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CENI

Folge 3

von Fred H. Schütz



3.


Der Mann war eine schwarze Silhouette in der Dunkelheit. Eine Aura von Gefahr ging von ihm aus, wie die Ausdünstung alten Schweißes und schlechten Atems. Er knurrte irgendetwas, das sie nicht verstand, in einem Ton, der sie an die Hunde des Marquis erinnerte, wenn sie sich um Futter balgten oder um eine läufige Hündin kämpften. Ceni hatte immer eine leise Furcht vor ihnen empfunden und war heilfroh, daß sie aus ihrem Zwinger nicht entkommen konnten.
Dann sah sie den Lichtreflex einer entfernten Straßenlaterne auf der Klinge in seiner erhobenen Hand und griff instinktiv zu. Sie war nicht kräftig genug, den Stoß abzuwehren, aber immerhin gelang es ihr ihn abzulenken, und das Messer, das auf ihr Herz zielte, fuhr ihr in den Leib. Ceni fühlte den eisig brennenden Schmerz und ihre Sinne schwanden.

Ganz im Gegensatz zum enthusiastisch schwärmenden Pol hatte Ceni die Reise nicht genossen. Moderne Jets wagen sich in die Stratosphäre vor, aber die Propellermaschine flog gerade so hoch, daß man die Erdkrümmung wahrnehmen konnte, wenn man aus dem Fenster blickte und war dem Wetter ausgesetzt. Niemals vorher hatte sie sich so krank gefühlt.
Schon auf dem Flughafen zuhause hatte das Dilemma begonnen. Das Menschengewimmel und der Lärm machten ihr Angst. Am liebsten wäre sie gleich umgekehrt, aber da waren Papá und Mamá die sich verärgert umschauten weil sie sich wieder einmal daneben benahm. Sie klammerte sich an Pols schützenden Arm und blickte bewundernd zu ihm auf. Wie konnte er nur so kühl und gelassen bleiben ...
Der Marquis hatte eine diplomatische Aufgabe übernommen, die ihn in das Land führte, wo die Leute nicht richtig englisch sprachen, in die Vereinigten Staaten. Da sich ein Diplomat aus Repräsentationsgründen von der Gattin begleiten lässt, gab die Marquise ihrem Herzen einen Stoß - das heißt ihrer Fülle einen Schwung - zumal er ihr versprach, sie zum Einkaufsbummel auf die Madison Avenue in New York City zu entführen. Was es auf der Madison Avenue nicht gibt ist nirgendwo sonst zu finden, und was es dort gibt ist in der Qualität unerreicht. Allein dafür lohnte sich für sie die Reise - was kümmerte sie langweiliges Diplomatengeschwätz!
Als Pol von den Reiseplänen erfuhr war er sofort Feuer und Flamme. "Papá, wir reisen mit!"
"Das kommt gar nicht in Frage, Sohn! Dies ist eine diplomatische Mission!"
"Aber du hast mir zum einundzwanzigsten Geburtstag eine Reise versprochen! Und ich möchte nunmal gerne nach Amerika!"
Der Marquis seufzte. "Schön, aber warum sollten wir deine Schwester mitnehmen? Die Närrin blamiert uns doch nur!"
"Sie ist nicht so dumm wie du denkst, Papá! Die Reise wird ihren Horizont erweitern - und außerdem werde ich mich um sie kümmern."
"Versprichst du mir das?"
"Hoch und heilig, Papá! Ich schwöre es!"
"Tue niemals einen Schwur von dem du nicht sicher bist, daß du ihn halten kannst," knurrte der Alte. "Schön, sie kann mitkommen. Aber auf dein Haupt komme das Übel, wenn sie uns doch blamiert!"
Ceni war gar nicht sicher, ob sie mitwollte. Den sicheren Hafen ihrer kleinen Welt verlassen und ins Unbekannte fahren war ein Wagnis, das ihr Furcht einflößte. Aber Pol beschrieb ihr die Reise in glühenden Farben. "Du wirst Dinge sehen, von denen du keine Ahnung hast, daß sie existieren, neue Menschen kennenlernen - du wirst sehen, es wird dir gefallen!"
