STORIES


CENI

Folge 4

von Fred H. Schütz



4.


"Herr," sagt Lili schüchtern "Herr, Pol hat sie dann doch aus dem Krankenhaus abgeholt, nichtwahr? Er hat sie endlich gefunden und es wird alles gut?" Sie spricht ganz leise und sieht mich dabei flehend an, als ob sie um Gnade bettelte.
Ich habe sie veranlaßt sich anders zu kleiden. Das Haremskostüm ist zwar sehr attraktiv aber ich muß auch an mein Herz denken. Sie trägt jetzt ein ärmelloses kaftanartiges Gewand aus blauem Samt, hübsch mit Goldtressen verziert, über einem Hemd mit Stehkragen und den üblichen Pluderhosen, alles aus weicher Seide, sodaß nur ihre rosigen Fersen unbedeckt sind.
Das entspricht orientalischen Gebräuchen und steht ihr ebenso gut.
Es lenkt mich nicht von meinen Sorgen ab. Wie oft habe ich schon bereut, die Erzählung begonnen zu haben; meine Absicht die Last von meiner Seele zu nehmen, indem ich sie ausspreche, ist fehlgeschlagen. Ich seufze. "Also, zum Schluß -"
"Nein, nein!" ruft sie und gestikuliert lebhaft. "Der Reihe nach! Ich will alles hören. Bitte!" Und sie sieht mich flehend an.
Ich seufze erneut. "Also gut," sage ich ergeben. "Nein, er hat sie nicht abgeholt." Weil er nicht daran gedacht hatte, daß sie sich Ceni nennen würde weil ihr das geläufiger war als ihr Taufname.
Statt seiner kam der Mann, der sie in ihrem Blut liegend gefunden hatte, und Hosteen kam wieder. Später würde er ihr eingestehen, daß er sie gefunden hatte weil er ihr nachgegangen war (er hatte den Messerstecher beobachtet, wie er ihr folgte und war ihnen nachgegangen, aber das erzählte er ihr nicht.) Die Bluttat hatte er nicht verhindern können aber der Polizei konnte er eine Beschreibung des Täters liefern die zu dessen Ergreifung führte.
Das Tatmotiv war auch rasch ermittelt, der Mann hatte eine gut gekleidete Frau gesehen die allein in einer verrufenen Gegend unterwegs war und wollte sie berauben (dabei erboste er sich, daß er für lausige zehn Dollar - das Taxigeld - ins Gefängnis gehen würde.)
Niemand fiel es ein das Verbrechen mit der vermissten Diplomatentochter in Verbindung zu bringen.
Lili hat wieder die gewohnte Haltung eingenommen, sitzt mit untergeschlagenen Beinen einen Meter über dem Fußboden, das Kinn in die aufgefalteten Hände gestützt; aber diesmal bin ich vor einem Herzanfall sicher. Sie sieht zu mir auf und wieder steht die steile Falte zwischen ihren Augenbrauen. "So war das also. Pol konnte sie gar nicht finden!"
Sie seufzt. "Und dann? Was ist dann geschehen? Sie ist doch nicht ewig im Krankenhaus geblieben ...?"
"Natürlich nicht! Aber du wolltest doch die Geschichte nacheinander hören, so wie sie sich abwickelte, also höre zu!"
Ceni war zutiefst verstört. Von Mamá war ja zu erwarten, daß sie sich nicht kümmerte, aber Pol! Die Tage vergingen, einer nach dem anderen, und Pol ließ sich nicht blicken. Warum hatte er sie vergessen? Darüber kam sie nicht hinweg.
Dafür besuchte sie Hosteen. Er erschien jeden Tag und immer brachte er ihr ein kleines Geschenk mit. Ein Strauß bunter Sommerblumen, ein Körbchen mit Obst, Pralinen ... und immer wieder Rosen, tiefrote duftende Rosen ...
"Rote Rosen!" ruft Lili lebhaft und patscht ihre Hände, "eine Liebesgeschichte!"
Ich seufze. Wie weiblich kann ein Afrit werden? Oder haben Afriti kein Anrecht auf Romantik?
Sie setzt noch einen drauf. "Hat er sie geheiratet, Herr?"
Ja, hat er. Er holte sie ab als sie halbwegs wiederhergestellt war (sie hatte Glück: das Messer hatte sich zwischen Magen und Dickdarm in ihren Leib gebohrt und keine lebenswichtigen Organe verletzt und so machte ihr nur der hohe Blutverlust anfangs zu schaffen.) Er bezahlte auch die Krankenhauskosten - dabei focht er einen heißen Kampf mit der Verwaltung und es gelang ihm die Kosten auf ein erträgliches Maß herunter zu handeln. In weiser Voraussicht hatte er ihr Kleider besorgt (das Kleid das sie bei dem Überfall trug war ruiniert) sodaß sie einigermaßen adrett angezogen das Krankenhaus verließ.
Er hatte daran gedacht sie in einem Hotel unterzubringen aber sie drängte sich an ihn als er es erwähnte. "Verlaß mich nicht!" Sie hatte Todesangst; wenn er sie auch noch verließ war sie ganz allein.
Mutterseelenallein in einem fremden Land dessen Sprache sie nicht verstand.

