STORIES


IN DIE SCHATTEN

Folge 17

von Thomas Kager



Was bisher geschah:
Sven, Wildfire und Moonshadow wurden entführt und gezwungen, brutale Schaukämpfe auszutragen. Als sie nach langer Zeit endlich frei kommen, stehen sie im Bezirk Puyallup des Seattler Megasprawl des Jahres 2054 ohne Habe und Identität praktisch vor dem Nichts. Mit Hilfe einer Straßengang knüpften sie Kontakte und stiegen in das Gewerbe der "freiberuflichen Sonderkräfte" ein. Besser bekannt als Shadowrunner.
Nach vielen ergebnislosen Versuchen, mehr über die Hintermänner ihrer Entführung in Erfahrung zu bringen, konnten sie vor kurzem endlich eine vielversprechende Spur aufnehmen. Diese führte sie zu einem reichen Playboy.


"Willkommen!" Mit großen Schritten eilte Michael Chenault auf sie zu. "Es freut mich sehr, Sie in meinem bescheidenen Heim herzlich willkommen zu heißen."
Sven musste unwillkürlich schlucken. Alleine der Empfangsraum des Penthauses war größer, als ihre gesamte Wohnung in Puyallup und mit erlesenen Kostbarkeiten und Bildern ausgestattet, über deren Wert er sich gar nicht nachgrübeln getraute. Mit einer eleganten Bewegung küsste Chenault die Hand von Moonshadow und anschließend von Wildfire (die ihm dabei wohl am liebsten ins Gesicht gefahren wäre) und schüttelte Sven mit einem kräftigen Druck die Hand. Anschließend führte er sie in einen luxuriösen Salon, in dem sich ihnen durch die verglaste Seite ein beeindruckender Blick über das nächtliche Seattle bot.
Dort ließ es sich der blonde Playboy nicht nehmen, höchstpersönlich die Aperitifs für sie zuzubereiten und erwies sich dabei als perfekter Gastgeber und Meister des Smalltalks. Zwanglos plauderte er über das Wetter, Sport und diverse gesellschaftliche Ereignisse. Hauptsächlich mit Moonshadow, die wieder einmal bewies, wie wandlungsfähig sie war und sich in jeder Gesellschaftsschicht, selbst in den gehobenen, wohl zu fühlen schien. Wildfire und Sven sprachen hingegen nur selten, meist nur wenn sie direkt angesprochen wurden, und nippten die übrige Zeit an ihren überaus wohlschmeckenden Drinks.
Schließlich führte Chenault sie in ein nicht minder exquisit eingerichtetes Speisezimmer, wo von zwei Bediensteten ein mehrgängiges Abendessen serviert wurde. Sven war bestimmt kein Feinschmecker, aber dass es sich bei den ganzen Speisen und Getränken, die ihr Gastgeber auffahren ließ, sich um absolut natürliche und erlesene Zutaten handelte, konnte sogar er schmecken. Trotz der einschüchternden Umgebung und den großen Erwartungen, die sie in dieses Treffen hatten, schaffte er es, das Mahl zu genießen und sich zu entspannen. Beiläufig lauschte er dem angeregten Geplauder zwischen Chenault und der dunkelhäutigen Elfe und widmete seine Aufmerksamkeit mehr seiner Freundin, die ihm gegenüber saß.
Nach dem vorzüglichen Essen kehrten sie in den Salon zurück, wo ihnen Chenault abermals Drinks zubereitet. Entspannt setzten sie sich auf die einladenden Stühle und Sofas und lauschten den ruhigen Klängen der dezenten Hintergrundmusik irgendeiner klassischen Oper.