Neue Leute, das war es gerade wovor sie sich am meisten fürchtete. Bisher war sie immer nur von einem runden Dutzend Menschen umgeben gewesen von denen die meisten sie haßten oder zumindest geringschätzig behandelten. Was konnte sie von Menschen erwarten, die sie nicht kannte?
Die Panikstimmung blieb auch nach der Landung, als sie sicheren Boden unter den Füßen hatte. Das Menschengewimmel und der Lärm vieler Stimmen bereiteten ihr Angst. Dazu kam, daß sie sie nicht verstand. Die Leute redeten in einer vehementen und überlauten Sprache, die nichts, aber auch gar nichts mit dem vertrauten Castellano gemein hatte.
Castellano, also kastilisch, nach Kastilien dem Herzland der spanischen Krone, ist die Sprache die man außerhalb der iberischen Halbinsel als Spanisch kennt.
Mamá ging es ebenso, und in der Not rückt man zusammen. Zum ersten Mal in ihrem Leben kamen Mutter und Tochter sich etwas näher. Das verdankten sie allerdings in erster Linie einem Modeverkäufer auf der Madison Avenue, der ein merkwürdiges spanisch sprach und Mamá mit immer ausgefalleneren Komplimenten überhäufte. "Por todos los santos - bei allen Heiligen, Sen?ora, Sie sehen keinen Tag älter aus als Ihre - Schwester!"
Das Resultat war ein Kleid für Ceni - "Alta costura - hochmodisch, Sen?orita! Sie sehen entzückend darin aus!" Ceni liebte das Kleid und behielt es gleich an. Sie ließ sich auch nicht von Pol beirren als der murrte, "Aunque la mona se vista de seda - du siehst aus wie ein Kleiderständer!"
Schließlich rief der Verkäufer, der, wie er ihnen verriet, aus Puerto Rico stammte, ein Taxi herbei, das sie in ihr Hotel in Washington zurückbrachte. Mamá lehnte es natürlich ab auf Tuchfühlung mit dem "gemeinen Volk" zu reisen - "Wer weiß was sie für Ungeziefer mit sich herumschleppen!"
Am nächsten Tag entführte Pol Ceni auf eine Besichtigungstour der Hauptstadt. Das Weiße Haus jenseits einer riesigen Rasenfläche erinnerte sie irgendwie an zuhause, obwohl ihr Schloß alles andere als weiß war und an einem Ende deutliche Zeichen von Verfall aufwies, und sie spürte ein merkwürdiges Gefühl das sie nicht deuten konnte. "Laß uns nach Hause gehen, Pol!"
"Was willst du denn im Hotel? Da hockst du doch nur rum und langweilst dich!"
"Nach Hause, Pol! Nicht das Hotel! Ganz nach Hause," sagte sie mit weinerlicher Stimme. Sie fühlte sich elend.
Pol sah es und wunderte sich. "Wieso nach Hause? Was willst du denn dort? Hier ist es doch schön!"
Am Washington Monument lud er sie ein nach oben zu klettern und die Aussicht zu genießen, aber sie lehnte ab. "Es macht mir Angst, Pol!"
Auch als er sie neckte - "Es ist doch kaum höher als dein Baum!" - blieb sie standhaft. "Nein, Pol!"
Dann standen sie vor dem riesigen Marmorbild eines bärtigen Mannes und sie verbarg ihr Antlitz hinter Pols Ärmel. Der steinerne Blick schien sie zu durchbohren, wollte, so schien es, ihr die Seele rauben.
Am Ende brachte Pol sie ins Hotel zurück. In der Suite befand sich eine Neuheit, ein Kasten mit Glasfront der lebende Bilder zeigte. Aggressive Stimmen plärrten in der unverständlichen Sprache. Sie wollte sie nicht sehen und verkroch sich in ihrem Zimmer.

