SCHWERPUNKTTHEMA


SPIEGEL


BRIGITTE

von Thomas Kager



Erleichtert ließ Brigitte ihren schweren Rucksack auf den Boden fallen. Der Aufstieg hatte sich wahrlich gelohnt, aber nun war sie müde und erschöpft. Daher hörte sie dem Vortrag der Vermieterin nur mit einem halben Ohr zu und nickte nur immer wieder zustimmend.
"Wann wird denn Ihr Freund nachkommen?"
Aufgeschreckt von der unerwarteten Frage ruckte Brigitte hoch. "Er kommt nicht. Ihm ist etwas - dazwischen gekommen", antwortete sie ausweichend. Sie wollte ihr nicht unbedingt auf die Nase binden, dass das Dazwischengekommene lange schlanke Beine, blonden Haare und große Brüste besaß und auf den Namen Bernadette hörte.
"Dann werden Sie die zwei Wochen also ganz alleine auf der Hütte sein?" fragte die ältere Frau mit dem wettergegerbten Gesicht ungläubig. Brigitte nickte nur zustimmend, fügte aber schnell hinzu: "Ich werde aber sicherlich zurecht kommen. Und auch alleine werden das bestimmt zwei sehr schöne Urlaubswochen." Es fehlte noch, dass ihre Vermieterin meinte, sie müsse ihr unbedingt eine Urlaubsbekanntschaft anhängen. Der Gesichtsausdruck der älteren Frau zeigte deutlich, dass sie mit genau diesem Gedanken gespielt hatte.
"Nun gut", meinte sie schließlich. "Alles ist hergerichtet, die Speisekammer gefüllt, der Warmwasserspeicher aufgeheizt. Wenn Sie etwas brauchen, die Schutzhütte ist zwanzig Minuten von hier. Folgen Sie einfach der roten Markierung. Für Notfälle steht in der Küche ein Funkgerät, mit dem Sie die Bergwacht alarmieren können. Handyempfang haben Sie hier heroben keinen."
Brigitte atmete erleichtert auf, als sie ihre Vermieterin endlich hinaus komplimentiert hatte und nun ganz alleine in der kleinen, stillen Hütte war. Träumerisch blickte sie durch die Fenster auf die verschneite Berglandschaft hinaus. Zwei Jahre lang hatte sie sich auf diesen Urlaub gefreut. Ganz abgeschieden von der Umwelt, fern aller Hektik und dem beruflichen Stress wollte sie nun nur noch entspannen und sich erholen. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, als eine Freundin ihr von diesen kleinen Selbstversorgerhütten erzählt hatte. Brigitte war vom ersten Moment hellauf begeistert und auch ihr Freund hatte dem Urlaub zugestimmt. Es sollten zwei schöne und sehr romantische Wochen werden. Wenn nur nicht diese Blondine mit den großen...
Unwirsch schüttelte Brigitte den Kopf. Es war schon gut, dass sie rechtzeitig von seinem Verhältnis erfahren hatte und nicht erst nach dem Urlaub. Im Nachhinein betrachtet wusste sie gar nicht mehr, was ihr so an ihm gefallen hatte. Sicher, er konnte sehr charmant sein und hatte einen tollen Körper. Aber dafür ging er lieber ins Studio. Er wäre bestimmt nicht mit ihr den steilen Weg nach oben gestiegen, sondern hätte auf die Seilbahn bestanden.
Brigitte zuckte mit den Achseln und wandte sich von der grandiosen Winterlandschaft ab. Sie stellte ihren Rucksack auf und begann damit, sich aus der Thermokleidung zu schälen. Da bemerkte sie erst, wie verschwitzt sie war. Natürlich, die zwei Stunden in der Woche, die sie im Fitnessstudio verbrachte, hatten sie kaum auf die Anstrengungen des Aufstiegs vorbereiten können. Sie war bei weiten nicht mehr so sportlich, wie früher. Mit verzogenem Gesicht hängte sie die nasse Unterwäsche über einen Stuhl, kramte ein großes Badetuch aus dem Rucksack und eilte ins Bad.
Ah, das heiße Wasser tat so gut auf ihrer Haut und das Gel duftet herrlich nach Tannennadeln. Brigitte fühlte sich so richtig erfrischt, als sie die Hähne abdrehte und nach ihrem Badetuch tastete. Sie schlang es sich um ihren Köper, stieg aus der Duschkabine... und fuhr erschreckt zusammen.