"Tja", sagte Chenault schließlich gedehnt und schwenkte leicht das große Glas in seiner Hand. "So sehr ich die Unterhaltung und Ihr Gesellschaft genieße, aber wollen wir nun zum eigentlichen Grund dieses Abends kommen?"
Mit einem Schlag war die gemütliche Atmosphäre wie weggewischt. Passenderweise wechselte gerade jetzt die Musik im Hintergrund zu einem etwas bedrohlichen Tonfall. Sven bemerkte, wie Wildfire aus ihren eleganten Schuhen schlüpfte. Die Oberfläche des Whiskys in ihrem Glas begann ganz fein zu zittern, als sie ihre Reflexbooster aktivierte. Sven fühlte die Magie in seinem Zentrum kreisen und er hatte unbewusst die Beine angezogen, um jederzeit aufspringen zu können, falls sich eine offene Bedrohung zeigen sollte. Einzig Moonshadow wirkte entspannt, wie zuvor.
"Sie haben uns also erkannt", sagte Sven, um die Spannung etwas abzubauen.
"Aber natürlich", bestätigte Chenault gelassen, als würde er weiterhin über das Wetter plaudern. "Schließlich haben Sie mir ein paar der aufregendsten und unterhaltsamsten Wetten meines Lebens beschert."
Wildfire quittierte diese Äußerung mit einem ärgerlichen Brummen. Doch ihr Gastgeber ließ sich auch davon nicht aus der Ruhe bringen, sondern begann mit begeisterter Stimme aufzuzählen: "Moonshadow, die Lady der Macht. Wobei ich Lady der Nacht ebenso für sehr passend empfunden hätte. Die heißblütige Wildfire mit der besten Siegesquote im gesamten Rumble. Sven, der Künstler. Eigentlich eine Schande, dass sie sich niemals für einen passenden Künstlernamen entschieden haben.. Sie haben mich übrigens 50.000 Nuyen gekostet, als sie gegen ihre jetzige Partnerin verloren haben", fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.
"Wissen sie, ich habe ein recht gutes Gedächtnis. Vor allem, wenn es um meine größte Leidenschaft, das Wetten geht. Außerdem glaube ich nicht an Zufälle. Daher wusste ich sofort, worum es ging, als sich diese, im wahrsten Sinne des Wortes, bezaubernde Schönheit an den gleichen Spieltisch setzte." Die dunkle Elfe quittierte dieses Kompliment mit einem amüsierten Lächeln, das Chenault überschwänglich zurück gab.
"Aber es ist doch wirklich eine Ironie des Schicksals, dass es Sie gerade zu diesem besonderen Zeitpunkt zu mir führte."
"Wie dürfen wir das verstehen?" fragte Sven misstrauisch.
"Nun, es wird geplant, die Spiele neu aufzulegen."
Diese Ankündigung verschlug allen die Sprache. Sogar auf Moonshadows Gesicht zeichnete sich Überraschung ab. Davon unbeeindruckt fuhr Chenault fort.
"Ich kann Sie wohl nicht dazu überreden, abermals daran teilzunehmen, oder? - Nein? - Nun, das hätte ich ehrlich gesagt auch wirklich nicht gedacht. Obwohl die Quote dafür sehr verlockend wäre. Ich wette aber, Sie würden trotzdem gerne das eine oder andere Wort mit dem Veranstalter wechseln."
"Worauf Sie Gift nehmen können", fauchte Wildfire ungehalten und krallte ihre Finger in das teure Leder der Couch.
"Soweit wollen wir nun doch nicht gehen", schränkte Chenault mit einem lässigen Lächeln ein. "Aber was würden Sie sagen, wenn ich behaupten würde, ich hätte Informationen, welche Sie ihrem Wunsch einen bedeutenden Schritt näher bringen würden?"
"Ich würde Sie fragen, warum Sie uns helfen wollten?" erwiderte Sven, für den die Situation inzwischen einen unwirklichen Eindruck angenommen hatte.
"Nun, ich habe viele Wetten am laufen. Mit den unterschiedlichsten Leuten. Manche sogar über mehrere Jahre hinweg. Das steigert den Nervenkitzel ungemein und es ist eine Herausforderung, darüber nicht den Überblick zu verlieren. So zum Beispiel hab ich darauf gewettet, wer von den ehemaligen Spielern als Erstes dem Veranstalter auf die Spur kommt und ihm einen kleinen Gegenbesuch abstattet."
"Wir sollen also ihre Handlanger spielen?" fauchte Wildfire verärgert. "Nur damit Sie wieder eine ihrer geliebten Wetten auf Kosten Anderer gewinnen und jede Menge Kohle einsacken können?"
"Aber nein! Aber nein!" wehrte Chenault entschieden ab. "Ich darf Ihnen versichern, um Geld geht es mir dabei am allerwenigsten. Diesmal soll auch niemand zu Schaden kommen, der es zumindest nicht ein wenig verdient hätte. Sie könnten mit den Informationen machen was sie wollten und wären zu keinerlei Zugeständnissen an meine Seite verpflichtet. Und warum sollten wir nicht zusammenarbeiten, wo doch unsere Interessen so eng nebeneinander liegen und gewissermaßen auf das gleiche Ziel hinaus laufen?"
Wildfire warf Sven einen Blick zu. Er konnte in ihren Augen erkennen, dass sie die gleichen Bedenken hatte, wie er selbst und daher nicht besonders glücklich mit der Situation war. Sie sollten einem Spieler vertrauen, der bereits früher auf ihren Kopf gewettet hatte. Einzig aus Leidenschaft und Zeitvertreib. Das Angebot konnte durchaus eine Falle sein, die sie abermals ihrer Freiheit oder sogar ihr Leben kosten könnte. Aber andererseits wurden ihnen die Informationen, nach denen sie schon über ein Jahr lang suchten, quasi auf einem Silbertablett angeboten.
Gemeinsam sahen sie zu Moonshadow und inzwischen kannten sie sich so gut, dass sie keinen Zauberspruch für eine telepathische Verständigung benötigten.
Sven beugte sich aufmerksam in Richtung ihres Gastgebers. "Dann lassen Sie einmal hören."

***


Mit geübten Handgriffen zwängte die Frau ihren schmalen Körper in die enge Corsage aus schwarzem Synthleder und schloss die vielen Schnallen, die ihre kleinen Brüste etwas nach oben herausdrückten. Danach kontrollierte sie noch einmal den Sitz ihres schwarzen Lippenstiftes und des dunklen Lidschattens, der ihr eine strenge Mine verlieh. Das straff zurück gekämmte schwarze Haar, das in einem hohen Pferdeschwanz mit handbreitem Wickelband mündete verstärkte diesen Eindruck noch zusätzlich. Anschließend schlüpfte sie in die ebenfalls schwarzen hochhackigen Stiefel, deren Schäfte ihr bis über die Knie reichten und die ellbogenlangen Handschuhe. Darüber zog sie einen langen dunklen Mantel, der den dominahaften Aufzug eher unterstützte, als verhüllte. Zum Abschluss stopfte die Frau noch ein paar Handschellen und Bänder in die große Tragetasche und steckte eine Reitgerte in das Seitenfach. Deren Griff ließ sie jedoch ein Stück heraus stehen. In dieser Gegend konnte man ja nie wissen, wie schnell sie sie benötigen würde.
So ausgestattet verließ sie ihre armselige Wohnung und fuhr mit dem Aufzug in die Tiefgarage. Dabei hoffte sie, dass ihr Wagen noch ansprang. Wenn ihr neuer Kunde heute wieder so zufrieden war, wie beim letzten Mal, sollte sie vielleicht den Stundenpreis etwas anheben. Schließlich hatte sie sich extra für ihn das Gesicht ändern lassen und neue, teure Spielsachen gekauft. Und bei den ganzen Sonderwünschen könnte er sich das sicherlich leisten.
Die Gedanken der Frau wurden jäh unterbrochen, als ihr unerwartet eine Gestalt in den Weg trat. Die Fremde war fast genauso gekleidet wie sie selbst, war aber massiger.
"Du hast heute einen freien Tag, Schwester", verkündete sie. Für einen kurzen Moment war die Frau eingeschüchtert von der kräftigen Stimme und der selbstbewussten Körperhaltung der Fremden, doch dann gewann sie ihre Selbstsicherheit zurück. Wenn die Schnalle meinte, sie könne ihr Vorschriften machen oder ihr ihren tollen neuen Job abjagen, hatte sie sich gehörig geschnitten.
"Dein letzter Fehler", versprach sie der Fremden und zog die Reitgerte aus der Tasche. "Und du hast keine Ahnung, für wen ich arbeite", fügte sie noch sicherheitshalber drohend hinzu.
"Doch", erwiderte die Fremde gedehnt und nickte dabei ruhig. Die Frau war geübt im Umgang mit der Gerte, doch gegen die verstärkten Reflexe ihrer Kontrahentin hatte sie nicht die geringste Chance. Noch bevor sie auch nur über den Ansatz eines Schlages hinaus gekommen war, hatte die Fremde ihr rechts und links je eine schallende Ohrfeige verpasst. Dabei war ihr langer Mantel aufgeklafft und hatte kräftige Muskeln enthüllt. Von der deutlichen Überlegenheit der Fremden eingeschüchtert, ließ die Frau den Arm sinken und versuchte, den plötzlichen Klos in ihrem Hals, der so gar nicht zu ihrer herrischen Aufmachung passte, hinunter zu schlucken.
Die Fremde musterte sie noch einen Moment, doch als sie sicher war, dass die andere sich in ihr Schicksal ergeben hatte, trat sie zur Seite und machte eine aufforderte Handbewegung. Gehorsam setzte sich die Frau in Bewegung, die andere ihr dicht auf den Fersen. Vor ihnen öffnete sich die Seitentür eines unauffälligen Lieferwagens und ein Mann sah ihnen forschend entgegen. Nach einen kurzen Nicken der kräftigen Frau stieg er aus und nahm der ersten Frau die Tasche und die Reitgerte aus den Händen. Widerstandslos ließ sie es geschehen und stieg auf das Kopfnicken des Mannes in den Lieferwagen. Die beiden Fremden folgten ihr und die Tür schloss sich hinter ihnen. Augenblicklich setzte sich der Wagen in Bewegung. Trotz ihrer Resignation erschrak die Frau, als sie in der diffusen Innenbeleuchtung eine Elfe mit tiefschwarzer Haut und weißen Haaren bemerkte, die sie intensiv anstarrte.
"Ich hoffe, bei unserer nächsten Aktion kann ich endlich wieder normale Schuhe tragen", seufzte die Fremde tief. Die Frau bekam noch mit, wie der Mann darüber breit grinste, dann wurden ihre Gedanken undeutlich und versanken in einem dichten Nebel.