Da küßte er sie zum ersten Mal. Ihr waren Küsse nicht unbekannt, allein sie konnte sich das Gefühl nicht erklären das sie überkam als Hosteen sie küßte. Noch weniger begriff sie warum sie ihn zurückküßte. Ich weiß es auch nicht. Klar, sie mochte ihn, aber ob es wahre tiefe Liebe war möchte ich eher bezweifeln. Sicher war ein Gefühl der Dankbarkeit dabei, und die Angst vor der ungewissen Zukunft, die Verzweiflung ...
"Aber jetzt heiraten sie?" drängt Lili.
Ja. Er zog ein kleines Kästchen aus der Tasche und öffnete es. Sie wußte was es war als er ihr den Verlobungsring auf den Finger streifte und lächelte schüchtern. Er küßte sie erneut und wieder erwiderte sie seinen Kuß. Dann suchten sie einen Friedensrichter auf.
Der Mann machte Schwierigkeiten als sie als einzige Legitimation den Entlassungsschein des Krankenhauses vorweisen konnte. Wie es Hosteen gelang ihn zu beruhigen weiß ich nicht. Ich nehme an, daß er ihm erklärte Ceni sei eine asylsuchende Waise und das schien zu genügen.
Als der Friedensrichter sie fragte, "Wollen Sie, Ceni Nadamas, den hier anwesenden ..." blickte sie erstaunt auf, aber sie verstand ja nicht was er sagte und blieb stumm. Der Moment ihre wahre Identität offenzulegen verging in Schweigen.
Hosteen mußte die Frage übersetzen und erst dann nickte sie. "Sí."
Hosteen bezahlte die Trauzeugen (der Pächter von Harry's Bar an der Ecke und die Frau des Friedensrichters die dieser für Schnellhochzeiten zu verpflichten pflegte) und dann verließen sie die Stadt.
Papás Auto war ein großer schwarzer Kasten mit kantigem Aufbau und hohen Glasscheiben gewesen und vom Geruch in der Fahrgastzelle (für den davorsitzenden Fahrer gab es kein Verdeck) war ihr regelmäßig schlecht geworden. Hosteens Fahrzeug war ein Kleinlaster mit offener Ladefläche der wohl schon ein halbes Dutzend mal (mit jedem Besitzer) die Farbe gewechselt hatte; sein Motor tuckerte wie eine Nähmaschine. In der Kabine roch es nach Maschinenöl und dieser Geruch bekam ihr ebenso wenig. Hosteen wußte Abhilfe indem er die Scheiben herunterkurbelte. Mit der Hitze schlug der Staubgeruch des Chaparal herein.
Das spanische Wort für Halbwüste war auch hierher gelangt, nur gab es hier anstelle der Sträucher, die Spaniens halbverdorrten Ebenen den Namen gaben, etwas das sie zum ersten Mal sah: tumbleweeds, die vom Wind getrieben über die Erde kullerten.
Nach einer halben Stunde verließen sie den Highway und fuhren über Wege, die kaum als solche erkennbar waren; ursprünglich von Mulis getretene Saumpfade nun von Reifenspuren gekennzeichnet.
Sie befanden sich in dem riesigen von Canyons durchzogenen Areal, das sich von Colorado nach Arizona und New Mexiko ausbreitet - Indianerland: Navaholand. Hier war Hosteen geboren und aufgewachsen und hier schlug sein Herz. Auch nach jahrelangem Besuch der Weißenschule.

Gegen Abend - die Sonne stand bereits tief und überzog den Himmel mit dem prächtigen Farbenspiel des Sonnenuntergangs - erreichten sie ihr Ziel, eine Ansammlung von weniger als einem halben Dutzend um ein großes weißes Gebäude gruppierter Hütten. In dem Gebäude befanden sich der General Store (Handelsstation) sowie das Büro für indianische Angelegenheiten und ein Außenposten der Navaho-Stammespolizei. Hosteens Wohnung lag im Oberstock.
Die Einwohner des Dorfes erwarteten sie bereits. Mister Coulter der Händler und seine Frau Anita (eigentlich hieß sie Anta-he, sie war eine Indianerin vom Stamm der Pima) begrüßten sie mit einem freundlichen Händedruck und Agent Pierce bedachte sie mit wohlgesetzten Worten mit denen er seine Gratulation ausdrückte. Agent Pierce war Hosteens Vorgesetzter. Seine Frau, eine wortkarge Mittvierzigerin die sich offensichtlich hier draußen nicht wohl fühlte, überreichte Ceni einen Wildblumenstrauß.
Zuletzt stand Ceni vor einer langberockten Frau mit dem zerfurchten Gesicht der früh gealterten Indianerin, aus deren schwarzen Vogelaugen ihr offener Haß entgegenschlug. Mariana Graywing hatte ihr ganzes Leben dem Wunsch gewidmet, daß ihr Sohn den Fußtapfen seines verstorbenen Vaters folgen und Stammessänger würde; nur deswegen trug er den Namen Hosteen. Stattdessen war er in die Politik gegangen und arbeitete für das verhaßte Indianerbüro. Mehr noch: er hatte sich nicht der Tradition gebeugt und in einen Clan geheiratet - Sue aus dem Coyote-Clan deren runde Figur auf viele Babies hoffen ließ wäre ihr als Schwiegertochter willkommen gewesen - und jetzt brachte er diese häßliche viel zu dürre Weiße an, um sie als seine Frau vorzustellen. Für Mariana war das ein Schlag ins Gesicht.
Getreu den Gefühlen einer Mutter machte sie nicht ihren Sohn sondern diese weiße Hexe für alles verantwortlich.
Für Ceni war das nichts Neues - Mamá war ihr mit ebendemselben Haß begegnet, ein ganzes Leben lang - aber es machte sie betroffen. Sie ahnte, daß ihr kein leichtes Leben bevorstand. Aber es sollte noch schlimmer kommen.