"Herr," sagt Lili. Sie hat bisher geschwiegen aber jetzt bricht es aus ihr heraus. Ihre Stimme zittert. "Hat er sie erstochen, Herr?"
"Wer?" Ich weiß genau, was sie meint, aber ich sehe auch was ihr die Geschichte antut und jetzt möchte ich am liebsten zu erzählen aufhören. Wie sehr bedaure ich sie begonnen zu haben.
"Der Mann in der Dunkelheit." Sie spricht in die Hände die sie vor ihr Gesicht geschlagen hat. Ich denke, sie sieht die Szene im Geiste vor sich. Und erschauert.
Ich ziehe ihr die Hände vom Gesicht und schaue ihr in die Augen, mein Gesicht dicht vor ihrem, nehme den feinen Duft wahr, der von ihr ausgeht. "Soll ich aufhören, Lili?"
"Nein, nein." Sie lässt ihre Hände in den meinen, zieht sie nicht zurück, und versucht zu lächeln. Ihre Augen sind feucht. "Erzähle weiter, bitte. Ich will alles hören."
"Du wirst es bedauern, Lili." Lili mag Ceni bedauern als sie ihre Geschichte hört, aber im Innern trauert sie, weil ich es tue. Sie kann es nicht ertragen mich bedrückt zu sehen.

