SCHWERPUNKTTHEMA


SPIEGEL


GEBORGTES LEBEN

von Susanne Stahr



"Ihr müsst jetzt stark sein", sagte der Arzt zu Romilda. Er seufzte tief und sah auf das kleine, blasse Gesicht, das einzige, das man von dem kleinen Mädchen sehen konnte.
"Aber, Meister Fardulf!", rief die verzweifelte Frau aus. "Tesinda ist mein einziges Kind! Die einzige Erinnerung, die ich an meinen Mann habe. Ich gebe Euch alles, was ich habe. Ich werde für Euch arbeiten, als Eure Sklavin! Nur rettet meine Tochter!"
Sie schluckte, wischte über ihre geröteten Augen. Mit der Kraft einer liebenden Mutter verneinte sie das Unvermeidliche, das Offensichtliche.
"Ich habe alles Menschenmögliche getan", beteuerte er. "Sie ist einfach zu schwach. Zuerst die Masern, dann die Lungenentzündung und jetzt dieses Fieber. Das ist einfach zuviel für so einen kleinen Körper. Die kleinen Götter werden sie lieben." Traurig wandte er sich ab und verließ das schmucke Häuschen, in dem Romilda mit ihrer Tochter wohnte.

Er sah nicht mehr wie die Frau auf einen Stuhl sank, die Hände vors Gesicht schlug und in heftiges Weinen ausbrach. Es dauerte lange bis sie keine Tränen mehr hatte. Etwas machte "Klick!" in ihrem Kopf. Energisch stand sie auf und strich ihre Schürze glatt.
"Nein!", sagte sie laut. "Die kleinen Götter werden noch lange auf dich warten müssen, mein Kind." Sie küsste sanft die fieberheiße Stirn "Mona wird dich beschützen bis ich wieder da bin."