Sie hatte keine Ahnung wie man einen Haushalt führt. Woher auch. Zuhause war alles von anderen besorgt worden und sie hatte keinen Gedanken daran verschwendet wer was zu tun hatte; es war einfach da. Essen war etwas das zu bestimmten Zeiten auf dem Tisch stand und man brauchte sich nur daranzusetzen; Staub wischen, aufräumen, Wäsche waschen, wer tat so etwas? Und jetzt sollte sie das alles ganz allein machen!
Die Wohnung war zwar klein - Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche - aber wo sollte sie anfangen und was war zu tun? Anita und Mrs. Pierce sahen ihr Dilemma, verstanden es aber nicht. Sie hatten noch nie erlebt, daß eine Frau nicht automatisch wußte was zu tun war. Dennoch halfen sie aus, wenn auch innerlich widerstrebend.
Dazu kamen die Sprachschwierigkeiten. Anita sprach spanisch - das sich aber von Cenis vertrautem Castellano deutlich unterschied - aber Mrs. Pierce sprach nur englisch. Und Mariana, die sie mit haßerfüllter Häme behandelte, ließ sich nicht dazu herab etwas anderes als Navaho zu sprechen. Notgedrungen lernte Ceni mit der Zeit ein paar Worte englisch; Navaho lernte sie nie - es war einfach zu schwierig. Das bestätigte auch Mrs. Pierce.
"Herr," sagt Lili und ich sehe es ihr deutlich an wie die Geschichte sie bedrückt; ich hätte nie damit beginnen sollen! Verdammt, warum erzähle ich ihr diese morbide Story? "Herr," sagt sie, "was sagte denn Hosteen dazu? Hat er ihr denn nicht beigestanden?"
Doch, schon. Aber das brachte ihn in eine höchst unkomfortable Position, eine die dem Spanischsprecher als entre espada y pared, zwischen Schwertspitze und Wand, bekannt ist; wie verhält sich ein aufmerksamer Sohn der Mutter gegenüber, ein liebender Gatte zu seiner Frau?
Dazu kam, daß sich gerade jetzt eine unangenehme Situation auftat, eine die mehrere hundert auf viele tausend Quadratmeilen verstreut lebende Indianerseelen in Wallung brachte: ein rundes Dutzend junger Navahos war mit dem Gesetz in Konflikt geraten; sie hatten wohl dem Alkohol zu sehr zugesprochen und eine Art Krieg mit jugendlichen Hopis angezettelt deren Zukunftsaspekt ebenso hoffnungslos war.
Ich kann verstehen, daß er dem häuslichen Krieg lieber aus dem Weg ging um Sergeant Chee, der hier das Gesetz vertrat, auf seinen Ermittlungsstreifzügen zur Seite zu stehen: ein Mann zwischen Frau und Mutter hat keine Chance; er wird aufgerieben. Lili versteht es nicht.
"Ich beginne ihn nicht zu mögen," sagt sie. Zwar ist sie noch Geist aber der Afrit hat sich vollkommen zur Frau gewandelt.
Ich seufze. Einsicht wäre mir lieber als Ansicht.

Ceni stand es durch so gut sie vermochte. Nun, daß sich auch Hosteen von ihr abwandte hatte sie niemanden der ihr half. Mrs. Pierce wäre möglicherweise eine Bundesgenossin gewesen aber da war die unüberbrückbare Sprachbarriere. Wenn Ceni sich allein glaubte, weinte sie; nachts hatte sie Alpträume - ein Durcheinander von Gesichtern plagten sie, die nie eindeutig Mamá oder Mariana, Mrs. Pierce oder Anita waren. Pol und Hosteen verschmolzen zu einem Schemen, grinsten böse und lachten keckernd, wie der stets unsichtbare Nachtvogel vor dessen Schrei Mrs. Pierce immer wieder erschauerte, wenn sie ihn hörte. Dann flüsterte sie etwas das Ceni nicht verstand, "der die armen Seelen holt ..." und bekreuzigte sich.
Ceni war nie eine große Esserin gewesen. Jetzt verlor sie allen Appetit, stocherte in ihrem Essen herum und schob schließlich den kaum berührten Teller von sich. Sie magerte ab, ihre Wangen fielen ein und dunkle Ringe unter ihren Augen ließen diese noch größer erscheinen als sie an sich schon waren.
Dann wurde sie schwanger.