Der heiße Wasserdampf hatte sich auf dem kalten Glas des Spiegels abgesetzt und ihn dicht anlaufen lassen. Und in diesem Beschlag stand groß "VERIRRT". Die Schrift war in Blockbuchstaben, groß und ungelenkt, als hätte der Verfasser eben erst Schreiben gelernt.
Doch rasch beruhigte sich Brigitte wieder. Bestimmt hatten sich die Kinder der vorherigen Besucher gespielt und danach war der Spiegel nicht richtig geputzt worden. Es war sicherlich niemand hier herinnen gewesen, während sie geduscht hatte. Trotzdem überprüfte sie die Türen und war erleichtert, sie alle fest verschlossen vorzufinden. Sie putzte den Spiegel und machte sich einen heißen Tee. Anschließend hüllte sie sich in einen flauschigen Bademantel, machte es sich vor dem Ofen gemütlich und begann das Buch, das sie schon seit Monaten lesen wollte.

Am nächsten Tag war Brigitte schon früh auf den Beinen und beobachtete, wie die Sterne verblassten und die Sonne langsam über die Berggrate stieg. Die Aussicht war einfach grandios. Sie hatte es nie für möglich gehalten, dass die Luft so klar sein konnte. Nach einem herzhaften Frühstück unternahm sie eine Wanderung durch die weitere Umgebung. Dabei bewunderte sie die beeindruckende Landschaft, die schroffen Felswände, die knorrigen Bäume, die ihre Wurzeln in den harten Boden gruben und den strahlend weißen Schnee. Je höher die Sonne stieg, umso wärmer wurde es. Bei einer kurzen Rast zog Brigitte sogar ihre Jacke und den dicken Pullover aus und ließ sich die Sonnenstrahlen direkt auf die nackte Haut scheinen. Es war richtig angenehm. Eine Wolke und ein kalter Windstoß ließ sie jedoch wieder frösteln.
Nach der Wanderung duschte sie sich heiß und diesmal war keine Schrift auf dem Spiegel zu sehen. Währenddessen aber hatte der Wind deutlich zugelegt und war zu einem handfesten Sturm angeschwollen. Wild fuhr er um die kleine Hütte herum, pfiff an den Vorsprüngen und rüttelte die Fensterläden. Manchmal hatte Brigitte den Eindruck, das Heulen und Pfeifen würde wie das Weinen eines kleinen Mädchens klingen. Dabei lief es ihr jedes Mal eiskalt über den Rücken hinunter und sie hatte erhebliche Mühe, sich auf ihr Buch zu konzentrieren.

In der Früh fühlte sich Brigitte wie gerädert. Mühsam schleppte sie sich ins Bad, um sich den Schlaf aus dem Gesicht zu waschen. Unerklärlicherweise flackerte die Glühbirne unruhig. Doofe Technik, dachte sie sich und betrachtete sich dabei mürrisch im Spiegel. In dem unsteten Licht wirkte ihre Haut merkwürdig blass und rissig. Fast wir altes Pergament. Und mitten auf der Stirn hatte sie eine gehörige Druckstelle, als hätte sie sich in der Nacht den Kopf heftig an einer Ecke gestoßen. Brigitte beugte sich weiter vor, um das genauer in Augenschein zu nehmen und fuhr mit den Fingern über die Stelle.
Plötzlich verlosch die Glühbirne mit einem lauten Prasseln... und Brigitte blickten die leeren Augen im fahlen Gesicht einer Toten entgegen. Mit einem panischen Aufschrei fuhr sie zurück und im gleichen Moment erwachte die Glühbirne wieder zum Leben. Und alles war wieder normal. Schwer atmend wischte sich Brigitte über das Gesicht und versuchte, ihre flatternden Nerven wieder unter Kontrolle zu bekommen. "Du bist nur übernächtigt", redete sie sich ein. "Die Umstellung von Arbeit auf Urlaub hast du nicht so gut vertragen. Das passiert schon mal, wenn Städter in die Einsamkeit fahren und es nicht gewohnt sind. Besonders, wenn sie gerade eine Trennung hinter sich haben." Trotzdem verließ sie rasch das Bad und betrat es auch den ganzen restlichen Tag nicht mehr.