Der Besuch in Washington währte eine Woche, dann hatte der Marquis seine diplomatische Mission erfolgreich abgewickelt und es war Zeit an Heimkehr zu denken.
"Wir wollen noch etwas bleiben," sagt Pol, "und uns die USA ansehen. Nicht wahr, Schwesterherz?"
Das war nicht in Cenis Sinn. Sie dachte an zuhause und ein Kloß würgte in ihrer Kehle. Aber wenn Pol hier blieb würde sie dort allein sein. Das würde unerträglich für sie sein. Sie nickte stumm.
Der Marquis war einverstanden, "Mach mir Ehre, mein Sohn!"
Es gab einen tränenreichen Abschied mit vielen Umarmungen und Mamás eindringlicher Beschwörung für Pol, gut auf "ihr Kleines" achtzugeben. Ceni fühlte sich betroffen als Mamá plötzlich ihre Liebe für sie offenbarte und war drauf und dran doch mitzureisen. Aber dann dachte sie an Pol, wie er allein im fremden Land zurückbleiben würde, und blieb.
Pol hatte bereits einen Reiseplan. Er ließ sie in einen Bus einsteigen der ihr wie ein riesiges Monster aus schmutzigem Silber vorkam und wo sie sich eingeengt fühlte. Besonders die vielen Leute machten ihr Angst, aber zu ihrer Erleichterung waren sie nicht sehr gesprächig und nach verhältnismäßig kurzer Zeit verklang auch das letzte Gemurmel. Die Fahrt war ruhig und viel angenehmer als der Flug, auf dem sie sich in Todesangst an die Armlehnen ihres Sitzes geklammert hatte.
Sie kamen in waldreiches Gebiet und Ceni war beeindruckt. Die majestätische Ruhe des Waldes breitete sich aus, durchdrang den Bus und durchflutete ihr Herz. Zum ersten Mal seit Beginn der Reise fühlte Ceni sich ruhig.
"Der Norden des Staates New York," sagte Pol leise. Auch er war beeindruckt. "Wir nähern uns der kanadischen Grenze."
Sie besuchten die Niagarafälle. Ceni mußte einen wasserfesten Schutzmantel anlegen dessen Sonnenfarbe in krassem Gegensatz zur Kälte seines Materials stand, und dann mußten sie durch einen krachdurchtobten nassen Gang gehen, an dessen Ende sie auf einen kleinen Balkon hinaustraten wo riesige Wassermassen mit ohrenbetäubendem Lärm auf Armeslänge an ihnen vorbei in die Tiefe stürzten. Sprühwasser fegte ihr ins Gesicht.
"Laß uns gehen," bat Ceni. Sie mußte schreien damit Pol sie hörte.
In Buffalo bestiegen sie wieder ein Flugzeug. Es war kleiner als das vorige und flog wohl auch nicht so hoch; Ceni fand ihre Furcht unbegründet, zumal der Flug weniger lang währte.
Sie landeten in einer Stadt die Pol Chicago nannte. Die Stadt war riesengroß und ihre Gebäude hatten die Höhe von Gebirgen, oder zumindest kam es Ceni so vor. Sie spazierten über eine Promenade am Ufer eines Gewässers das kein Ende zu haben schien. "Ist es das Meer," fragte Ceni kleinlaut. Sie fühlte sich winzig.
"Der Michigansee," erklärte Pol. "Er ist das größte Binnengewässer der Erde."
Eingeschüchtert wagte sie nicht zu fragen was ein Binnengewässer ist. Der See schien am Horizont mit dem Himmel zu verschmelzen. Beide hatten die gleiche stumpf-blaugraue Farbe und windzerissene Wolken fegten über ihren Köpfen hinweg. Ein scharfer Wind wehte und es war kalt. Ceni fror.
Pol grinste schief. "Man nennt Chicago auch die Braut des Windes." Ceni fühlte ihre Gesichtszüge von der Kälte erstarren.
Dann wollte Pol unbedingt eine Rundfahrt mit der Hochbahn machen und Ceni wagte nicht zu widersprechen. Sie mußte neben ihm eine endlose Treppe hochklettern und fand sich dann am Rande einer Gleisanlage wieder, die über eine endlos wirkende Brücke verlief. Hier oben wehte der Wind noch heftiger und sie warteten an einen Pfeiler gedrückt, der sie zwar nicht vor dem Wind schützte aber zumindest den Anschein erweckte, daß man sich an ihm festhalten konnte, um nicht weggeweht zu werden.
Zum Glück mußten sie nicht lange warten. Polternd lief der Zug ein und setzte sich ebenso polternd wieder in Bewegung, nachdem sie zugestiegen waren. Der Wind rüttelte an den Waggons und Ceni gerät wieder in Panik als sie sah, wie weit es nach unten war. Während Pol die Fahrt offensichtlich genoß, blieb Ceni stehen - der Gedanke auf einer der schmierigen Sitzbänke Platz zu nehmen bereitete ihr Übelkeit - und hielt sich mit geschlossenen Augen an einer Haltestange fest bis sie am Zielort ankamen.
Es war ein Bahnhof. Ein Gepäckträger brachte ihre Sachen zum Zug und Ceni nahm mit Erleichterung Platz als sie sich in ihrem Abteil umsah; hier war es zumindest sauber. Dann setzte sich der Zug in Bewegung Gedämpfte Geräusche drangen von draußen herein und als sie die Weichen der Bahnhofsanlage hinter sich gelassen hatten lag der Zug ruhig und sicher auf den Schienen. Ceni atmete auf.
Pol saß auf dem Fensterplatz und hatte seine Nase in ein Reisejournal vergraben. "Wohin fahren wir," fragte Ceni.
Pol sah nur kurz auf. "Albuquerque."
Ein freudiger Schreck durchfuhr sie. "In Spanien!"
"New Mexiko," brummte er. Dann schüttelte er den Kopf und lachte. "Wie willst du denn mit dem Zug dahin kommen?"
Das war ernüchternd. Wo lag Spanien wenn es nicht mit dem Zug zu erreichen war? Eine eisige Faust griff in ihre Brust und preßte ihr Herz, sodaß sie fast den Schmerz spürte. Furcht griff erneut nach ihr. Mit gesenktem Kopf saß sie in ihrer Ecke und schwieg.
Draußen flog die Landschaft vorüber. Weiß umzäunte Weiden worauf sich Pferde tummelten wechselten mit riesigen Getreidefeldern und hin und wieder einem gleichfalls eingezäunten Wäldchen mit Obstbäumen ab. Dann und wann sah sie ein Haus in der Ferne. Nur Menschen sah sie nirgendwo.
Gelegentlich fuhren sie am Rande einer Stadt entlang. Hier gab es auch Menschen aber der Zug fuhr gleichgültig an ihnen vorüber und dann fielen die Städte zurück und sie fuhren wieder durch die Einsamkeit.
Schließlich änderte sich das Bild der Landschaft. Schroffe Felsen traten an die Gleise heran und rückten den Horizont näher. Bäume standen dicht neben der Trasse und ganz plötzlich gab es nur noch Wald. Ceni fühlte sich an die dichten Wälder erinnert die sie auf dem Weg zu den Wasserfällen durchquert hatten.
Der Zug kletterte immer höher und schien sich dem Himmel zu nähern. Ceni erkannte das an der Tiefe der Schluchten, an deren Rändern sie entlangfuhren, und wieder wollte ein Gefühl der Angst in ihr aufsteigen.
Gelegentlich erscholl ein orgelnder Pfiff, der von den Felswänden widerhallte und Ceni fragte sich, ob das eine Warnung Gottes war; vielleicht wollte er nicht, daß sie ihm zu nahe kamen.