***


Die beiden Wachleute musterten skeptisch Wildfire, wie sie in ihren langen dunklen Mantel gehüllt durch den Hintereingang des Bürohochhauses trat und vor dem kleinen Empfangstresen stehen blieb. Die eine Hand in der Hüfte aufgestützt, in der anderen die große Tasche haltend.
"Haaay, ich bin Clarissa", verkündete sie lässig. "Ich werde oben erwartet."
"Wo ist Candy?" fragte einer der Wachmänner misstrauisch.
"Die hatte eine kleine - Meinungsverschiedenheit mit einem unzufriedenen Kunden und ist derzeit nicht vorzeigbar", erklärte Wildfire und fuhr sich über die schwarzen Haare, die sie straff nach hinten zu einem kurzen Zopf gebunden hatte. "Sie hat mich gebeten, für sie einzuspringen. Schließlich will sie ihren Kunden nicht verärgern oder gar verlieren."
Die Augen der beiden Wachleute verengten sich argwöhnisch. Während der eine langsam aufstand und an dem Halfter seiner Elektroschockpistole herum nestelte, tippte der andere auf seinem Computer herum. Obwohl Wildfire diese Prozedur aus ihrer Zeit bei der Polizei noch sehr gut kannte und wusste, dass die beiden bei der geringsten Unregelmäßigkeit sofort Alarm geben und versuchen würden, sie festzusetzen, stand sie immer noch scheinbar ungerührt und lässig vor dem Tresen.
Auf einem Bildschirm war inzwischen das Bild einer Frau aufgetaucht. Ein dicker Verband schlang sich um ihren Kopf und das zerwühlte dunkle Haar. Ein Auge war fast zugeschwollen, über ihre Nase lag eine Schiene und in einem Mundwinkel waren noch Spuren getrockneten Blutes zu sehen. Trotzdem war sie immer noch als diejenige zu erkennen, die in ein paar Minuten einen privaten Termin 63 Stockwerke weiter oben hatte.
"Was ist los?" verlangte der Wachmann zu wissen, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten.
"Ich hatte einen kleinen - Unfall", kam es mühsam zurück. "Bitte richten sie IHM mein größtes Bedauern für die Unannehmlichkeiten aus. Aber ich kann ihm versichern, meine gute Freundin, Clarissa kann seine Wünsche genauso gut erfüllen."
"Warum haben Sie sich nicht von sich aus gemeldet und diese Änderung angekündigt?" knurrte der Wachmann verärgert. Die Frau schwieg verlegen und senkte das eine noch sehende Auge. "Sie werden sich dafür noch verantworten müssen!" versprach er und schaltete, ohne auf eine Erwiderung zu warten, einfach ab. Nachdem er einen Blick mit seinem Kollegen gewechselt hatte, herrschte er Wildfire an: "Ausweis!"
Nachlässig fischte diese einen Ausweis auf ihrer Manteltasche und schob ihn über den Tresen. "Soll ich mich auch noch in das Besucherregister eintragen?" fragte sie dabei sarkastisch. Der Wachmann drehte den Ausweis unschlüssig in den Fingern. Wenn er die Personaldaten abfragen würde, würden sie gemeinsam mit Zeit und dem Namen des Gastgebers automatisch gespeichert werden. Das entsprach zwar den offiziellen Dienstvorschriften, lief aber den Anweisungen entgegen, die er direkt von oben bekommen hatte. Einen Moment lang rang er mit sich, doch dann schob er den Ausweis wieder zurück. "Du begleitest sie!" befahl er seinem Kollegen unwirsch. "Ich sag' inzwischen oben Bescheid."
"Danke, Süßer!" sagte Wildfire innerlich erleichtert und schenkte ihm ein anzügliches Lächeln. Dann schritt sie mit schwingenden Hüften auf den Aufzug zu und hoffte, dass sie in ihren ungewohnten hochhackigen Stiefeln nicht ins Stolpern kam.