Mariana sah es als erste. Ceni erschrak als sie die Gier in Marianas Raubvogelaugen erkannte. War sie eine Hexe die ihr das Kind stehlen wollte? Ceni war völlig ungebildet, konnte nicht einmal lesen oder schreiben-
"Warum nicht?" wirft Lili ein. "War sie denn dumm?"
"Aber nein, Lili. Es war ihre Mutter die dafür sorgte, daß jeder der mit ihr in Berührung kam sie für einfältig hielt."
"Dann ist sie die Hexe!" sagt Lili bestimmt. "Wie gut..." Aber dann hält sie inne und schweigt.
Wenngleich Ceni nicht lesen konnte so kannte sie dennoch die Märchen die Pol ihr vorgelesen hatte als sie noch Kinder waren. Darin gab es immer Bösewichte die der Königin den Erstgeborenen raubten ...
Lili holt Luft um zu sprechen, besinnt sich aber eines anderen und schweigt.

Von Anbeginn hatte Hosteens Mutter ihr Furcht eingejagt. Nun verdreifachte sich ihre Furcht und sie ging ihr aus dem Wege wo so konnte. Aber in dieser winzigen Siedlung gab es nicht viele Winkel, in denen sie sich verbergen konnte. Sie dachte wie so oft an Flucht, aber wie sollte sie das bewerkstelligen? Sie wußte nicht einmal in welche Richtung sie gehen mußte und wen hätte sie fragen sollen?
Die Monate vergingen. Die Schwangerschaft gestaltete sich als beschwerlich und dabei war die allmorgendliche Übelkeit noch das geringste Übel. Anita und Mrs. Pierce gaben sich fürsorglich, wußten ihr aber kaum zu helfen und Mariana rührte keinen Finger für sie. Ihr Leib wurde unförmig und machte sie unbeholfen. Ihr Kleid paßte ihr nicht mehr und so suchte sie sich schließlich unter Hosteens Sachen ein Hemd und eine Hose aus die er abgelegt hatte. Nun sah sie wirklich wie eine Pordiosera (Bettlerin) aus und so fühlte sie sich auch.
Natürlich war Hosteen nicht da als die Wehen einsetzten. Ob er es mit Absicht so eingerichtet hat weiß ich nicht, aber ich glaube es eher nicht. Es ging darum einem Hexer das Handwerk zu legen und Sergeant Chee brauchte seine Hilfe dringend; er beschwor ihn mitzukommen.
Mariana steckte ihrem Sohn den ausgetrockneten Balg eines kleinen Vogels zu der ihm als Talisman gegen Hexerei dienen sollte. Bei der indianischen Bevölkerung des Südwestens kursieren viele Geschichten über Hexer - es sind stets männliche Hexen - die zaubern und fliegen können und die dem Menschen böses tun. Da gilt es auf der Hut zu sein.
Hosteen belächelte den Aberglauben aber er wollte seine Mutter auch nicht kränken. Er nahm den Vogel und steckte ihn in seine Brusttasche, direkt über dem Herzen. Das hätte er wohl besser nicht tun sollen.

Warum sollte ich mir und dem Leser mit einer Schilderung des Geburtsverlaufs auf die Nerven gehen? Dies ist schließlich kein Roman für Schnulzenhungrige. Gesagt sei nur, daß er sehr schwer war und langwierig, und für die werdende Mutter äußerst qualvoll. Ceni war abgemagert, schwach und am Ende ihrer seelischen und körperlichen Kräfte.
Sie nahm ihre Umgebung nicht mehr wahr. Vor ihrem Auge tat sich eine Tür auf, eine Tür aus Licht. Jenseits der Tür stand ihr Baum. Sie sah ihn nicht aber sie wußte, daß er da war. Sie brauchte nur durch die Tür zu gehen und würde sich in seiner Krone wiederfinden - aber da waren diese gräßlichen Schmerzen die sie hier festhielten und die sie nicht abschütteln konnte. Ihr Bewußtsein schwand als die Schmerzen vergingen.
Mariana gelang das Kunststück ein gesundes Kind auf die Welt zu holen. Sie hätte es sich niemals nehmen lassen bei der Geburt ihres Enkels die Hauptrolle zu spielen. Auf Ceni nahm sie dabei keinerlei Rücksicht. Man brachte die junge Frau ins Gebärzelt, denn im Haus darf kein Blut vergossen werden. Mrs. Pierce mußte sie in der indianischen Gebärposition festhalten - mit gespreizten Beinen auf den Knien hockend - und Anita wurde als Ammenhilfe zwangsverpflichtet, hatte Nachgeburt, Blut und alle besudelten Wäschestücke zu entsorgen; die Geister sollten nicht wissen daß hier ein schwaches, für sie beherrschbares Kind zur Welt kam.
Mariana nahm den Neugeborenen in die Arme, säuberte ihn und wickelte ihn in die sorgfältig aufgehobene Tragwiege in der schon Hosteen und sie selbst und vor ihr viele Generationen ihres Clans gelegen hatten. Dabei sang sie mit leiser Stimme einen Singsong den niemand der hier Anwesenden verstand. Nur ein Navaho der in der Tradition seiner Väter aufgewachsen war hätte verstanden, daß Mariana das Kind den Geistern ihrer Ahnen vorstellte und sie um ihren Schutz für ihn bat, denn Geister sind mächtig.
Währenddessen wurden der in tiefer Ohnmacht Liegenden dieselben Kleidungsstücke, die sie vorher getragen hatte, übergestreift und Mrs. Pierce verständigte ihren Mann und Mr. Coulter, die Ceni zurück in ihre Wohnung tragen sollten, wo sie sie auf ihr Bett legten und allein ließen.