Als hätte sie jedes Wort verstanden sprang eine dreifarbige Katze auf das Fußende des Krankenbettes. Vorsichtig balancierte sie am Rand bis zum Kissen und schnupperte an dem Gesichtchen. Dann ließ sie sich nieder und sah aufmerksam das kranke Kind an während ihre Jungen am Fußboden spielten.
Entschlossen ging Romilda in die Küche und holte das Säckchen mit den Goldstücken aus dem Versteck hinter den Tassen. Was sie vorhatte, würde teuer sein, aber das Leben Tesindas war es ihr wert. Dann wickelte sie ihren warmen Umhang um ihren hageren Körper und trat vor die Tür.
Die Sonne war schon am Untergehen. Witbold, der Junge ihres Nachbars trieb die Ziegen nach Hause. Romilda hörte ihn husten als er an ihr vorbei ging. Fast alle Kinder und Alten und auch viele der Jungen, Kräftigen im Dorf waren krank. Vier Kinder und der alte Leinenweber waren zu den kleinen Göttern gegangen. Es war eine harte Prüfung für die Menschen. Ein scharfer Wind blies ihr eine Strähne ihres rotgoldenen Haares ins Gesicht. Automatisch strich sie sie zurück.
Es wurde jetzt schnell dunkel. Niemand war mehr auf der Straße. Gut. Es ging niemand etwas an, was sie vor hatte. Mit vorgebeugtem Oberkörper stemmte sie sich gegen den Wind und marschierte auf den Wald zu. Unter den weit ausladenden Ästen einer Eiche stand eine runde Hütte. Fast hätte man sie für einen übergroßen Pilz mit einer ovalen Tür halten können.
Romilda blieb vor der Tür stehen und atmete einmal tief durch. Ein leiser Zweifel schlich sich in ihr Gemüt. Handelte sie richtig? Das Bild des kleinen, blassen Gesichts tauchte vor ihrem inneren Auge auf Ja, es war richtig, entschied sie. Es ging um ihre Tochter und da konnte nichts falsch sein.
"Nectari!", rief sie leise. "Ich bitte um Hilfe für mein Kind."
Dann hieß es warten. Die alte Frau, die da am Waldrand wohnte, abseits von den anderen, hatte ihre Eigenheiten. Wer die nicht respektierte, bekam sie nicht einmal zu Gesicht Vor einigen Jahren versuchten einige Burschen, nachdem sie mehr als einen über den Durst getrunken hatten, in die seltsame Hütte einzudringen. Drei Tage später waren sie aus dem Wald gewankt, lallend wie Säuglinge. Keiner von ihnen hatte sich je erholt. Seither wurde Nectari in Ruhe gelassen.
Gelegentlich kam es vor, dass jemand plötzlich von einem hartnäckigen Leiden befreit wurde oder eine seit Jahren unfruchtbare Kuh wieder ein Kalb warf Dann liefen Gerüchte durchs Dorf in denen Nectari die Hauptrolle spielte. Genaues war aber nie zu erfahren, denn die Genesenen schwiegen eisern still. Das Höchste, das man ihnen entlocken konnte, war ein: "Ich habe zu den kleinen Göttern gebetet."
"Tritt ein!", erklang nun eine sanfte Altstimme. Gleichzeitig schwang die ovale Tür auf Ein breiter Balken hellen Lichts fiel auf Romilda. Vorsichtig, mit angehaltenem Atem, ging sie Schritt für Schritt in die Behausung der Weisen Frau.
"Mögen die kleinen Götter mit dir sein, Nectari", grüßte Romilda respektvoll.
"Setz dich!", antwortete Nectari, nachdem sie den Gruß mit einem Nicken beantwortet hatte. Sie war eine große Frau in den Fünfzigern. Ein waldgrünes, hoch geschlossenes Kleid mit langen Ärmeln bedeckte ihren kräftigen Körper und fiel bis fast auf den Boden.
Romilda ließ sich auf den Stuhl sinken, auf den die Frau deutete und holte lief Luft. "Meine Tochter Tesinda..."‚ begann sie und wurde sogleich unterbrochen.
"...liegt im Sterben," setzte Nectari hart fort. "Ich weiß."
"Nein, sie ist sehr krank und der Arzt kann ihr nicht mehr helfen." Für Romilda war es einfach ausgeschlossen im Zusammenhang mit Tesinda an den Tod zu denken. "Du hast sicher eine Medizin, die sie retten kann. Ich gebe dir alles, was ich habe." Sie legte den kleinen Beutel mit den Goldmünzen auf den Tisch. "Alles will ich tun. Alles was du verlangst, nur, rette mein Kind." Sie hatte diese Worte in aller Eile hervor gesprudelt und sah die Weise Frau nun flehend an.
"Es gibt keine Medizin, die deiner Tochter helfen kann", sagte Nectari ruhig. "Du weißt das. Also, was erwartest du von mir?'
Eine eisige Hand schien Romildas Herz zusammen zu pressen. "Rette mein Kind", würgte sie hervor. Mehr brachte sie nicht heraus.
"Egal, was es kostet?"
"Egal, was es kostet", wiederholte die Mutter.
"Nun denn. Steck dein Gold wieder ein."
"Aber...", verwirrt hob Romilda den Beutel hoch.
"Meinen Preis erfährst du später. Jetzt lass uns gehen. Tesinda hat nicht mehr viel Zeit."
Der Name ihrer Tochter schien sie anzutreiben. Schnell steckte sie das Geld ein und lief den Weg zurück zu ihrem Haus. Die Weise Frau folgte ihr mühelos.

Als sie eintraten, sprang die Katze vom Bett und strich an Nectaris Beinen entlang. Auch die Kätzchen wuselten einen Moment um die Weise Frau, bis sie von ihrer Mutter in die Kiste gejagt wurden, in der die Katzenfamilie schlief.
"Nun geh zum Schrein der kleinen Götter und bete", befahl Nectari. "Wenn du drei Eulenrufe hinter einander hörst, kannst du heimkehren. Aber wage nicht, an deiner Tür zu lauschen, denn sonst ist Tesindas Chance vertan."
"Ich werde für sie beten", versprach Romilda und ging.