In dem unauffälligen Lieferwagen, der in der obersten Etage des Parkhauses schräg gegenüber dem Bürogebäude stand, wickelte Sven den Verband von Candys Kopf. Während sich Moonshadow entspannte und in ihren Sitz zurück sank, erlangte die dunkelhaarige Frau ihren eigenen Willen wieder zurück.
"Was habe ich nur getan?" fragte sie erschreckt und ihre Augen weiteten sich panisch. "Wenn die rausbekommen, dass ich euch geholfen habe, bringen sie mich um!"
"Nur, wenn sie dich finden", entgegnete Sven gelassen und reichte ihr einen kleinen Umschlag. "Der Inhalt deines Bankkontos inklusive einer kleinen Aufwandsentschädigung, ein Flugticket nach NewArk und die Adresse einer Kontaktperson."
"Sie weiß Bescheid und wird dir einen passenden Job besorgen", fügte Moonshadow hinzu. "Sag ihr, du kommst auf Empfehlung von Tinnit."
Trotz dieser Versicherungen war Candy immer noch nicht beruhigt. Mit zitternden Fingern nahm sie den Umschlag entgegen und stieg durch die Wagentür, die Sven ihr aufhielt. Draußen wartete Ghost auf seinem Motorrad. Der Indianer und Anführer der Straßengang der T-Birds würde dafür sorgen, dass die Frau auch wirklich in die Maschine stieg und nicht irgendeine Dummheit anstellte.
Als Sven Candy nachsah, wie sie mit Ghost in die Nacht brauste, tat sie ihm ein wenig Leid. Wie er selbst vor zwei Jahren wurde sie aus ihrem bisherigen Leben gerissen. Allerdings sah für sie die Zukunft weitaus besser aus, als für ihn damals. Moonshadows Bekannte in NewArk würde auf sie Acht geben. Vielleicht hatten sie ihr sogar einen Gefallen getan und dafür gesorgt, dass ihre Leiche nicht eines Tages aus dem Puget Sound gezogen wurde, weil ihr Kunde zu der Ansicht gelangt war, sie wisse zu viel über ihn und seine geheimen Gelüste. Wobei Sven wieder beim eigentlichen Thema war.
Er schloss die Wagentür und nickte der dunkelhäutigen Elfe grimmig zu. "Phase Zwei."