Als das Tageslicht in die Dämmerung überging sah sie ihren Baum. Voller Freude eilte sie auf ihn zu aber er wich zurück. "Oh, warte doch," bat sie verzweifelt, "warte auf mich!"

"Wach auf!" entgegnete er unwirsch und schüttelte sie. Erschrocken griff sie nach seinen Ästen um sich festzuhalten aber der Baum drückte ihr die Arme an den Leib. "Wach auf," wiederholte Pol.
Das schwache Nachtlicht an der Fensterwand tat ihren Augen weh. Pol zeigte ihr wie man die Rückwand herunterklappte und schon lag ein bequemes Bett mit frischem Linnen vor ihren Augen. Dankbar kroch sie hinein und fiel alsbald in einen tiefen Schlaf, in dem sie von Pol träumte, wie er durch den Wald stapfte, der ihm bis an die Knie reichte und sich bückte um aus den donnernden Wasserfällen zu trinken ...
Auch die längste Reise geht einmal zu Ende. Erschöpft von der Monotonie der Eisenbahnfahrt folgte Ceni dem zielstrebig zum Ausgang eilenden Pol. Sie fürchtete sich vor den vielen Menschen, die hin und her eilten und in der seltsam klingenden fremden Sprache redeten, die sie nicht verstand. Und sie bewunderte Pol, der sich auskannte und mit den Leuten in ihrer Sprache redete, als ob sie seine eigene sei.
Unter der unbarmherzigen Sonne New Mexikos bestiegen sie ein Taxi und ließen sich zu ihrem Hotel bringen, wo der vorausblickende Pol bereits eine Suite reserviert hatte. Die Suite präsentierte sich als kleiner Salon mit zwei anschließenden Schlafzimmern.
"Das Hotel heißt Hilton Plaza," schärfte er ihr ein, "für den Fall, daß du dich einmal verlaufen solltest. Du brauchst nur in ein Taxi zu steigen und den Namen zu nennen, dann bringt es dich hierher."
"So einfach ist das," staunte sie, und dann fiel ihr ein: "Aber was tue ich hier ohne dich? Sie werden mich nicht haben wollen ..."
"Dummchen," lachte er und legte ihr zärtlich den Arm um die Schultern, "glaubst du, das Personal erkennt nicht Angehörige des spanischen Hochadels wenn es sie sieht?"
Ceni blickte erstaunt zu ihm auf. Hochadel, das war ein Begriff der ihr nicht geläufig war. Sicher, Papá war Marquis aber das hatte doch mit seiner Stellung im Ministerium zu tun, nicht wahr? Wieso sollte es sie was angehen? Sie setzte zu einer Frage an, aber dann sah sie Pols Blick und blieb stumm.
Pol bemerkte ihre Verlegenheit nicht. Er hatte durch seine Reisebroschüren geblättert und sein Blick blieb auf eine Anzeige gerichtet. "Da müssen wir hin!" rief er aus.
Er zeigte sie ihr. Ceni sah das farbige Bild eines Mannes mit Federn auf dem Kopf. Es erinnerte sie an das Plakat einer Aufführung in Madrid zu der Pol sie mitgenommen hatte. Dieser Mann trug einen Helm den der Balg eines Greifvogels mit aufgerichteten Flügeln zierte. Er hatte ganz schrecklich laute Musik gemacht, die Ceni erschauern ließ. "Lohengrin," hatte Pol ihr erklärt, "von Wagner."
Lohengrin Wagner hatte sie verstört, und nun sollte sie noch einmal dahingehen?
Es half nichts. Pol bestimmte und sie folgte, kleinlaut und gehorsam. Sie bestiegen ein Taxi und dann standen sie vor einem wuchtigen Gebäude mit winzigen Fenstern und barocken Flügeltüren, die weit offen standen. Drinnen war es dämmrig und angenehm kühl. Die weißgetünchten Wände waren über und über mit Bildern bedeckt und in der Mitte des Raumes standen lebensgroße Figuren, darunter eine angetan mit einem Anzug der mit bunten Stoffstreifen und lauter Fransen besetzt war. Die trug einen Federhut auf dem Kopf der ihr lächerlich vorkam.