In der Nacht hatte es zu schneien begonnen und die Flocken fielen auch noch den ganzen Vormittag über. Daher verbrachte Brigitte die Zeit vor dem wohligen Ofen, schlürfte heißen Tee und las in ihrem Buch. Nichts Ungewöhnliches ereignete sich und ihre Panikattacken kamen ihr nun ziemlich dumm und kindisch vor. Sie hatte die Erholung wirklich dringend notwenig, wenn ihre Nerven schon so blank lagen und ihre solche Streiche spielten.
Am Abend wollte Brigitte etwas Musik hören und kramte daher ihr kleines Taschenradio aus dem Rucksack. Doch als sie es einschaltete, blieb es stumm. Hatte sie vielleicht die Batterien vergessen? Umständlich öffnete sie das kleinen Fach, doch es lagen zwei darinnen. Vielleicht verkehrt herum? Als sie die Stromspender heraus nahm, rutschten sie ihr durch die Finger und fielen zu Boden.
Rasch bückte sich Brigitte, doch sie konnte nicht verhindern, dass eine unter das Bett rollte. Seufzend über ihre Ungeschicklichkeit kniete sie sich nieder und streckte die Hand unter das Bett. Doch ihre tastenden Finger konnte die flüchtige Batterie nicht finden. Daher legte sie sich auf den Bauch und schob ihre Hand noch weiter unter das Holz in die undurchdringliche Dunkelheit.
Abermals fand sie nicht das Gewünschte, sondern förderte nur, neben mehrere Handvoll Dreck, ein paar zerknüllte Papierschnipsel ans Tageslicht. Doch endlich schlossen sich ihre Finger um den kühlen Metallzylinder. Erleichtert wischte sie die Batterie ab und legte sie wieder in das kleine Fach am Rücken ihres Radiogerätes. Und diesmal funktionierte es. War also doch falsch eingelegt gewesen. Während leise Musik das Innere der Hütte erfüllte, machte sich Brigitte daran, den Schmutz weg zu räumen.
Doch etwas machte sie stutzig und sie strich einen der Papierfetzen glatt. Es war ein Teil einer Kinderzeichnung, das ein paar Blumen darstellte. Auch das zweite Papierteil zeigt ein paar kindliche Blumen, jedoch waren sie wild mit dicken, schwarzen Strichen überkritzelt worden, bevor das Blatt zerrissen worden war. Noch ein paar weitere Stücke ähnelten den beiden ersten.
Doch dann stieß Brigitte auf die Zeichnung eines Strichmännchens mit grimmigen Blick und Hörnern. Eine brüllende Fratze und drohend erhobene Fäuste jagten einen Schauder über Brigittes Rücken. Der letzte Schnipsel war keine Zeichnung, sondern der Überrest eine Fotographie. Es zeigte eine Frau mit einem kleinen Mädchen, die nebeneinander auf einer Wiese hockten und ausgelassen in die Kamera grinsten. Die Kleine hatte genauso lange haselnussbraune Haare, wie Brigitte und sie waren genauso zu zwei Zöpfen geflochten, wie sie sie damals getragen hatte. Auch die Sommersprossen auf der Nase ähnelten den ihren, waren jedoch deutlich ausgeprägter.
Das war zwar nicht Brigitte auf dem Foto, trotzdem war ihr die Kleine irgendwie vertraut. Was ihr aber am meisten Gedanken bereitet war nicht das, was sie sah, sondern das, was fehlte. Die gesamte rechte Seite des Fotos war abgerissen worden. Nur mehr ein Arm, der um die Frau gelegt war und die Knie neben dem Mädchen waren von dem Mann zu sehen. Es war ein kräftiger Arm und eine große Hand, die erschreckend an die kindlichen Zeichnungen erinnerten.
Mit einem Schaudern raffte Brigitte die Fundstücke zusammen und warf sie in den Mülleimer. War sie denn eine Psychologin, als dass sie aus irgendwelchen Zeichnungen Rückschlüssel ziehen durfte? Womöglich hatten die Zeichnungen und das Foto gar nichts miteinander zu tun. Wer weiß, wie viele verschiedene Familien hier schon gewohnt hatten und wie lange die Teile bereits unter dem Bett lagen?
Trotzdem ging Brigitte mit einem mulmigen Gefühl unter die Dusche. Das heiße Wasser wusch ihre dunklen Gedanken davon und entspannte ihren verkrampften Rücken. Sie machte sich viel zu viele Gedanken, anstatt die kostbare Zeit hier einfach zu genießen, warf sie sich vor. Sie sollte sich auch nicht mehr diese ganzen Krimiserien im Fernsehen angucken, die fast schon rund um die Uhr liefen, sondern hin und wieder auch einmal einen dieser kitschigen Liebesfilmen. Das würde ihren Nerven sicherlich gut tun.