Wildfire fühlte die Blicke des Wachmannes hinter ihr förmlich in ihrem Nacken. Und auf ihrem Hintern. Als er dann auch noch anerkennend mit der Zunge schnalzte, konnte sie es sich nicht verkneifen, nach hinten zu sehen und ihn ihrerseits ausgiebig von oben bis unten zu betrachten. Dabei blieb ihr Blick unmissverständlich lange an seinem Schritt haften und sie blinzelte ihm frech zu. Daraufhin lief sein Gesicht knallrot an und er starrte wieder an ihr vorbei auf die Aufzugstür. Wildfire grinste breit vor sich hin.
Als der Aufzug anhielt riss sie sich wieder zusammen und stolziert mit wippenden Hüften durch die Gänge, die um diese Zeit so gut wie verlassen waren. Nur ein paar wenige Angestellte saßen noch vor ihren Computern, waren aber klug genug, den Blick fest auf ihren Bildschirm zu richten, als auf die späte Besucherin, die auf das Büro ihres Chefs zusteuerte.
Vor einer großen Türe aus teurem Tropenholz wurde Wildfire von zwei sonnenbebrillten Leibwächtern in dunklen Anzügen erwartet, die den Wachmann mit einer herrischen Bewegung weggeschickten. Danach tasteten sie Wildfire nach versteckten Waffen ab (sie hätte ihnen dabei am liebsten ihre vorwitzigen Finger gebrochen) und bemühten sogar einen Metalldetektor. Besonderes Augenmerk richteten die Leibwächter auf die Tasche, doch darin war nichts, was ihren Verdacht erregen konnte. Wildfire hatte sie so gelassen, wie sie sie von Candy übernommen hatten. Und die Spielsachen darin, hatten schon ihren guten Grund.
Schließlich öffnete einer der Leibwächter die schwere Tür und räusperte sich respektvoll. Auf ein Zeichen von innen, trat er zur Seite, ließ Wildfire eintreten und schloss die Tür leise von außen. Die Halbindianerin in ihrem ungewohnten Aufzug blieb an der Tür stehen und ließ die skeptische Musterung des, für einen CEO relativ jungen Asiaten hinter dem großen Schreibtisch auf der anderen Seite des luxuriösen Büros äußerlich ruhig über sich ergehen. Das Licht war gedämpft, nur ein paar wenige matte Leuchten und das Licht, der nächtlichen Stadt, das durch den verglasten Terrassenbereich fiel, verdrängten etwas die Dunkelheit. Einzig eine kräftige Lampe erleuchtete einen scharf umgrenzten Bereich rund um den Schreibtisch.
"Ich bin über die unerwartete Änderung nicht erfreut", erklärte der Mann schließlich mürrisch.
"Soll ich wieder gehen?" fragte Wildfire leichthin und für einen Moment sah es danach aus, als würde der Asiate diese Möglichkeit ernsthaft in Erwägung ziehen. Doch dann winkte er sie ungeduldig zu sich. Innerlich aufatmend trat sie näher und blieb dicht außerhalb des Lichtkreises stehen. Abermals musterte sie der Mann intensiv. Wildfire wurde es mulmig in der Magengegend. Sie hoffte, ihre Maskerade war ausreichend genug, dass der mutmaßliche frühere und neue Veranstalter der Schaukämpfe sie nicht wiedererkannte. Aber das war nun schon zwei Jahre her, sie hatte sich verändert und schließlich waren diese Konzernmanager dafür bekannt, dass sie sich nicht besonders um ihre Untergebenen kümmerten. Auch wenn diese so "erfolgreich" für sie "arbeiteten", wie sie früher.
"Sind Sie über meine Wünsche ausreichend informiert?" schnarrte er.
"Aber natürlich", versicherte Wildfire selbstsicher. Der Asiate brummte nur unverständlich und betätigte einen kleinen Rufknopf. Fast gleichzeitig öffnete sich eine zweite, versteckte Bürotür. Die Augen des CEO leuchteten erfreut auf, als eine ältere Asiatin in einem traditionellen Kimono ein Mädchen herein führte. Das Mädchen war vielleicht zehn Jahre alt und trug eine Uniform, wie man sie von japanischen Schulen her kannte. Allerdings hätte der kurze Rock dort erhebliches Aufsehen erregt. Ihre Augen waren von einer schmalen Binde verdeckt.
"Ich wünsche nun nicht mehr gestört zu werden", sagte der Mann streng, nachdem die Frau das Mädchen direkt neben seinem Stuhl abgestellt hatte. Mit mehreren tiefen Verbeugungen verließ sie das Büro eilig. Als die Tür hinter ihr zufiel, veränderte sich die Stimme des CEO.
"Hallo", säuselte er einschmeichelnd und legte dem Mädchen plump vertraulich eine Hand auf die Schulter. "Ist denn alles in Ordnung? Geht es dir gut?"
Das Mädchen nickte tapfer, konnte aber ein ängstliches Zittern nicht unterdrücken.
"Warst du denn immer brav?"
Abermals nickte das Mädchen.
"Oh, das glaub ich aber nicht", sagte der Asiate mit einem falschen Lächeln. Das Mädchen zuckte zusammen, fand aber nicht den Mut, einfach wegzulaufen. Er führte es bis vor seinen Schreibtisch, dort nahm er sie und legte sie bäuchlings auf die Schreibplatte, wobei ihre Füße direkt vor ihm herunter baumelten. Er schob ihren knappen Rock hoch und strich lüstern über ihr blankes Hinterteil.
"Und wer böse war, muss bestraft werden", fügte er immer noch mit einem falschen Lächeln hinzu. Dann schob er seinen Stuhl zurück und erhob sich.
"Den Mantel...", sagte er knapp zu Wildfire, welche die ganze Szene aufmerksam und mit scheinbar ruhigem Gesicht verfolgt hatte. Diese öffnete ihren Mantel und ließ ihn einfach zu Boden gleiten.
"Hmm, was für Muskeln", sagte er bewundern und strich ihr über die bloßen Schultern. "Sehr beeindruckend. Und so viel versprechend. Das letzte Mal, als ich so etwas gesehen habe..." Überraschend brach er ab und Wildfire spürte, wie sich seine Finger auf ihrer Haut versteiften. Plötzlich stürmte er an ihr vorbei, um an seinen Terminal zu gelangen.
Er hatte also schlussendlich doch ihre Maskerade durchschaut. Nun gut, Wildifre war es sowieso leid, noch länger mitzuspielen. So sehr sich der Manager auch beeilte, er hatte die Rechnung ohne Wildfires verstärke Reflexe gemacht. Sie hechtete nach vorne, stütze sich auf dem Schreibtisch ab und schmetterte ihm ihre Füße in den Rücken. Der Man wurde von der enormen Wucht von den Beinen gerissen und weit nach vorne geschleudert. Hart prallte er gegen die Glaswand und rutschte stöhnend zu Boden. Dabei hinterließ er eine verschmierte Blutspur auf der so mustergültig geputzten Scheibe. Blitzschnell schlüpfte Wildfire aus ihren hochhackigen Stiefeln und stand über ihm, noch bevor er sich wieder fassen konnte. Wütend packte sie ihn und riss ihn herum.