Das Kind war noch keine zwei Stunden alt und das Farbenspiel der Dämmerung beherrschte den Himmel als Sergeant Chee zurückkehrte. Ich sollte an dieser Stelle wohl einflechten, daß ich Sergeant Chee nie kennengelernt habe, aber Toni Hillerman, dessen gesamtes literarisches Werk die Sitten und Gebräuche der Navaho beschreibt, kennt ihn gut. Ich nehme an, daß Chee bis heute sicher zum Lieutenant wenn nicht gar Captain aufgestiegen ist, zumindest ist er nach meinem besten Wissen am Leben und tut noch Dienst.
Er war allein. Indianer stürzen sich niemals auf den Ankömmling um ihn mit Fragen zu überschütten. Sie stehen nur da und warten auf das was kommt.
Sergeant Chee trat auf Mariana zu, die mit dem Kind im Arm dastand und ihm mit steinerner Miene entgegenstarrte. Er zeigte ihr den Talisman, den sie Hosteen gegeben hatte. Der kleine Kadaver war von der Kugel buchstäblich zerfetzt worden.
Mrs. Pierce preßte die Hand an den Mund, konnte ein gedämpftes "Holy mother of God - heilige Mutter Gottes" nicht unterdrücken. Anita entfuhr ein erstickter Schrei und von den Umstehenden erscholl betretenes Gemurmel. Hosteen war allgemein geachtet und von manchem geliebt gewesen.
Mariana drehte sich wortlos um und erklomm die Stiege zu Cenis Wohnung. Die Anderen wollten folgen aber Sergeant Chee machte ein Zeichen, nein, und sie blieben zurück. Er eilte hinter Mariana die Treppe hinauf, trat hinter ihr durch Cenis Tür.
"Esta cría maldita, dieses verwünschte Kind!" kreischte Mamá und Papá murrte, "Was hat die Närrin denn schon wieder angestellt!" Pol grinste. "Komm schon, Ceni, streng dich an!"
Mamá rauschte durch die Tür, gefolgt von Pol. Sie streckte ihr die uralte Holzpuppe entgegen mit der schon Urgroßmama gespielt hatte und von deren Hanfhaaren nichts mehr übrig war. Die Puppe war mit bunten Bändern kreuzweise umwickelt, sodaß nur ihr Kopf herausragte.
Mamá schrie etwas auf Navaho und Pol - nein, es war gar nicht Pol sondern Sergeant Chee - übersetzte: "Hosteen ist tot." In einem Ton als wollte er sagen, heute ist ein schöner Tag.
Sergeant Chee glaubte nicht daran, die Wahrheit zu verschleiern indem man sie beschönigt. Am besten sagt man sie geradeheraus denn der Schmerz kommt auf jeden Fall.

Aber Ceni war jenseits allen Schmerzes. Hosteen war tot, Pol war tot und nur der Baum hatte Bestand. Ihr Baum. Der Baum der seit vielen Jahrhunderten allen Elementen trotzte und so hoch gewachsen war daß man von seiner Krone über alle Welt blicken konnte. Aber die Lichttür zu ihm war geschlossen.
Sie rappelte sich hoch, merkte nicht wie die Kompresse zwischen ihren Beinen herunterfiel, und schlüpfte in Hosteens alte Joggingschuhe. Sie hatten keine Schnürsenkel. Sie stand auf und ging an der kreischenden Frau vorbei die nicht Mamá war. Die zeigte auf Indianerart mit dem Daumen auf sie während sie fortwährend schrie. Der nette Indianer der beinahe aussah wie Pol (nur war sein Gesicht viel dunkler) machte ihr höflich Platz. Vom Haken hinter der Tür nahm sie Hosteens alte Baseballmütze und setzte sie auf während sie langsam die Treppe hinunterstieg.
Auf jeder zweiten Treppenstufe blieb ein Blutfleck. Die Blutspur folgte ihr bis an die Haustür und versiegte.