Sorgsam trocknete sie sich ab und stieg aus der Kabine... und erlebte ihren nächsten Schock. Wie schon neulich hatte sich der heiße Wasserdampf auf dem kühleren Glas des Badezimmerspiegels niedergeschlagen. Doch diesmal stand in großen ungelenken Blockbuchstaben "HILFE!" geschrieben.
Mit einem panischen Aufschrei stürzte Brigitte zu dem Spiegel und wischte mit ihrem Badetuch hektisch über den Spiegel. Sie war noch nicht fertig damit, als sie hinter sich plötzlich ein Mädchen in einem geblümten Kleidchen stehen sah. Es war die Kleine von dem Foto und sie sah Brigitte ernst und durchdringend an.
Erschreckt fuhr sie herum, doch hinter ihr war nichts zu sehen. Sie fuhr wieder herum und nun war auch im Spiegel nichts mehr zu sehen. Mit einem erstickten Gurgeln flüchtete Brigitte aus dem Bad und sprang in ihr Bett. Ängstlich zitternd raffte sie die Bettdecke um sich und zog sich ganz in die Ecke zurück. Furchtsam huschten ihre Augen hin und her, doch alles blieb ruhig und nichts Ungewöhnliches war zu sehen. Trotzdem blieb sie die ganze Nacht über verstört in ihre Ecke gekauert und tat kein Auge zu.

"Wer ist das?" fragte Brigitte mühsam gefasst und legte das zerfledderte Foto auf den Tresen in der großen Schutzhütte. Sie hatte sich beim ersten Sonnenstrahl aufgemacht und war eilig durch den frisch gefallenen Schnee gestapft. Ihre Vermieterin hinter der Schank machte ein betretenes Gesicht, nachdem sie einen Blick auf das Papier geworfen hatte, dann winkte sie Brigitte zur Seite. Sie setzten sich an einen Ecktisch in der noch unbesuchten Gaststube.
"Woher haben Sie das Foto?" wollte die ältere Frau leise wissen. "Das tut nichts zur Sache", entgegnete Brigitte knapp und wiederholte ihre Frage. "Das ist Brigitte", erklärte die Vermieterin schließlich und wand sich dabei unbehaglich. "Brigitte?" fragte Brigitte ungläubig. "Ja, ein kleines Mädchen, das mit ihrer Familie im Sommer vor zwei Jahren hier ein paar Tage gewohnt hatte. In der Hütte, die Sie nun haben. Eine ganz tragische Geschichte", seufzte die Vermieterin schwer. "Warum tragisch?" "Nun ja, sie ist verschwunden. Eines Morgens war sie einfach weg. Die Bergwacht hat mehrere Tage lang nach ihr gesucht, jedoch vergeblich. Die Alpingendarmerie hat sie schließlich als vermisst eingestuft. Obwohl..."
"Obwohl?" stocherte Brigitte nach, als die Vermieterin verstummte. Die ältere Frau sah sich in der Gaststube um, ob nicht jemand in Hörweite war, senkte ihre Stimme aber noch weiter und erklärte verschwörerisch: "Die Gendarmen hatten den Freund ihrer Mutter eine Zeitlang in Verdacht, dass er mit dem Verschwinden der Kleinen etwas zu tun hatte.
Er war nicht ihr leiblicher Vater. Er und ihre Mutter hatten sich erst vor kurzem kennen gelernt. Angeblich mochte das Mädchen ihn nicht und am Abend vor ihrem Verschwinden soll es einen bösen Streit gegeben haben. Ich will ja nichts gesagt haben, aber so ein großer und kräftiger Kerl wie er, wird sicherlich keine Schwierigkeiten haben, so ein kleines Mädchen einfach... schwups." Dabei machte sie eine wegwerfende Handbewegung. "Sie wollen doch nicht etwa sagen..." begann Brigitte erschreckt, doch die Vermieterin hob abwehrend die Hände. "Ich sage gar nichts. Das sind alles nur böse Gerüchte und die Alpingendarmen haben nichts finden können, was es bestätigen könnte. Dabei sind unsere Gendarmen sehr gründlich. Vielleicht wollte sie ja auch nur weglaufen und hat sich dabei in den Bergen verirrt oder ist abgestürzt."
