STORIES


CENI

Folge 5

von Fred H. Schütz



5.


Sergeant Jim Chee saß im Büro seines Vorgesetzten in Tuba City und blätterte in einer vier Wochen alten Zeitung. Das Foto auf Seite drei sprang ihn an wie ein Panter seine Beute. Es zeigte ein ausdrucksloses Gesicht mit leerem Blick aus dem der Tod jegliche Identität gelöscht hatte, von etwaiger Schönheit ganz zu schweigen.
Die Überschrift sagte, "Wer kennt diese Frau?" und darunter hieß es, "Am Vormittag des 16. November 1969 entdeckten Streckenkontrolleure an der Kreuzung der Routes 66 und 59 die Leiche einer etwa zwanzig bis dreißig Jahre alten Kaukasierin dunklen Typs. Wer sie war, wie sie ums Leben kam und wie sie an den Fundort gelangte ..." Der Absatz endete mit dem Aufruf sachdienliche Hinweise blabla.
Chee faltete die Zeitung sodaß das Bild oben war und legte sie Lieutenant Leaphorn unter die Augen. "Hast du das gesehen?"
Der Angesprochene warf nur einen flüchtigen Blick darauf und schrieb weiter. "Was denkst du wohl." Doch dann hielt er inne und sah den Sergeant scharf an. "Weißt du was über sie?"
Chee nickte. "Sie war Hosteens Frau."
"Hosteen Graywing, den der Hexer erschossen hat?" Der Lieutenant ergriff das Blatt und studierte das Foto. "Ein Racheakt?"
"Kaum." Chee schüttelte den Kopf. "Keine äußere Gewalteinwirkung," zitierte er den Artikel. "Außerdem hat ein Hexer selten Freunde. Und Charlie Massa selber sitzt hinter Schloß und Riegel."
"Wo er bleiben wird bis man ihn einen Kopf kürzer macht!" knurrte der Lieutenant. "Der Kerl ist ein vielfacher Mörder."
Der Anflug eines Lächelns huschte über Chees Züge und verging. Chee war ein ernsthafter Mann. "Ich denke er wird die Giftspritze erhalten."
"Natürlich." Leaphorn studierte das Foto. "War sie hübsch?"
"Wie man's nimmt." Jims Blick verlor den Fokus als er sich Cenis Bild ins Gedächtnis zurückrief. "Interessant auf jeden Fall."
"Interessant," wiederholte der Lieutenant. "Weißt du ihren Namen?"
"Ja. Sie hieß Ceni Nadamas. Sie war Spanierin."
"Das weißt du genau?"
"Sie sprach nur spanisch. Iberospanisch."
Leaphorn hob die Brauen. "Kein Englisch?"
"Sie wollte nicht oder konnte nicht." Chee zögerte. "Zum Schluß sprach sie ein paar Worte, die Mrs. Pierce ihr beigebracht hatte - mit grauenhaftem Akzent." Dann setzte er hinzu, "Sie waren ja auch kaum ein Jahr zusammen."
"Innerhalb eines Jahres hat sie kein englisch gelernt? Merkwürdig!" brummte Leaphorn. Er hatte einen Notizblock herangezogen und schrieb eifrig.
Dann schaute er auf. "Wie ist Hosteen eigentlich an sie geraten? Sie war doch eine Weiße, nichtwahr?"
Jim nickte. "Er traf sie in der Ausstellung in Albuquerque die er damals leitete. Sie kam in Begleitung eines spanischen Granden-" "Grandee," sagte er und verzog dabei die Lippen wie über einem schlechten Geschmack. "Der Mann hieß Redface-"
"Redface? Das ist doch nicht spanisch!"
"Na ja, Cara colorada oder so ähnlich. Jedenfalls ging der blasierte Kerl Hosteen gehörig wider den Strich und die beiden gerieten aneinander."
"Ehrlich?" Leaphorn hob die Brauen. Er hatte Hosteen gut gekannt, konnte sich aber nicht erinnern daß der Navaho sich jemals auf eine Rauferei eingelassen hätte.
"Na ja," gab Chee zu, "es war eher verbal. Jedenfalls verließ der Kerl fluchtartig die Ausstellung und als seine Freundin nicht mitgehen wollte hat er sie einfach dazu gezwungen."