Draußen standen Leute, schattenhafte Wesen ohne Identität. Sie ging grußlos an ihnen vorüber, hatte keine Kraft zu verschenken. Mrs. Pierce gab einen unterdrückten Laut von sich, machte Anstalten zu ihr zu eilen aber Anita hielt sie zurück. "Lassen Sie es, Mrs. Pierce! Mariana hat sie verflucht."
Sergeant Chee kam aus dem Haus und blickte mit unbewegter Miene der in der Ferne kleiner werdenden Ceni nach. Mr. Coulter trat neben ihn und blickte in die gleiche Richtung. Er hatte lange genug hier draußen gelebt um zu wissen, daß Indianer einander niemals in die Augen schauen. "Der Hexer?" fragte er wie beiläufig.
Der Polizist wandte keinen Blick von Ceni. "Wir haben ihn!" knurrte er. Das war alles. Unnötig zu sagen, daß Hosteens Opfer zu hoch war.

Ceni folgte dem Weg der hier als Straße galt - in den Sand gegrabene Radspuren, die der nächste Regen verwischen konnte. Die Siedlung fiel zurück, aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Die Nacht war klar und der Mond in seinem letzten Viertel stand als schmale Sichel am Himmel. Sie nahm es nicht wahr, nur ihre Füße folgten der Radspur, ganz ohne ihr Zutun.
Sie ging Stunde um Stunde, nahm nicht wahr wenn sie stolperte und fiel, viele Male. Die Erschöpfung lockte liegenzubleiben und zu vergehen, aber der unüberwindbare Drang ihren Baum zu finden riß sie immer wieder hoch.
Als der Morgen graute gelangte sie an die Straße ohne zu merken, daß ihre Füße nun auf Macadam traten. Sie wäre weitergegangen aber irgendein Instinkt warnte sie stehenzubleiben. Ein Monstertruck raste herbei und rauschte dicht an ihr vorbei. Der Fahrer beugte sich aus dem Fenster und brüllte Unverständliches ...
Lili hat ebenso gespannt wie schweigsam zugehört. Nur einmal hat sie "Diese Hexe!" gezischt als sie hörte wie Mariana Ceni wegjagte. Jetzt muß es aus ihr heraus. "Aber jetzt trifft sie deinen Freund und er nimmt sie mit?" fragt sie hoffnungsvoll und schenkt mir einen Augenaufschlag. "Alles wird gut?"
"Du meinst Stuart?" frage ich und fühle mich keineswegs hoffnungsvoll oder auch nur im geringsten erleichtert. "Er ist mehr als nur ein Freund, viel mehr! Aber gemach!
"Stell dir vor, statt des Trucks wäre eine Polizeipatrouille vorbeigekommen! Die Beamten hätten sofort angehalten als sie die offensichtlich verwirrte Frau auf der Straße bemerkten. Sie hätten sie mitgenommen und im nu spitzgekriegt, daß sie nur spanisch sprach. Dann brauchten sie nur einen Dolmetscher aufzutreiben - in diesem Teil des Landes wo die halbe Bevölkerung spanisch spricht eine Kleinigkeit - und früher oder später wäre herausgekommen, daß sie die seit langem im ganzen Staat gesuchte Diplomatentochter war! Man hätte sich mit dem nächsten spanischen Konsulat in Verbindung gesetzt und keine vierundzwanzig Stunden später hätte sie in den Armen ihrer Familie gelegen. Wie leicht wäre alles gewesen!"
Aber es kam keine Patrouille. Es war wohl nicht die rechte Tageszeit. Wahrscheinlich saßen die Beamten noch bei Kaffee und Donuts in der Wachstube und warteten auf ihre Ablösung - oder jagten Verbrecher, wer
weiß ...
"Wenn du an die Straße kommst geh nach links," hatte Anita einmal gesagt. Das war ganz am Anfang ihrer Bekanntschaft als Ceni zugab Spanierin zu sein. "Wenn du lang genug gehst - falls du es durchhältst, oder vielleicht nimmt dich auch einer mit - kommst du nach New York City. Dort mußt du dich halt nach Spanien durchfragen."