Seufzend lehnte sich Brigitte zurück. War die kleine Brigitte vielleicht vor ihrem verhassten Stiefvater ausgerissen und trieb sich nun immer noch in der Gegend um die Berghütte herum? Wollte sie ihr Angst machen, damit sie abreiste und sie wieder in der Hütte wohnen konnte? Aber wie konnte ein kleines Kind die ganze Zeit über unentdeckt in den Bergen überleben? Das war doch nicht vorstellbar. Oder...
"Sie sehen etwas grünlich um die Nase aus. Geht es Ihnen vielleicht nicht gut?" fragte die Vermieterin besorgt. Brigitte winkte ab. "Nein, schon gut", versicherte sie. "Ich habe nur das Foto gefunden und wollte wissen, wer das ist, weil sie mich an jemanden erinnert. Nichts weiter." "Wie Sie meinen", gab sich die ältere Frau zufrieden. "Aber ich rate Ihnen, genießen Sie die paar Tage und lassen Sie die Geister der Vergangenheit ruhen."
"Geister?" fragte eine dunkle Stimme unvermittelt neben ihnen. Ein bäriger Mann mit dichtem Vollbart war an ihren Tisch getreten. "Die Berge lassen die Geister nur selten ruhen. Und noch seltener geben sie sie wieder her." "Halt doch den Mund, Sepp", schimpfte die Vermieterin verärgert, während Brigitte fluchtartig die Schutzhütte wieder verließ.
Gedankenversunken stapfte sie den Weg zurück zu ihrer kleinen Hütte und ließ sich das eben Gehörte noch einmal durch den Kopf gehen. Aus einen nicht näher bestimmbaren Gefühl heraus, blieb Brigitte schließlich stehen und sah sich um. Der Weg war mit einer dicken Schneeschicht überzogen und darin konnte sie deutlich die Fußspuren sehen, die sie hinterlassen hatte, als sie zu der Schutzhütte gestapft war. Hinter ihr war die Spur, die sie gerade eben gezogen hatte und welche in die Gegenrichtung verlief. Doch daneben gab es noch ein Paar Fußabdrücke. Kleiner als Brigittes. Barfuss. Und sie endeten im Nichts. Brigitte lief es eiskalt den Rücken hinunter.
Mit heftigen Bewegungen öffnete Brigitte den Heißwasserhahn in der Dusche. Anschließend ließ sie das heiße Wasser auch in das Waschbecken laufen. Leicht zitternd stützte sie sich auf die Keramik ab und starrte in den Spiegel dicht vor ihr. Nur sie selbst sah ihr entgegen. Doch schnell begann sich der Wasserdampf an der Scheibe abzusetzen und ihn mit einem leichten Nebel zu überziehen.
"In Ordnung, kleine Brigitte", flüsterte Brigitte, fest entschlossen diesmal nicht die Nerven zu verlieren. "Was willst du von mir?" Mehrere Minuten lang geschah gar nichts, außer dass ihr Spiegelbild immer undeutlicher wurde. Sie war schon nahe dran, sich selbst für verrückt zu erklären. Doch dann bildeten sich kleine Streifen in dem Schleier. Ganz so, als würden die kleinen Wassertropfen nicht haften bleiben können.
"HILFE" stand schließlich gut zu lesen auf dem Glas. "Ich weiß", grummelte Brigitte und wischte mit dem Handtuch über den Spiegel. "Aber wobei?" Abermals dauerte es, bis er sich wieder beschlug. Und abermals bildeten sich dünne Streifen. "VERIRRT"
"Ja, aber wo?" rief Brigitte aufgebracht und schlug mit der Faust auf die Waschmuschel. Unvermittelt begann die Eingangstür zu rütteln, als würde ein starker Sturm dagegen drängen. Doch ein Blick aus dem Fenster verriet Brigitte, dass sich draußen kein Lüftchen regte. "In Ordnung", versicherte sie in Richtung des Spiegels und zog sich schnell wieder ihre Winterjacke und die Stiefeln an. Als sie die Türe öffnete erwartete sie bereits eine Reihe kleiner Fußabdrücke, die von ihrer Hütte weg, in die Berge führte.