"Tut, tut," machte Leaphorn. "Seine Freundin oder seine Geliebte?"
"Ist da ein Unterschied?"
"Eine Geliebte wird ausgehalten," sagte der Lieutenant. "Eine Freundin tut's aus freien Stücken."
"So ist das also." Chee unterdrückte den Anflug eines Grinsens. "Jedenfalls hat er es nachher nicht für nötig befunden den Kerl zu benachrichtigen als seine - eh, Freundin oder Geliebte - im Krankenhaus war."
"Mal langsam!" rief Leaphorn. "Sie war im Krankenhaus? Wieso denn das?"
"Tja, das war so. Hosteen traf die beiden am selben Abend in einem Bumslokal im Rotlichtdistrikt. Er hat sich nicht sehen lassen aber hat sie beobachtet."
"Ein Lord und seine Freundin im Rotlichtbezirk," sinnierte der Lieutenant. "Wie kamen die denn ausgerechnet dahin?"
"Nun, ich schätze es war wegen des Westernsongcontests. Der Kerl war ja ganz hingerissen. Aber dann stritten sie sich und das Mädel lief ihm davon."
"So war das also. Und wieso kam sie ins Krankenhaus?"
"Nun, Hosteen sah sie davonrennen und folgte ihr. Er dachte, wenn sie von dem Kerl nichts mehr wissen wollte konnte er es bei ihr versuchen."
"Was er mit Erfolg getan hat." Leaphorn gestattete sich den Anflug eines Lächelns. "Und was geschah dann?"
"Nun, es kam wie es kommen mußte. Sie wurde überfallen und verletzt. Hosteen brachte sie ins Krankenhaus und kümmerte sich weiterhin um sie."
"Wurde der Täter gefasst?"
"Worauf du Gift nehmen kannst! Noch in der gleichen Nacht. Zehn Dollar hat er bei ihr kassiert."
"Zehn Dollar? Nicht mehr?"
"Das war alles was sie bei sich hatte. Augenscheinlich war es ihr ganzes Vermögen."
"Hm. Praktisch mittellos und sie rennt einem reichen Kerl davon! Das ist reichlich merkwürdig, findest du nicht?"
Der Sergeant hob die Schultern. "Wer kann schon sagen was in den Köpfen solcher Leute vorgeht."
"Aber daß sie--" der Lieutenant konsultierte seine Notizen - "Ceni Nadamas hieß, das ist sicher?"
"So stand's im Anmeldeformular des Krankenhauses."
"Sie könnte einen falschen Namen angegeben haben," sinnierte der Lieutenant. "Womöglich wollte sie nicht daß ihr Freund erführe wo sie war?"
Der Sergeant hob die Schultern und Leaphorn fuhr fort, "Hatte sie denn keine Papiere?"
"Es wurden keine bei ihr gefunden. Ich schätze, der Täter hat ihr Täschchen mitgenommen mit allem was drin war und es später weggeworfen."
"Das läßt sich herausfinden. Ich werde in Albuquerque Erkundigungen einziehen," sagte der Lieutenant. "Noch eins: Woher wissen wir daß ihr Freund - besser gesagt, ihr damaliger Freund - Caracolorada hieß?"
Chee machte eine verlegene Geste. "Hosteen bat mich seinerzeit es für ihn herauszufinden. Er wollte sichergehen daß die Sache mit dem Kerl koscher war--" Er zögerte. "Ich habe in den Hotels nachgefragt ... Das war ein Freundschaftsdienst, weißt du, keine rechte Polizeiarbeit. Deshalb bin ich mir wegen des Namens heute nicht mehr ganz sicher."
"Nun, der Tod der Frau macht es zur Polizeiarbeit," sagte der Lieutenant und dann grinste er. "Ist schon in Ordnung, Jim. Du hast gute Polizeiarbeit geleistet und verdienst Belobigung. Ich werde die Angelegenheit an die zuständigen Stellen weitermelden und dann ist der Fall für uns hoffentlich erledigt!"