Etwa eine Stunde später ertönten die Eulenrufe. Mit klopfendem Herzen betrat sie ihr Haus. Tausend Fragen schwirrten durch ihren Kopf. Doch sie brachte keine einzige heraus. Sie sah nur Tesinda, die ruhig schlafend in ihrem Bettchen lag. Das kränkliche Gelb ihrer Wangen war einem gesunden Rosa gewichen.
"Nun höre, Frau", rief sie die Stimme der Weisen Frau zur Ordnung. "Es gibt etwas, das du wissen musst. Dein Kind wird in sieben Tagen so kräftig sein, dass es aufstehen und umher laufen kann."
"Oh, ich danke dir, Nectari!', rief Romilda aus. "Ich wusste doch, dass du ihr helfen kannst."
"Allein die kleinen Götter können über Leben und Tod bestimmen. Ich bin nur eine Heilerin. Deine Tochter wird leben. Doch dieses Leben habe ich geborgt. In dem Moment, in dem sie in ihr Spiegelbild sieht, wird sie es zurück geben müssen. Deshalb ...." Sie deutete auf den nun verhängten Spiegel über der Waschschüssel. "Halte sie fern von allen glatten Flächen, auch vor dem Wasser. Niemals darf sie ihr Spiegelbild sehen."
"Was hast du getan?", flüsterte Romilda während alles Blut aus ihrem Gesicht wich.
"Sie lebt. Das wolltest du doch, oder etwa nicht?" Nectari stützte die Hände in die Hüften. "Nun höre meinen Preis. Wenn Tesinda gesund ist, soll sie zu mir kommen. Ich werde sie unterweisen. Du bringst sie jeden Morgen zu mir und holst sie abends wieder ab."
"Nein!", rief Romilda aus. "Sie ist meine Tochter. Hast du sie nur deshalb gerettet um sie mir weg zu nehmen?"
"Hast du nicht gesagt, sie soll leben, um jeden Preis?" Irgendwie brachte Nectari es fertig, dass ihre Stimme wie Donner klang und dennoch nicht die Lautstärke einer Harfe überstieg. "Ich brauche eine Nachfolgerin", fügte sie sanfter hinzu. "Ich werde auch nicht ewig leben und es dauert viele Jahre bis..." Sie zuckte mit den Schultern. "Tesinda wird es gut bei mir haben, das verspreche ich dir."
"So sei es", gab Romilda nach und sah mit einer Mischung aus Glück und Wehmut auf ihr schlafendes Kind.

Eine Woche nach Nectaris Besuch brachte Romilda ihre Tochter zu dem Haus am Waldrand. Das Mädchen lief fröhlich und ohne Angst neben ihr her. Seltsamerweise begleiteten sie auch Mona samt ihrem Wurf von Katzen. Von den anfänglich neun Kätzchen waren nur noch fünf übrig. Der Fuchs hatte unter ihnen gewütet, kaum ein paar Tage nach Tesindas Heilung. Mona nahm den Verlust mit der stoischen Ruhe der Gewissheit hin, noch dieses Jahr einem weiteren Wurf Katzen das Leben zu schenken.
"Tretet ein!", erklang Nectaris Stimme sobald sie vor dem Haus standen. Wieder schwang die Tür auf.
Tesinda und die Katzen liefen sogleich hinein. Während sich das Mädchen neugierig umsah begannen die Kätzchen unbefangen zu spielen.
"Sogar meine Katzen nimmst du mir", sagte Romilda bitter.
"Du kannst Tesinda bei Sonnenuntergang abholen", erklärte die Weise Frau ohne auf sie einzugehen.
So geschah es dann auch Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Anfangs fragte Romilda ihre Tochter, was sie denn bei Nectari getan habe, bekam aber nie eine Antwort. Und der Spiegel blieb immer verhüllt.
Doch schon nach wenigen Monaten bekam sie eine Kostprobe der Kenntnisse die Nectari vermittelte. Romilda, die Schneiderin, verletzte sich bei ihrer Arbeit mit der Schere. Es war ein böser Schnitt, der sie fürchten ließ, die Beweglichkeit ihres Daumens zu verlieren Noch mühte sie sich, einen Verband um ihre Hand zu wickeln, da stand plötzlich Tesinda neben ihr.
"So geht das nicht, Mutter", sagte sie ruhig und klang dabei bedrückend wie Nectari. Geschickt wusch sie die Wunde aus, strich Salbe, die sie aus einem kleinen Beutel holte, darauf. Dann schloss sie die Augen, umfasste die verletzte Hand mit beiden Händen und sang.

Romilda konnte später nicht sagen, was sie gesungen hatte, noch wie lange die Behandlung gedauert hatte. Irgendwann stellte sie fest, dass sie allein in ihrer Hütte und der Schmerz aus ihrer Hand geflohen war. Es wurde bereits dunkel. Schnell sprang sie auf und lief zu Nectaris Hütte.
Als sie dann vor der Weisen Frau stand, wollte sie einen Dank aussprechen, doch Tesinda, die ein wenig hinter ihrer Lehrerin stand, legte einen Fingen auf die Lippen. So schwieg sie, nahm ihr Kind an der Hand und ging nach Hause.