"Ridículo," sagte sie gedämpft, "lächerlich." Aber Pol schüttelte den Kopf. "No, carin?o, nein, Liebes. Indianer sind nun mal so."
"Heute nicht mehr," sagte eine Gestalt, die lautlos neben sie getreten war. Ceni sah sich einem freundlich lächelnden jungen Mann gegenüber, dessen bläulich-schwarzes Haar straff nach hinten gekämmt war. Er trug ein weißes Hemd mit offenem Kragen und blaue Tuchhosen. An den Füßen trug er eine Art Pantoffel mit aufgenähten Stoffstreifen. Ceni bemerkte, daß die Streifen mit winzigen farbigen Perlen bestickt waren.
"Ach," sagte sie. Ceni, die sich bisher stets vor Fremden gefürchtet hatte, fand ihn sympathisch. Pol war anderer Meinung. "Wieso," sagte er schroff.
Der Mann deutete auf die Figur mit dem Federbusch. "Crazy Horse," sagte er. "Er war Kriegshäuptling der Dakota-"
"War?" fragte Ceni erstaunt und Pol sah auf. Er hatte in seiner Broschüre geblättert. "Sie meinen Sioux!"
Der Mann stieß einen Laut aus der ebenso gut ein Lachen wie ein Stöhnen sein konnte. "Suh," sagte er. "So wird es ausgesprochen. So haben die Irokesen die Dakota genannt. Die merkwürdige Schreibweise stammt von den Franzosen mit denen die Irokesen seinerzeit verbündet waren." Er wandte sich Ceni zu. "Vor achtzig Jahren."
Pol brauste auf. "Vor achtzig Jahren gab es keine Franzosen im Land!"
Das Lächeln des Fremden wurde um eine Spur kühler. "In Kanada," sagte er. "Vor zweihundert Jahren." Dann wandte er sich wieder Ceni zu und seine Augen lächelnden warm. "Vor achtzig Jahren haben die Dakota - die Suh," sagte er mit einem Seitenblick auf Pol - "Krieg gegen die Amerikaner geführt. Die Befreiungsschlacht gegen General Custer oben am Little Bighorn ..."
"Ach," sagte Ceni weil sie sich verlegen fühlte und Pol sagte streng, als wollte er den Mann anklagen, "Sie sind aber kein Si-, kein, eh, Dakota!"
Der schüttelte den Kopf. "Navaho," sagte er. Er streckte die Hand aus. "Hosteen Graywing. Ich leite diese Ausstell..."
Ceni sah mit Schrecken wie Pols Züge versteinerten als er auf die ausgestreckte Hand herabblickte. Im nächsten Augenblick ergriff er ihren Arm. "Wir gehen!" Damit zerrte er sie zum Ausgang. Ceni blieb gerade noch Gelegenheit zurückzublicken und mit einem verlegenen Lächeln den Arm zu einer Abschiedsgeste zu heben.
Im Taxi fragte sie schüchtern, "Warum haben wir den Mann stehen gelassen, Pol? Er war doch nett-"
"Nett!" knurrte er. "Hast du nicht gesehen wie er dich angestiert hat? Wie ein Bauer der eine Kuh kaufen will!"
Sie lachte pflichtschuldigst, aber mit einem Gefühl im Magen, als hätte sie einen Stein verschluckt. "Vergiß ihn," sagte Pol in einem ruhigeren Ton, "wir treffen noch andere Indianer."