Spanien, das war ein mystischer Ort von dem in diesem Teil der Welt (der Südwesten der USA) kaum einer wußte wo er lag, geschweige denn wie man dorthin gelangte.
Ceni ging nach links. Ohne es zu wissen wanderte sie von der linken Seite auf die rechte und wieder zurück, oder auch auf der Mitte der Straße. Hin und wieder kam ein Auto vorbei. Die Fahrer hupten und umfuhren sie wenn nötig, und fuhren weiter. Sie achtete nicht darauf.
Der Baum - ihr Baum! - wartete am Ende der Straße! Alles andere ging unter im Nebel völliger Erschöpfung.
Dann kam doch ein Wagen der hielt. Ich sehe es Lili an wie sie den Atem anhält und jetzt losjubeln will: "Dein Freund!"
"Ja, Lili, es war Stuart."
Er kam sachte von hinten herangefahren und fuhr langsam neben ihr her bis sie halbwegs aus ihrer Trance auftauchte und stehen blieb.
Der Fahrer hielt an und machte eine Geste die sie nicht verstand. Er beugte sich herüber, öffnete die Beifahrertür und sagte etwas. Sie verstand ihn nicht. Da stieg er aus, ging um den Wagen herum und drängte sie sanft in den Wagen. Dabei verlor sie den rechten Schuh. Er hob ihn auf und reichte ihn ihr. Er hat sicher die Narben auf ihrem Fußrücken gesehen aber er hat mir niemals davon erzählt - nur, daß der Fuß ziemlich schmutzig war, das sagte er mir ...
Nachdem er gleichfalls eingestiegen war fuhr er los. Das sanfte Rollgeräusch lullte sie ein. Doch dann sagte er etwas und sie schreckte auf. Sie sah ihn verständnislos an und plötzlich sprach er Castellano - stell dir vor, er sprach Castellano - nicht diesen Singsang den Anita von sich gab!
Er streckte die Hand aus - sie hatte gesehen, daß es die Leute in diesem Land tun wenn sie sich vorstellen - und sagte etwas, das wie "Tutaweh" klang. Das war wohl sein Name. Sie sagte leise, "Ceni." Zu mehr war sie nicht fähig.
Er hatte den Grad ihrer Erschöpfung bemerkt und reichte ihr Kaffee aus einer Thermosflasche. Mehr habe er nicht dabei, sagte er. Er mußte ihr die Tasse an die Lippen halten ehe sie begriff was es war und nach dem ersten Schluck zwang sie ungeheurer Durst die Tasse leer zu trinken obwohl der Kaffee widerlich nach Alkohol schmeckte.
Die Kombination von Kaffee und Alkohol hätte ihre Lebensgeister wecken sollen aber es war wohl schon zu spät. Sie sank in das Polster zurück und er respektierte ihre Schweigsamkeit. Er sagte mir später, wenn er geahnt hätte wie es um sie stand, hätte er Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt und getan was zu tun war. Er hätte sie ins nächste Krankenhaus gebracht und wäre geblieben bis sie über den Berg war.
Er hatte natürlich auch keine Ahnung wer sie war; das hat er erst viel später von mir erfahren, aber das erzähle ich in einer anderen Geschichte.
Ceni, nicht mehr ganz bei sich und vom Alkohol umnebelt, fand ihn sympathisch zumal er Papá nicht unähnlich war. Sicher hatte man ihn geschickt sie nach Hause zu holen. Der Gedanke löste ein Gefühl heißer Freude in ihr aus. Sie würde ihren Baum wiedersehen! Natürlich ging sie mit ihm, wohin er auch fuhr, selbst wenn der Weg nicht gleich nach Hause führte!
Und dann hielt er plötzlich das Auto an und bedeutete ihr auszusteigen! Was hatte sie falsch gemacht? Vor ihnen befand sich eine Kreuzung. Er deutete nach vorne und sagte, "Sie gehen dort entlang, nach New York City!"
Er drückte ihr ein Bündel Geldscheine in die Hand und meinte das müßte für ein Mahl reichen, sowie für ein Kleid und vielleicht auch die Fahrkarte.
Er ließ sie aussteigen und reichte ihren Schuh heraus der auf dem Fußboden des Fahrzeugs gelegen hatte. Den hatte sie vollkommen vergessen. Vollkommen verdattert und aus allen Wolken gefallen stand sie da und starrte ihm nach wie er um die Ecke fuhr bis das Fahrzeug verschwand.

Ihr war schwindlig. Unschlüssig stand sie da, doch dann riss sie sich zusammen. Sie würde dem Weg folgen den er gewiesen hatte. Vielleicht wollte er ja nur daß sie vorausging. Sicher würde er später folgen und sie nach Hause bringen!
Das mußte er einfach! Sie wandte sich nach rechts wohin er gewiesen hatte und spürte einen stechenden Schmerz an der nackten Ferse. Erschrocken blickte sie nach unten und sah gerade noch ein wieselflinkes urhässliches Tier mit vielen Beinen und hochgebogenem Schwanz im hohen Gras verschwinden.
Skorpione sind unangenehme Gesellen. Der Stich amerikanischer Skorpione ist auch für Erwachsene lebensgefährlich. Wäre sie gesund und bei Kräften gewesen, hätte sie den Stich überleben können. Oder auch wenn jetzt Hilfe zur Stelle war konnte sie gerettet werden. Aber der Mann Tatelu war längst ihren Blicken entschwunden.
Ein wahnsinniger Schmerz schoß an ihrem Bein hoch und breitete sich aus. Sie merkte nicht wie ihr Schuh und Geldscheine aus den Händen glitten, auch nicht, daß sie plötzlich auf der Erde saß und dann hintenüber kippte.
Noch hörte sie das Fahrzeug das in hoher Fahrt aus der Seitenstraße herausschoß und auf der Kreuzung mehrere Kreise beschrieb. Sie sah auch nicht den Mann Tatelu wie er sich aus dem Seitenfenster beugte und nach ihr Ausschau hielt - sah und hörte nicht wie er enttäuscht in langsamer Fahrt in die Straße zurückfuhr aus der er gerade gekommen war.
Woher hätte er wissen sollen daß er nicht nach einer stehenden oder gehenden Frau suchen mußte sondern nach einer halb versteckt im hohen Gras liegenden!
Ceni fand sich in der Krone ihres geliebten Baumes. Sie fragte nicht wie sie dahin gekommen war. Heiße Freude blühte in ihr auf und aller Schmerz war verschwunden. Pol hatte einmal gesagt, "Wenn du aus großer Höhe fällst ..." Das war vor langer Zeit als sie noch klein waren. Er wollte ihr Angst machen weil er es nicht schaffte gleichfalls hinaufzuklettern. Er stand unter dem Baum und wartete auf sie! Sie löste ihre Hände aus dem Geäst und beugte sich vor, Pol entgegen ...