Es geschah am Abend vor dem Markttag. Tesinda war zu einer hübschen Jungfrau heran gewachsen und brauchte schon lange keine Begleitung mehr zu ihrer Lehrerin. Die jungen Burschen des Dorfes, die sonst hinter allen heran gewachsenen Mädchen her waren, hielten sich bei ihr scheu zurück und Tesinda schien damit zufrieden.
Romilda hatte die letzten Stiche an dem neuen Kleid für die Bürgermeisterin getan. Nun nahm sie das Tuch vom Spiegel, wusch sich Hände und Gesicht und begann ihr Haar zu kämmen. In den letzten Jahren hatte sich immer mehr Grau in das Rotgold gemischt. Sie beugte sich vor und betrachtete ihr Gesicht. Auch die Falten waren tiefer geworden, um die Augen vor allem. Dennoch war sie noch immer eine attraktive Frau.
Da hörte sie hinter sich die Tür. Erschrocken fuhr sie herum und erblickte Tesinda, Gleichzeitig stießen sie erstickte Schreie aus. Das junge Mädchen starrte wie gebannt in den Spiegel. Dieser zeigte nicht ihr Ebenbild, sondern eine rot getigerte Katze. Es war ein anmutiges Tier, das sich nun mit gesträubtem Feil und aufgeplustertem Schwanz herumwarf und in Richtung Wald raste.

Mit fliegenden Haaren rannte Romilda hinter ihr her. Einholen konnte sie sie nicht. Dafür war das junge Tier zu schnell. Als sie endlich schnaufend vor Nectaris Hütte anlangte, trat die Weise Frau heraus. Auf dem Arm trug sie Tesinda, die Katze.
"Was hast du mit ihr getan?", schrie Romilcja, "Gib mir meine Tochter wieder!"
"Sie hat in einen Spiegel gesehen", wies sie die Weise Frau kalt zurecht. "Wenn du Schuld suchst, dann nicht bei mir."

Die Frau sank in sich zusammen. "Ja", gab sie zu. "Der Spiegel. Ich habe sie noch nicht erwartet." Dann hob sie den Kopf. Eine kleine Hoffnung klomm in ihrem Blick. "Du kannst doch sicher etwas tun?"
Nectari stieß einen Seufzer aus. "Du gibst wohl nie auf, Romilda. Habe ich dir nicht gesagt, dass Tesindas Leben geborgt ist? Nun, da sie ihr Spiegelbild gesehen hat, muss sie es zurück geben."
Tranen strömten aus Romildas Augen. Nun hatte sie ihre Tochter doch verloren, dachte sie. Langsam, unbeholfen wie eine alte Frau, drehte sie sich um und machte sich auf den Weg zu ihrem Haus. Da rief sie die Stimme Nectaris zurück.
"Romilda!"
Müde drehte sie sich um. "Hexe!", zischte sie.
"Warum, denkst du, habe ich darauf bestanden, Tesinda zu unterrichten? Ich wusste doch, dass es irgendwann passieren würde. Und dann sollte das Mädchen gewappnet sein. Sie hat genug von mir gelernt um die Verwandlung zumindest zum Teil zu beherrschen."
Ein Fünkchen Hoffnung nagte an dem schwarzen Klumpen in Romildas Brust. Die untergehende Sonne schien die Weise Frau in einen goldenen Mantel zu hüllen
"Von nun an wird sie von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang eine Katze sein. Tagsüber bekommt sie wieder ihre menschliche Gestalt. Ich glaube, es ist für uns alle am besten, wenn sie ab jetzt bei mir bleibt." Sie hob beruhigend eine Hand als sie die Angst in Romildas Augen flackern sah. "Tesinda liebt dich und wird dich oft genug besuchen. Und wenn sie die Letzte Prüfung bestanden hat, wird sie ihre Katzengestalt nur dann annehmen, wenn sie Lust dazu hat. Genau wie ich."
Sie ließ Tesinda von ihrem Arm springen und im nächsten Augenblick stand an ihrer Stelle eine graubraun getigerte Katze, Tesinda rieb ihren Kopf an ihrer Flanke und schnurrte.
"Ich liebe sie als wäre sie meine Tochter", klang eine Stimme in Romildas Kopf "Denk doch, sie hat noch acht Leben!"

Da schwanden Trauer und Bitterkeit aus Romildas Brust und sie ging glücklich nach Hause. Morgen war Markttag und sie hatte gesehen, dass sich an Tesindas Festtagskleid ein Saum gelöst hatte. Den wollte sie annähen, damit ihre Tochter morgen das hübscheste Mädchen im Dorf war.


zurück