Aber sie konnte ihn nicht vergessen. Der Mann hatte eine Saite in ihr angerührt, von der sie bisher nicht gewußt hatte, daß sie sie besaß. Sie versuchte ihn sich vorzustellen, wie er eine Kuh taxierte. Sie sah sein Bild vor ihrem geistigen Auge mit dem Federhut des Häuptlings auf dem Kopf und er kam ihr gar nicht lächerlich vor. Was war er? Indianer, hatte Pol gesagt. Sie erinnerte sich ihrer Kindertage, als Pol ihr aus einem Buch über Lederstrumpf vorlas. Darin hatte es auch Indianer gegeben, nackte Wilde mit rotgefärbten Haarbüscheln auf dem nackten Schädel, die ihren Feinden die Kopfhaut abzogen, und sie erschauerte. Dieser Mann mit den freundlichen Augen war kein Wilder!
Sie dachte noch an ihn als sie mit Pol am Abend eine Vorstellung besuchte. "Westernmusik," hatte er geschwärmt, "die muß ich hören!" Aber als sie ankamen war es kein Theater sondern ein großer Barraum mit vielen Tischen an denen Leute saßen die sich laut unterhielten, lachten und den Leuten auf der kleinen Bühne keine Beachtung zu schenken schienen. Die Künstler mühten sich redlich, aber was sie vortrugen verstärkte nur den Lärm der in Cenis Ohren gellte und ihr wurde schlecht.
"Laß uns gehen," bat sie Pol. Aber ihm schien der Lärm nichts auszumachen. Er war von der Vorstellung fasziniert zumal die Kellnerin, die seine Bestellung aufnahm - sie trug einen ebenso großen Hut auf dem Kopf wie die Leute an den Tischen - ihm großzügig Einblick in ihren Ausschnitt gewährte. Er schüttelte den Kopf. "Wir sind doch gerade erst gekommen!"
"Dann gehe ich allein!"
Wenn sie erwartet hatte, daß er nun sofort aufspringen würde, weil er sie auf keinen Fall alleine gehen lassen würde, sah sie sich getäuscht. Verblüfft nahm sie den Geldschein, den er ihr reichte und hörte die Worte der Verdammnis: "Nimm ein Taxi. Und denke daran: wir wohnen im Hilton Plaza!"
Nur wegen der Kellnerin! Sie hätte schreien können. Draußen fand sie sich auf einer schlecht beleuchteten Seitenstraße. Weit und breit war kein Taxi zu sehen. Sollte sie zurückgehen und Pol bitten, daß er ihr ein Taxi bestellte? Nein! Sie würde ihm zeigen, daß sie sich auch allein zurechtfand. Langsam ging sie die Straße hinunter.
Die nächste Straße war genauso düster und verdächtig still. Neben einer Vielzahl von Gerüchen trug die seidigwarme Luft Verkehrslärm zu ihr, aber sie konnte nicht erkennen, aus welcher Richtung die Geräusche kamen. Und dann stand auf einmal ein stinkender Kerl vor ihr der ein Messer zückte ...
Als sie zum ersten Mal erwachte sagte ihre Nase, daß sie sich in einem Krankenhaus befand. Ihre Augen wollten sich nicht öffnen weil irgendjemand die Lider festhielt. Sie hatte unerträgliche Schmerzen aber sie hätte nicht sagen können was ihr wehtat. Unmerklich glitt sie in einen tiefen Schlaf.