Brigitte atmete einmal tief, um sich selbst Mut zu machen und folgte dann der Spur mit festen Schritten. Sie stieg einen sanften Abhang hinauf, der im Sommer wohl eine blühende Almwiese war. Dann bog sie um eine Gruppe Felsen, rutscht etwas nach unten, folgte kurz einem Steig, um dann abermals eine sanfte Steigung hinauf zu steigen. Schnell hatte sie den Blick auf ihre Hütte verloren und befand sich mitten im Niemandsland. Und immer noch führten die kleinen Fußspuren Brigitte weiter fort.
"Und jetzt?" fragte sie verwirrt in die klare Bergluft, als die Spur plötzlich vor einer Gruppe größerer Felsbrocken abbrach. "Wie geht es nun weiter, kleine Brigitte?" Aufmerksam sah sie sich um, konnte jedoch keinen Hinweis erkennen. Schließlich kletterte sie auf die Brocken. Doch auch von hier oben waren nur die Fußspuren zu sehen, die sie selbst gezogen hatte. Ratlos kletterte sie ein wenig herum und wäre fast abgestürzt, als der Schnee plötzlich unter ihr nachgab Nach dem ersten Schrecken lugte sie vorsichtig in die entstandene Öffnung.
Wie gut, dass sie daran gedacht hatte, ihre kleinen Taschenlampe mit zu nehmen. Zwischen den einzelnen Felsbrocken befand sich einen kleine, aber geräumige Aushöhlung. "Da hinunter, kleine Brigitte?" fragte sie unsicher in die kalte Winterluft. Doch auch diesmal erhielt sie keine Antwort. Mit ein paar raschen Handgriffen hatte sie die Öffnung so weit vergrößert, dass sie hindurch passte und lies sich vorsichtig in die kleine Höhle hinunter.
Im Schein der Taschenlampe sah sie sich aufmerksam um. Ein Schneehügel erregte dabei ihre Aufmerksamkeit. Behutsam wischte sie den harschen Schnee mit ihrem Handschuh zur Seite, bis sie schließlich auf Eis stieß. Erschreckt biss sich Brigitte auf ihre Knöchel, um nicht laut aufzuschreien. Denn da in der Aushöhlung, unter dem Schnee und eingehüllt in eine dicke Eisschicht lag das kleine Mädchen von dem Foto. Dasselbe, das sie gestern Abend im Spiegel gesehen hatte. Sie trug dasselbe geblümte Kleid und ihre zarten Finger umschlossen immer noch einen kleinen Strauss aus vertrockneten Alpenblumen. Ihre Haut war weiß und sie hatte die Augen geschlossen. Fast könnte man meinen, sie würde nur schlafen. Wenn da nicht die große Wunde an ihrer Stirn gewesen wäre.

Das kalte Wasser brachte Brigittes Gedanken wieder einigermaßen in Ordnung. An den Rückweg konnte sie sich nur undeutlich erinnern und es war ein Glück, dass sie ihn überhaupt gefunden hatte. Noch zweimal spritzte sie sich eine Handvoll ins Gesicht, bevor sie sich am Rand der Waschmuschel aufstütze. Mühsam aufrichtete sie sich auf und betrachtete sich im Spiegel. Sie sah furchtbar aus. Es war so ganz und gar nicht das, was sie sich von diesem Urlaub erhofft hatte. Dieses Mal schrak Brigitte nicht zusammen, als sie neben ihrem Spiegelbild das kleine Mädchen erblickte. Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass der Platz hinter ihr leer war. Seltsam gelassen betrachtete sie den Geist der kleinen Brigitte, die sie intensiv und ernst ansah.
"Hallo du", sagte Brigitte schließlich leise. Mehr zu sich selbst, da sie nicht annahm, dass ihr geantwortet würde. "Hallo", sagte jedoch das kleine Mädchen ernst und irgendwie traurig. "Nun habe ich dich also gefunden. War es das, was du wolltest?" Das kleine Mädchen zuckte nur unschlüssig mit den Achseln. "Was ist passiert?" fragte Brigitte weiter "Ich bin abgerutscht", erklärte das kleine Mädchen aber es klang wie der Versuch einer Entschuldigung. "Der Freund deiner Mutter hat also nicht...", Brigitte lies den Rest der Vermutung, welche ihre Vermieterin angedeutet hatte unausgesprochen.
