Sie wollte ausweichen, fliehen, aber ihre Füße waren wie fest gefroren. Etwas kroch in ihr Ohr und verschmolz mit ihr. Sie wehrte sich mit aller Kraft, vergeblich. Sein Hass und seine Rachsucht waren stärker.
"Linda! Sie müssen nicht ...", hörte sie noch Wheelers Stimme, dann schwemmte Crocks namenlose Wut alle anderen Eindrücke weg.
Lindas Augen suchten den Raum ab. Was konnte sie als Waffe verwenden? Der Bastard hatte alles gestohlen. Der Tisch. Ihre Hände stießen plötzlich kräftig gegen die Platte. Dadurch wurde der junge Mann vom Hocker gestoßen. Er prallte mit dem Hinterkopf gegen die Wand hinter ihm und rutschte halb betäubt zu Boden. Jetzt warf Linda den Tisch um, sodass die Kante auf seiner Brust zu liegen kam. Dazu brüllte sie Worte, die nicht in ihrem Kopf entstanden waren. Fowlers Schmerzensschreie entlockten ihr ein irres Gelächter. Sie konnte nichts Anderes mehr sehen, als den eingeklemmten Mann am Boden.
"Ich gebe es ja zu!", schrie der junge Mann. "Ja, ja, ich habe Onkel Seph getötet. Aber bitte, bitte, geh weg! Nicht diese Augen! Ahhhh...."
Gerade als sie sich auf den Tisch werfen wollte um ihm den Rest zu geben, fuhr ein eiskalter Speer durch ihren Körper, durch ihre Seele. Plötzlich konnte sie sich nicht mehr bewegen. Eine tiefe Müdigkeit kam über sie. Ihre Hände griffen nach dem nächstbesten Gegenstand, da sie Angst hatte, zu fallen. Es war eine knochige Schulter.
"Es ist vorbei, Miss Tymon", flüsterte eine ruhige Stimme in ihr Ohr. "Er hat gestanden. Mr. Fowler wird sich für den Mord vor Gericht verantworten."
Lindas Blick klärte sich. Der Polizist hatte einen Arm um ihre Mitte gelegt und hielt sie fest. Den anderen Arm hielt er weit von sich gestreckt und daran baumelte der Amethyst.
"Was haben Sie getan? Crock wollte, dass ich ihn umbringe. Aber ich will niemanden umbringen, auch keinen Mörder", sprudelte sie heraus. "Was geschieht jetzt mit mir? Ich habe ihn verletzt. Schwere Körperverletzung. Muss ich ins Gefängnis? Und der Geist! Crock! Wo ist Crock? Wird er wieder ....." Sie konnte nicht aufhören zu reden. Auch als einige Polizisten als Verstärkung eintrafen redete sie noch immer. Wheeler hatte sie wieder auf den Stuhl bugsiert und stand bei ihr. Seine Hand ruhte auf ihrer Schulter.
"Es ist alles gut, Miss Tymon", sagte er als ihr endlich die Luft ausging.
"Wie können Sie das sagen?", fragte sie und schielte nach seiner Hand mit dem Talisman.
"Deshalb." Er hob die Hand und Linda sah, etwas im Inneren des Kristalls, das sich unentwegt drehte und wand. "Da ist er jetzt drin. Ich kenne jemanden, der damit umgehen kann. er wird sie nicht mehr behelligen. Und mich auch nicht mehr."
Jetzt erst sah Linda, wie bleich Wheeler war. "Sie auch?", hauchte sie.
Der Polizist nickte. "Als ich ihn mit diesem Talisman aus Ihnen herausholte, war er kurz in mir. Er hat seinen Neffen schon immer gehasst. Er hielt ihn für einen faulen Schmarotzer. Fowler hatte eine Menge Spielschulden und als ihm sein Onkel kein Geld geben wollte, zog Fowler das Messer. Wir müssen jetzt nur noch herausbringen, wie es ihm gelungen ist, diesem armseligen Junkie die Tat anzuhängen."
Linda konnte nur nicken. "Ja, das habe ich auch gespürt. Ein hasserfüllter, alter Mann. Ich hoffe, dass er seine Ruhe findet."
Jetzt wurde Fowler mit einem Krankenwagen und in Begleitung eines Polizisten abtransportiert. Wheeler führte Linda aus dem Laden. Ein anderer Beamter verschloss die Tür und befestigte ein Polizeisiegel.
Einer plötzlichen Eingebung folgend fasste sich Linda ans Ohr. Ja, da war ein Hörgerät. Sie nahm es heraus und sah es verwundert an. Es war ihr eigenes. Vor ihr stand der Beamte und bewegte den Mund. Aber sie konnte kein Wort verstehen. Schnell steckte sie es wieder an seinen Platz.
"Ist das das Hörgerät, das Sie aus Crocks Laden genommen haben?", hörte sie jetzt Wheeler fragen.
"Nein, es ist mein eigenes", gab sie zurück und lächelte. Jetzt war sie ganz sicher, dass es vorbei war. "Darf ich Sie zum Essen einladen?", fragte sie mit einem schüchternen Blick. "Ich möchte jetzt nicht allein sein."
"Nur wenn ich die Rechnung übernehmen darf", antwortete er galant und bot ihr seinen Arm an.


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