... Mitten in der Nacht fuhr Pol aus tiefem Schlaf auf. Ihm war, als hätte er Cenis Stimme gehört. Sie war nach Hause gekommen und man hatte ihn nicht wecken wollen weil er so spät nach Hause gekommen war! Verdammte Schnecke mit der er den Abend verbracht hatte! Sie war es nicht wert, Ceni war wichtiger!
Er sprang aus dem Bett und warf hastig etwas über, trat dann auf den Flur hinaus. Alles war still. War sie etwa schon zu Bett gegangen? Sie mußte todmüde sein nach der beschwerlichen Reise! Er ging den Gang hinunter und klopfte leise an ihre Zimmertür.
Keine Antwort. Er öffnete vorsichtig die Tür und lugte ins Zimmer. Es war dunkel und als er das Licht einschaltete fand er es leer.
Dann war sie bestimmt unten im Salon mit den Eltern! Aber warum war alles so still? Er fühlte sich unheimlich, spürte Unheil. Er kannte dieses alte Gemäuer wie kein zweites, hatte praktisch sein ganzes Leben hier verbracht und kannte jeden Winkel. Wieso hätte er sich jetzt fürchten sollen? Ihn schauerte. Er schlich die große Freitreppe hinunter, durchquerte die dunkle Halle und schaute in den Salon. Auch der lag dunkel und still.
Schließlich trat er vor die Haustür und blickte an der Fassade entlang. Nirgendwo war ein Licht zu sehen. Er kuschelte sich in den dicken Wintermantel den er anstelle seines Hausmantels gegriffen hatte und war froh darüber. Winternächte in Madrid können schrecklich kalt sein. Die Nacht war klar, trotzdem war es dunkel denn der Mond in seinem letzten Viertel stand als schmale Sichel am Himmel.
Es gab nur einen Ort wo sie sein konnte! Langsam und vorsichtig, mit den Händen tastend um nicht unversehens irgendwelche Zweige ins Gesicht zu bekommen, ging er vertraute Pfade entlang, stand schließlich unter ihrem Baum und schaute in die Höhe.

Der Baum ist ein Kandelaberbaum mit lichtem Geäst, das heißt man kann leicht bis nach oben in seine Krone blicken. Aber jetzt herrschte tiefe Dunkelheit. Dennoch: ihm schien als bewegte sich ganz oben in der Krone, dort wo Ceni immer gesessen hatte, ein großer Schatten. Das mußte sie sein! Sie war nach Hause gekommen!
Es war ihm auch klar daß sie zuerst ihren Baum aufsuchen würde. Er legte eine Hand als Schalltrichter an den Mund und rief leise "Ceni?" Dann lauter, drängender: "Ceni!"
Ein kleiner Vogel flatterte aufgeschreckt, irgendwelches Kleingetier huschte raschelnd über den laubbedeckten Boden, das war alles. Der Schatten oben im Geäst rührte sich nicht und gab auch keinen Laut von sich. War sie etwas eingeschlafen? Mein Gott, sie konnte den Halt verlieren und abstürzen!
Sollte er zu ihr hochklettern? Er griff nach dem Strick der dicht am Stamm herunterhing. Aber wie sollte er jetzt schaffen was er nicht als kleiner Junge geschafft hatte, zumal in der Dunkelheit? Und dieser Strick, er war uralt! Vielleicht war er morsch? Dann würde er unweigerlich abstürzen!
Die letzten Stunden der Nacht stand Pol unter dem Baum und blickte angestrengt nach oben wo sich der Schatten seinen Augen immer deutlicher abzeichnete. Immer wieder rüttelte er an dem Strick und rief "Ceni!" Aber alles war umsonst.

Das Morgenlicht löste die Illusion: Die Baumkrone war leer. Ernüchtert, verkatert, übernächtigt und völlig durchgefroren kehrte er ins Haus zurück. In seinem Zimmer brach er in Tränen aus ...
Lili schluchzt zum Steinerweichen. Ich lege ihr die Hand auf's Köpfchen um sie zu trösten - irgendwie, vielleicht unter dem Eindruck der Erzählung, erinnert es mich an Ceni. Sie ergreift meine Hand und schmiegt ihre Wange daran. "Gab es denn keine Rettung für sie, Herr? Keine?"
"Schau, Lili, ich denke der Tod war eine Erlösung für sie. Sie hat in ihrem ganzen Leben soviel gelitten - mehr als ein Mensch überhaupt ertragen kann!"

Ende vierter Teil

Aber nicht das Ende der Geschichte. Noch nicht. Ceni ist nun zwar von allen irdischen Leiden erlöst, aber ihre Seele muß noch zurück nach Hause und Frieden finden. Und wie das geschieht erzähle ich demnächst.


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