"Du - verdammter - Dreckskerl!" schimpfte sie außer sich und schlug ihm bei jedem Wort mit der Faust schmerzhaft ins Gesicht. Er sollte leiden für die Zukunft, die er ihr unwiederbringlich entrissen hatte. Er sollte büßen für die zwei Jahre ihres Lebens, in denen er sie gezwungen hatte, gegen Mitgefangene in brutalen Schaukämpfen anzutreten, nur damit er seine Macht und seinen Reichtum ausbauen konnte. Jeden Hieb und jeden Tritt, den sie damals ausgeteilt und eingesteckt hatte, wollte sie ihm spüren lassen. Sie wollte Rache. Sie wollte so lange auf ihn einprügeln, bis er nur mehr ein Haufen zuckenden Fleisches war.
Das verzweifelte Gurgeln ihres Opfers brachte sie wieder zur Besinnung. Ihrer Kraft und Wut hatte er nicht das Geringste entgegen zu setzen. Er war hilflos. Vollkommen in ihrer Gewalt. Genauso, wie sie damals, in dem ehemaligen Sportstadion, hilflos und vollkommen in seiner Gewalt war. Wildfire würgte, als sie die vertauschten Rollen erkannte. Aber nein, so wie er wollte sie nicht sein. Niemals!
Bei ihrer Vereidigung als Polizistin hatte sie geschworen, die Unschuldigen und Hilflosen zu verteidigen und die Verbrecher ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Auch wenn sie nun nicht mehr auf dieser Seite des Gesetzes stand, hatte sich nichts daran geändert. Nein, sie würde nicht auf die gleiche Stufe wie der da herabsinken!
Angewidert schleuderte sie das armselige Häuflein Elend von sich. Aus Candys Tasche holte sie ein paar Handschellen und fesselte ihm Hände und Füße. Mit den Bändern und Stricken fixierte sie noch zusätzlich seine Arme und Beine, sodass er schließlich so kräftig verschnürt war, dass er sich keinen Zentimeter mehr rühren konnte. Zum Schluss klemmte sie ihm noch einen Knebel zwischen die Zähne. Ob er das nun auch so erregend fand, wie wenn er bei anderen dabei zusah?
Rasch holte Wildfire aus ihrem Mantel das kleine Funkgerät und hängte es an ihr Ohr. Gemeinsam mit einem kleinen Modul setzte sie sich auf den ausladenden Bürostuhl des Asiaten - und blickte überrascht auf eine nackte Kehrseite. Das kleine Mädchen lag immer noch auf dem Schreibtisch. Sie zitterte ängstlich und hatte wohl keine Vorstellung, was gerade um sie herum vorgefallen war.
Etwas verlegen zog Wildfire den Rock herunter und bedeckte damit die Blöße. "Alles in Ordnung", sagte sie und versuchte, ihrer Stimme einen beruhigenden Klang zu verleihen. Trotzdem zitterte die Kleine ungehemmt weiter. "Scht. Keine Angst. Niemand wird dir etwas tun." Behutsam nahm die Halbindianerin das Mädchen und stellte es auf die Beine. Obwohl sie versuchte, tapfer zu sein, war die Augenbinde völlig durchnässt und Tränen liefen ihr über die Backen. Sachte entfernte Wildfire die Binde und lächelte das Mädchen aufmunternd an. Zögernd erwiderte diese es, bekam aber große Augen, als sie die Blutspuren auf ihren Knöcheln entdeckte. Verlegen verbarg Wildfire ihre Hände in ihrem Schoß. "Vertrau mir. Dir wird nichts geschehen."
Obwohl ihr immer noch Tränen aus den Augen flossen, schien sie zu der kräftigen Frau Vertrauen gefasst zu haben, denn die Kleine nickte tapfer. Wildfire schenkte ihr noch ein freundliches Lächeln. Dann drehte sie sich zu dem Computer und steckte das kleine Modul in einen der Anschlüsse.
"Ich bin drin", sagte sie in das Funkgerät an ihrem Kopf, als eine kleine Lampe aufleuchtet.
"Suche läuft", kam es ebenso knapp zurück. Der Decker, mit dem sie schon ein paar Mal zusammengearbeitet hatten und ihnen vertrauenswürdig erschien, hatte sich bereits in den auf dieser Seite quasi ungesicherten Computerterminal gehackt und war nun auf der Suche nach allen Informationen über die Schaukämpfe von vor zwei Jahren und die neu geplanten. Unzählige Bilder und Schriftstücke tauchten auf dem Bildschirm auf und verschwanden wieder. Viel zu schnell und viel zu viele, als dass Wildfire etwas erkennen hätte können.
Während der Decker arbeitete, sah sie wieder zu dem kleinen Mädchen. Die Tränen waren versiegt und sie sah Wildfire mit großen Augen bewundernd an. Diese war davon etwas irritiert, trotzdem lächelte sie sie aufmunternd an. Das Lächeln, das diesmal zurück kam, war weitaus sicherer und herzlicher, als noch kurz zuvor.
"Suche positiv abgeschlossen", tönte es nach ein paar Minuten aus dem Funkgerät an ihrem Ohr. Mit einem grimmigen Lächeln beobachtete Wildfire, wie die Anzeige auf dem kleinen Funkmodul verlosch. Sie hatten also tatsächlich richtig gelegen. Der Asiate, der immer noch reglos inmitten seines luxuriösen Büros lag, war für die Schaukämpfe und somit für ihre Entführungen verantwortlich.
"Phase Drei", murmelte Wildfire und entfernte das Funkmodul vom Computer. Sie steckte es wieder in ihre Manteltasche und ging zu dem Asiaten hinüber. Angewidert blickte sie auf ihn hinunter. Dann packte sie ihn grob und riss ihn hoch. Er war wieder einigermaßen bei Bewusstsein und glotze ihr mit einer Mischung aus Unverständnis und Panik entgegen. Ihre Lippen verzogen sich zu einem hämischen Lächeln, dann schleppte sie ihn durch das Büro, stieß die Terrassentür auf und beförderte ihn in den offenen Bereich. Lässig lehnte sie sich an das Geländer und blickte nach unten. Ihren Gefangenen hielt sie dabei so, dass auch er einen guten Blick auf die vielen Lichter der nächtlichen Stadt und die Straßen tief unter ihnen hatte.
"Paket aufgabebereit", sagte sie in das Funkgerät.
"Empfangsbereit", kam es augenblicklich zurück.
Böse lächelnd blickte Wildfire den Asiaten an, in dessen Gesicht sich plötzlich blankes Entsetzen zeigte. Neben dem Knebel drangen nur undeutliche Laute aus seinem Mund.
"Du stehst doch auf Nervenkitzel", sagte sie süßlich lächelnd. "Ich habe hier für dich den ultimativen Kick."
Mit einem Schlag verdüstert sich ihr Gesicht und mit aller Kraft schleuderte sie den bewegungslosen Körper so weit sie konnte über das Geländer. Ruhig blickte sie dem rasch kleiner werdenden Schatten nach. Irgendwo in ihrem Hinterkopf wünschte sie, Moonshadow wäre keine so erstklassige Magierin.