Die Kleine schüttelte entschieden den Kopf. "Ich habe ihn nicht gemocht", gestand sie ein. "Obwohl er sich große Mühe gegeben hatte, immer nett zu mir zu sein. Aber ich wollte nicht, dass er mir Mama wegnimmt. Ich hatte ja nur noch sie, nachdem Papa uns verlassen hatte. Daher war ich ekelig zu ihm und wollte machen, dass er wieder geht."
"Daher der Streit am Abend, bevor..."
Die kleine Brigitte nickte betrübt. "Ja. Ich habe geschrien und getobt und viele böse Sachen gesagt. Und da hat mich Mama einfach ohne Abendessen und Gute Nacht Geschichte ins Bett geschickt. Sie hat mir aber noch gesagt, wie enttäuscht sie von mir ist und dass sie sehr traurig über mein Verhalten ist. Sie hat sogar ein wenig geweint. Aber ich wollte nicht, dass sie traurig ist. Und ich wollte nicht, dass sie böse auf mich ist. Daher habe ich mir vorgenommen, es wieder gut machen und bin ganz zeitig aufgestanden. Ich habe eine hübsche Zeichnung mit uns dreien auf einer schönen Blumenwiese gemacht.
Es sollte eine Überraschung sein, daher habe ich sie in einem kleinen Spalt hinter der Wandverkleidung versteckt. Dazu wollte ich ein paar ganz schöne Blumen pflücken, um Mama eine Freude zu machen. Sie mag Blumen fast so sehr wie ich. Und um mich bei ihrem Freund zu entschuldigen. Auf der Wiese hinter der Hütte waren eine Menge Blumen, aber ich wollte nur die schönsten von allen. Schließlich sollten sie etwas Besonders sein. Daher habe ich mich umgesehen und weiter weg gesucht und..."
"... und dabei hast du dich verirrt", beendete Brigitte den Satz, als die Kleine verstummte. Traurig nickte diese. "Ich hab die Hütte nicht mehr gesehen. Daher bin ich auf einen Felsen geklettert, um sie vielleicht von da oben zu entdecken." "Und dabei bist du abgerutscht." Abermals nickte Klein Brigitte betrübt. "Mama war sehr, sehr traurig, als ich nicht zurück gekommen bin. Sie hat sich so große Vorwürfe gemacht. Ich wollte ihr sagen, dass es nicht ihre Schuld ist und wollte sie trösten und ihr sagen, wie lieb ich sie habe, aber das ging ja leider nicht mehr. Auch ihr Freund war traurig. Besonders, als die Polizisten so böse Sachen gesagt haben. Aber sie haben mich auch nicht gehört. Auch nicht all die Männer, die überall nach mir gesucht haben. Schließlich sind alle fort gegangen und haben mich hier alleine gelassen."
"Aber du konntest nicht mitgehen." "Nein. Ich wollte Mama ja noch unbedingt die Blumen bringen und auch meine Zeichnung zeigen, damit sie weiß, dass ich wieder ihr braves Mädchen bin und sie mich wieder lieb hat. Aber ich konnte das ja nicht mehr. So sehr ich mich auch bemüht habe. Und nun ist sie weg. So weit weg. Und wird es nie mehr erfahren." Traurig blickte das kleine Mädchen zu Boden und Brigitte sah Tränen aus den großen Augen laufen. "Soll ich das für dich machen", fragte Brigitte vorsichtig. "Das würdest du?" fragte das kleine Mädchen mit hoffnungsvollem Blick. Brigitte nickte fest. "Danke", hauchte sie.

Die Bergwacht barg den kleinen Körper noch am gleichen Tag. Brigitte beobachtete ihre Bemühungen aus der Ferne und nahm im Stillen Abschied. Dem Alpingendarmen hatte sie erzählt, sie hätte die kleine Höhle zufällig beim Herumklettern entdeckt. Er hätte ihr sicherlich nicht geglaubt, wenn sie ihm erzählt hätte, wie es sich tatsächlich zugetragen hatte. Sie hatte ihm aber noch die Zeichnung gegeben, die sie in dem besagten Spalt hinter der Wandverkleidung gefunden hatte und ihn gebeten, sie Brigittes Mutter zu schicken. Sie würde sich sicherlich sehr darüber freuen.
Am Abend, als Brigitte nach dem Duschen aus der Kabine stieg, war der Spiegel abermals angelaufen und es waren dünne Streifen zu sehen. Doch diesmal erschrak sie nicht darüber. Und dieses Mal wischte sie die kleine Blume nicht weg.


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