Pol trug einen Federhut auf dem Kopf. Er schwang ein riesiges blitzendes Messer und schrie, "Komm von deinem Baum herunter!"
Eine Frau in der universellen Einheitstracht der Krankenschwester - weißes Kittelkleid, weißes Käppi, weiße Tennisschuhe - weckte sie. "Wachen Sie auf, Sen?orita," gurrte sie. Auf Castellano! Ceni spürte Tränen der Rührung hinter ihren Lidern. "Kommen Sie," sagte die Frau, "Ihr Lebensretter möchte Sie begrüßen!"
Pol! Sie versuchte sich aufzurichten und sank mit einem Stöhnen zurück. Der Leib tat ihr weh. Schließlich gelang es ihr die Augen zu öffnen. Jenseits eines riesigen Blumenstraußes erschien des freundliche Lächeln des netten jungen Mannes aus der Indianerausstellung ...

"Herr," sagt Lili leise. Sie hat glänzende Augen bekommen als ich den Eindruck beschrieb den Hosteen auf Ceni machte. Nun runzelt sie die Brauen und sieht mich flehend an. "Aber Pol ist dann auch zu ihr gekommen, nichtwahr, Herr?"

Er fand sie nicht. Natürlich hatte er Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt als er ins Hotel zurückkehrte und Ceni nicht vorfand, und die Polizei war außerordentlich hilfreich. Er war der Sohn eines spanischen Diplomaten und persönlicher Freund des spanischen Gesandten, das genügte; man wartete nicht die vorgeschriebene Wartezeit von vierundzwanzig Stunden ab und begann sofort mit der Suche. Als das Krankenhaus eine unbekannte Patientin meldete die man niedergestochen hatte, fuhr er hin. Die Frau lag in tiefer Bewußtlosigkeit, Gesicht, Hände und Oberkörper von Verbänden bedeckt, aber sie war nicht Ceni. Wie hätte er wissen sollen daß Ceni nur zwei Zimmer den Gang hinunter verzweifelte, weil Pol nicht auftauchte.
Er sprach mit dem Polizeichef und beschwor ihn die Suche nur ja nicht aufzugeben. Seine mit so vielen Illusionen begonnene Tour durch die USA gab er auf und blieb in der Stadt. Als nach drei Monaten Ceni immer noch nicht gefunden war, befahl ihm der Vater nach Hause zurückzukehren. Dort wurde eine Trauerfeier für Ceni zelebriert und eine rote Sandsteinplatte als Monument der Erinnerung an der Wand der Schloßkapelle befestigt. Die Marquise kniete jeden Tag darunter und betete für Cenis Seelenheil.
Pol hat sich diesen einen Moment der Unachtsamkeit nie vergeben.
Er hatte nicht bedacht, daß Ceni sich nicht ihres Taufnamens erinnern würde. Man schickte eine spanischsprechende Schwester an ihr Bett und als sie halbwegs bei Sinnen war fragte die sie nach ihrem Namen. "Ceni," murmelte Ceni und als die Schwester fragte, "Wie weiter?" wehrte sie ab. "Nada mas - nicht mehr!" Sie wollte in Ruhe gelassen werden.
Das trug die Schwester pflichtschuldig ein und übergab das Blatt der Verwaltung. Als die Suchmeldung hereinflatterte ging die Verwaltungsdame die Patientenliste durch. Cenis Namen übersah sie und schrieb "Nicht bekannt!" auf die Suchmeldung.

Ceni Nadamas und Dolores de Rostrorojo glichen sich einfach nicht ...

Und Lili weint ...

Ende dritter Teil


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