"Da kommt er", sagte Sven, den Blick nach oben in den dunklen Himmel gerichtet.
"Ich sehe ihn", entgegnete Moonshadow lakonisch.
"Er ist schon sehr weit", fügte Sven etwas nervös hinzu.
"Ja", bestätigte die dunkle Elfe knapp.
"Moonshadow..." begann er nervös, doch die Magierin brummte nur etwas Unverständliches, hob aber die Arme, wie um nach dem fallenden Schatten zu greifen.
"... wir hatten doch ausgemacht..."
"Ja, ich weiß", schnitt ihm die Elfe ungehalten das Wort ab, schloss ihre Finger und zog sie rasch an sich. Sofort wurde die Gestalt aus der Fallrichtung gerissen und verringerte deutlich ihre Geschwindigkeit. Trotzdem schlug sie immer noch sehr unsanft auf dem Dach des Parkhauses auf. Sofort eilte Sven zu dem entführten Asiaten, um zu sehen, ob er es überlebt hatte. Er hatte es, aber Sven wollte gar nicht so genau wissen, ob das viele Blut einzig von der unsanften Landung stammte.
"Paket eingetroffen", meldete Moonshadow inzwischen ungerührt in ihr Funkgerät.

Wildfire hatte ungerührt das Geschehen verfolgt. Als sie in das Büro zurück gehen wollte, stand unerwartet das kleine Mädchen in der Terrassentür und sah sie mit großen fragenden Augen an. Etwas verlegen biss sich die Halbindianerin auf die Lippen. "Er hat es überlebt", erklärte sie. "Ehrenwort." Es kam ihr ein wenig dumm vor, sich so vor einem kleinen fremden Mädchen zu rechtfertigen, aber sie wollte sich wohl nur selbst beruhigen. Zu sehr stand ihr noch vor Augen, was sie in ihrer unbändigen Wut fast angestellt hätte.
Sie hockte sich vor der Kleinen hin, um mit ihr auf einer Höhe zu sein. "Hab keine Angst, es wird alles gut. Jetzt, wo er nicht mehr da ist..." Zweifelnd brach Wildfire ab. Was würde nun wohl wirklich mit der Kleinen geschehen, wenn niemand mehr da war, der Interesse an ihr hatte? Selbst wenn es so ein abartiges war. Wusste sie womöglich schon zu viel, als dass man sie einfach so gehen lassen würde? Wohin konnte sie sich wenden?
"Wo sind deine Eltern?" fragte sie, doch das Mädchen schüttelte nur stumm und mit traurigem Gesichtsausdruck den Kopf.
"Leben sie noch?" Abermals schüttelte sie nur den Kopf.
"Hast du sonst jemanden, der sich um dich kümmert?" Das Mädchen verzog ein wenig das Gesicht, hob dann aber nur resignierend die Schultern. Wildfire seufzte leise. Keine großartigen Aussichten. Doch da kam ihr eine Idee.
"Vertraust du mir?" wollte sie wissen und das kleine Mädchen sah sie fragend an. Doch dann nickte sie bestimmt.
"Du musst aber ganz tapfer sein und darfst auf keinen Fall schreien." Wiederum nickte die Kleine fest.
"Na dann komm!" Sie öffnete einladend ihre Arme und das Mädchen trat auf sie zu und schlang ihre dünnen Ärmchen um ihren kräftigen Hals. Mühelos hob Wildfire sie in die Höhe und ging zurück zu dem Geländer der Terrasse.
"Paket 2 aufgabebereit", sagte sie dabei in ihr Funkgerät.
"Paket 2?" fragten Sven und Moonshadow wie aus einem Mund und sahen sich verwirrt an.
"Vorsicht zerbrechlich", fügte Wildfire noch hinzu und lächelte das Mädchen beruhigend an.
"Empfangsbereit", kam es endlich zurück.
"Bereit?" fragte Wildfire sanft. Die Kleine drückte sie fest, dann ließ sie ihren Nacken los und nickte bestimmt.
"Mach die Augen zu" riet sie ihr und gehorsam schloss das Mädchen die Lider. Behutsam hob Wildfire sie über das Geländer. Diesmal fiel es ihr sehr viel schwerer, loszulassen und den Körper der Schwerkraft zu übergeben. Nervös beobachtete sie, wie sie den tief unten liegenden Straßen entgegen fiel, doch bereits nach ein paar Etagen wurde der Sturz abgebremst und das kleine Mädchen schwebte förmlich durch die Luft, bis sie schließlich sanft auf dem Dach des Parkhauses landete.
"Paket eingetroffen", erklang es aus dem kleinen Lautsprecher in ihrem Ohr und erleichtert atmete die Halbindianerin auf.
"Ende", erwiderte sie knapp. Rasch huschte sie zurück in das nun leere Büro und verstaute das Funkgerät in ihrem Mantel. Fluchend schlüpfte sie in die hochhackigen Stiefel und hoffte, dass es das letzte Mal für eine lange Zeit sein würde.

Misstrauisch traten die beiden Leibwächter zur Seite, als sich die Bürotür öffnete und Wildfire heraus trat.
"Euer Boss möchte den Anblick noch ein wenig genießen", erklärte sie und leckte sich dabei genüsslich die Finger. Die beiden Männer grinsten hämisch (wofür Wildfire ihnen am liebsten die Visagen neu gestaltet hätte) und winken sie nachlässig weiter. Die Fahrt im Aufzug kam ihr diesmal weitaus länger vor, als während des Hinweges, doch endlich öffnete sich die Tür im Erdgeschoß, ohne dass jemand den Versuch gemacht hätte, sie aufzuhalten. Die beiden Idioten warteten wohl immer noch darauf, dass ihr Boss endlich fertig war. Da konnten sie lange warten. Mit wippenden Hüften stolzierte sie an den beiden Wachmännern vorbei und schenkte ihnen noch ein anzügliches Lächeln. Dann war sie endlich durch die Hintertür und beschleunigte ihre Schritte.

***


Niemals wieder hatte Sven diesen Ort betreten wollen. Obwohl mittlerweile mehr als zwei Jahre vergangen waren, waren die Erinnerungen noch immer zu deutlich. Noch sehr genau konnte er sich an die ersten Schläge erinnern, die er mit seiner jetzigen Freundin ausgetauscht hatte. Damals noch als Gegner. Das war im "Turm", keine hundert Meter entfernt. Etwas dahinter die "Westernstraße", auf der er sowohl seinen ersten Schaukampf alleine, als auch später gemeinsam mit Wildfire, Moonshadow und Frank, dem Trollboxer bestanden hatte. Auch das Spiegellabyrinth daneben war im noch viel zu vertraut. Ebenso wie all die anderen Kampfarenen auf dem ehemaligen Spielfeld des aufgelassenen Sportstadions. Unter seinen Stiefeln knirscht der wohlbekannte Sand und dort drüben lag immer noch die zerbrochene Säule, über die sie damals bei dem Royal Rumble geflohen waren.
Die Zeit hatte die Spuren der Ereignisse nicht löschen können. Nicht in seinen Erinnerungen und noch weniger hier an dem Ort, an dem sich das alles abgespielt hatte. Im Gegenteil! Sven kam es vor, als wäre es erst gestern gewesen und konnte immer noch die Schreie und das Blut der unterlegenen Gegner und Partner hier im Sand riechen. Unwillkürlich musste er würgen. Nein, niemals wieder hatte er diesen Ort betreten wollen.
Doch sie hatten wieder herkommen müssen. Es war quasi der ideale Schauplatz, um diese Geschichte ein für alle mal zu einem Abschluss zu bringen. Mit festen Schritten ging er daher auf die Mitte der großen Freikampffläche zu, die quasi das Zentrum der ganzen Anlage darstellte. Neben ihm bewegte sich Wildfire trotz ihrer Last mit federnden Schritten. Hinter ihrem verschlossenen Gesicht kreisten sicherlich die gleichen Gedanken und Erinnerungen wie bei ihm.
Bei einer abgebrochenen Mauer hielten sie schließlich an.
"Hier", fragte Wildfire. Sven nickte nur. Mit einer fast nachlässigen Bewegung warf sie den Körper, den sie über ihre Schulter getragen hatte auf die Trümmer. Schmerzerfüllt schnaufte der Mann auf, wurde durch den Knebel aber wirksam daran gehindert, laut aufzuschreien und die gespenstische Stille zu stören.
Im ersten Licht des langsam anbrechenden Tages konnte Sven wieder die panische Angst in seinen Augen erkennen. Wären die Stricke und Handschellen nicht gewesen, mit denen Wildfire ihn so fest verschnürt hätte, er hätte bestimmt einen Fluchtversuch unternommen, egal, wie hoffnungslos er erschienen wäre. Oder er hätte sie mir Geldangeboten, Bitten und Drohungen überschüttet, wäre der Knebel zwischen seinen blutverschmierten Zähnen nicht gewesen. So aber war er hilflos und konnte nur der Dinge harren, die da noch auf ihn zukommen würden. Und die erschienen ihm wohl mehr als furchterregend. Dabei rechnete er wahrscheinlich mit Dingen, die er selbst gemacht hätte, wenn er an ihrer Stelle gewesen wäre. Wenn er wüsste...
Unwirklich laut rasteten die Handschellen ein, mit denen Wildfire den Mann an die verdrehten Metallverstärkungen kettete, die aus den abgebrochenen Mauerresten ragten. Nun war eine Flucht endgültig unmöglich.
"Ihr wollt das also wirklich tun?" fragte Moonshadow skeptisch. Die dunkelhäutige Elfe stand mit verschränkten Armen hinter ihnen und beobachtet missbilligend ihre Vorbereitungen. "Ihn so davon kommen lassen?"
Für einen Moment flammte es in Wildfires Augen auf und sie schein in ihrem Vorsatz zu schwanken. So stark die Halbindianerin auch war, die Gefangenschaft hatte sie weitaus mehr belastet, als sie jemals zugeben wollte. Sven konnte sehen, wie ihre Hände leicht zitterten, als ihre Reflexbooster unwillkürlich ansprangen.
"Ja, wie abgemacht", versicherte Sven mit fester Stimme und legte seiner Freundin beruhigend eine Hand auf die Schulter. Fest erwiderte er den zweifelnden Blick aus ihren Augen. Diesen dunklen, fast schwarzen Augen, die ihn im ersten Moment in dem er in sie gesehen hatte, fasziniert hatten. "Die Daten, die wir aus seinem Computer kopiert haben sind unwiderlegbar und müssen bereits bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft eingetroffen sein. Ebenso bei den diversen Nachrichtendiensten. Nicht nur die Unterlagen über die vergangenen Entführungen und Schaukämpfe, sondern auch die Pläne für die Neuaustragungen. Dazu alles Andere, was an schmutzigen Geschäften sonst noch gespeichert war.
Seine Bosse und Mitarbeiter werden den Typen wie eine heiße Kartoffel fallen lassen, sobald das alles ans Licht kommt und jedes Mitwissen an seinen Aktivitäten leugnen, nur um ihre eigene Haut zu retten. Diesmal wird ihn niemand decken und die polizeilichen Ermittlungen unterdrücken. Er wird seiner gerechten Strafe nicht entkommen." Sven antwortet auf Moonshadows Frage, doch seine Worte waren in erster Linie an Wildfire gerichtet, die er die ganze Zeit anblickte. Die ehemalige Polizistin entspannte sich langsam und nickte schließlich.
"Ja, wie abgemacht", bekräftigte sie.
Die Elfe zuckte mit den Achseln und seufzte kapitulierend. "Na von mit aus. Aber zur Sicherheit habe ich die ganzen Daten auch noch an ein paar alte Bekannte geschickt und auf diversen Schattenknoten deponiert. Sollte also einer unserer ehemaligen unfreiwilligen 'Kollegen' nach den Hintergründen suchen, wird er recht bald darauf stoßen. Ich kann zwar nicht vorhersagen, was sie machen werden, aber ich bin mir ziemlich sicher, sie werden diese Made suchen und auch finden. Ganz egal, wo er stecken wird. Oh, es wird ganz bestimmt kein angenehmer Gefängnisaufenthalt."
Ein bösartiges Lächeln umspielte die vollen Lippen der Magierin und der entführte Konzernmanager hatte nun wirklich gute Gründe panisch zu sein. Verzweifelt zerrte er an seinen Fesseln und versuchte, etwas zu sagen, doch beides hatte keinen Erfolg.
Sven setzte bereit zu einer scharfen Erwiderung an, doch dann schloss er wieder den Mund. Er und Wildfire waren zu sehr in ihren alten Lebensweisen verwurzelt und vertrauten auf das System der Gerechtigkeit. So löchrig es in diesen Tagen auch war und obwohl sie nicht mehr auf der gleichen Seite standen. Aber es lag ihnen einfach nicht im Blut, persönlich Rache zu nehmen. Darum hatten sie beschlossen, ihren Entführer der Justiz zu übergeben.
Moonshadow glaubte nicht mehr dran. Hatte es vielleicht auch nie und lebte schon wer weiß wie lange im Zwielicht der Schatten, wo man sich nur auf sich selbst verlassen konnte. Konnte er es ihr übel nehmen, dass sie auf diese Weise - auf ihre Weise Vergeltung übte?
Wortlos legte Sven die Tasche mit den ausgedruckten Unterlagen und mehrere Speicherchips zu Füßen des ehemaligen Konzernmanagers. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte er sich ab und schritt mit immer leichter werdenden Schritten auf den Ausgang der Arena zu. Wildfire dicht neben ihm. Die dunkle Elfe folgte ihnen leichtfüßig.
Über ihnen ging die Sonne auf. Es war die kurze Zeit zwischen dem Ende der Nacht und dem Anbruch des Tages. Es schien, als ob die Welt inne hielt, um Luft für den nächsten Tag zu holen. Ein neuer Tag. Eine neue Chance bot sich an. Die Möglichkeit alles hinter sich zu lassen und ganz von vorne anzufangen. Einen vollkommen neuen Weg einzuschlagen. In diesen Moment endete ein weiterer Abschnitt in Svens Leben. Und wohl auch in Wildfires.
Sie ließen ihn zurück und folgten ihrem Weg, der nun deutlicher vor ihnen lag. Als sie die entscheidenden Hinweise erhalten und darüber diskutiert hatten, wie sie vorgehen sollten, hatten sie auch überlegt, ob sie nicht in ihr altes Leben zurückkehren sollten. Mit den erbeuteten Daten wäre das durchaus im Bereich des Möglichen gelegen. Doch wollten sie das wirklich? Konnte Sven wieder zurück in den Sicherheitsdienst in Newark? Wildfire wieder in riskanten Polizeieinsätzen ihre Leben riskieren, ohne selbst entscheiden zu können, ob es richtig war?
Nein, das konnten sie nicht, waren sie schließlich zu dem Schluss gekommen. Sie waren nicht mehr die Menschen von damals. Zu viel hatte sich verändert. Zu sehr hatten sie sich verändert. Die Belohnung, die sie mit Hilfe eines Strohmannes für die Ergreifung des Hintermannes der BTL-Chipherstellung erhalten würden, würde ihnen erlauben, in Zukunft etwas kritischer in der Auswahl ihrer Aufträge zu sein. Keine eindeutig illegalen Sachen. Keine Aktionen, bei denen Unschuldige zu Schaden kamen. Nur mehr Aufträge, die sie für "richtig" erachteten. Vielleicht war sogar noch ein kleiner Urlaub auf Hawaii oder der Karibischen Liga drinnen.

In der Ferne war die stetig lauter werdende Sirene eines Polizeiwagens zu hören. Währenddessen gingen sie zurück. Zurück dorthin wo sie nun hingehörten. In die Schatten.


ENDE


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