*


Etwa neun Monate nach der oben geschilderten Unterhaltung, genauer am 12. September 1970, betrat ein elegant gekleideter junger Mann mit ernstem Gesichtsausdruck den Friedhof der Kleinstadt Tucumcari im US-Bundesstaat New Mexico. Neben ihm trippelte eiligen Schritts Mrs. Roscoe, ihres Zeichens Verwaltungsangestellte bei der städtischen Friedhofsverwaltung. Ihr Blick wanderte nervös zwischen den Seiten der Kladde in der sie blätterte und den Grabreihen voraus und seitwärts hin und her.
Ihnen folgte ein kleiner Trupp von vielleicht einem Dutzend Journalisten und etwa ebensoviel Schaulustigen, und ganz zum Schluß und mit gebührendem Abstand um nicht zu stören, zwei Friedhofsangestellte und der Kleinbagger der Friedhofsverwaltung.
Sie durchquerten fast den gesamten Friedhof der, wie in den Vereinigten Staaten üblich, sehr weiträumig angelegt war. Schließlich blieb Mrs. Roscoe vor dem Grab Nr. 2614 stehen und deutete. "Hier ist es!"
Pol nahm den steifkrempigen Hut vom Kopf und betrachtete das schlichte Holzkreuz am Kopfende der Grabstätte. Schließlich sah er auf Mrs. Roscoe hinunter und fragte, "Jane Doe? Wußten Sie keinen besseren Namen für sie?"
"Das ist hier so üblich," entgegnete die Frau spitz. "Unbekannte Tote heißen nun einmal John oder Jane Doe! So werden sie in unseren Büchern geführt."
"Sie war keine Unbekannte!" sagte Pol mit scharfem Klang in der Stimme und die Frau zuckte zusammen. "Sie war meine Schwester!"
Mrs. Roscoe hob ihrerseits die Stimme. "Das muß sich erst noch herausstellen! Sie müssen sie identifizieren!" Was bildete der Kerl sich nur ein! Kommt von irgendwo daher und will den Boss spielen! Nicht mit mir!
Pol senkte den Kopf und betrachtete das schmucklose Grab und das Kreuz. Unter dem Namen "Jane Doe" befand sich ein aufgemaltes, bereits reichlich verwittertes Kreuzzeichen wie es gebräuchlicherweise dem Sterbedatum vorausgestellt wird, und das Datum: 16. November 1969. "Wie denn?" fragte er bitter. "Sie liegt unter der Erde und auf dem Kreuz steht ein falscher Name!"
"Das haben wir gleich!" sagte Mrs. Roscoe forsch. Sie wandte sich um und winkte. "wir wollen etwas zur Seite gehen. Der Totengräber braucht Platz!" So, jetzt hatte sie es dem Ekel heimgezahlt!
Leise knatternd kam der Bagger herbei, blieb mit elegantem Schwung vor dem Grab halten - Mrs. Roscoe deutete noch einmal darauf, es muß ja schließlich alles seine Ordnung haben - und schon senkte sich die Grabschaufel.
Blitzlichter leuchteten auf und dann mußten die beiden Grabarbeiter allzu eifrige Journalisten zurückdrängen damit niemand in die Grube stürzte und sich Schaden tat.
Die Totengräber verstanden ihr Handwerk. Im nu war das Grab ausgehoben und schon senkte sich der Greifarm des Baggers und hob den Sarg heraus.
"Eine Pappschachtel," stöhnte Pol. "Meine Schwester liegt in einer Pappschachtel begraben!"
"Tja, für-" Sie war drauf und dran "Für Landstreicher" zu sagen aber besann sich rasch eines besseren. "Für mehr hat die Stadt kein Geld wenn der Tote nichts besaß und keine Angehörige da sind die für das Begräbnis aufkommen können!"
"Aber eine Pappschachtel!" wiederholte er. "Wie kann man nur so herzlos sein!"
"Sie müssen die Tote identifizieren!" sagte sie rasch. Der Baggerführer hatte den Sarg neben dem Grab abgesetzt. "Kommen Sie, Sie müssen ihr Gesicht ansehen! Das heißt," setzte sie hinzu, "falls Ihr Magen das aushält."
"Nicht nötig!" erwiderte er, "diesen Fuß kenne ich!" Beim Absetzen war der morsche Sarg aufgerissen und der rechte Fuß der Leiche ragte hervor. Die Haut, verledert und geschrumpft und voll dunkler Flecken, und deutlich zu sehen: die Narben auf dem Fußrücken.
Schwer atmend stand er und starrte, von einem Gefühlssturm überwältigt der ihn überrascht hätte wenn er klaren Denkens fähig gewesen wäre. Er rang um Fassung und dann
"Diesen Fuß würde ich unter tausenden wiedererkennen," stieß er hervor. "Sie ist es! Sie ist meine Schwester!"
"Sind Sie sicher?" Die Frau sah ihn prüfend an. "Normalerweise müßten Sie ihr Gesicht sehen um zu wissen wer sie ist - war."
"Todsicher!" sagte er, lauter als er wollte. "Es gibt keinen zweiten Fuß wie diesen auf der Welt!"
"Na ja," gab sie zu. "Wenn Sie so sicher sind ... Ein eindeutiges Merkmal genügt wohl auch."
Sie blickte hoch in sein Gesicht, und plötzlich spürte sie Mitleid. Mitleid mit einem vor Schmerz gebrochenen Mann. Sie wußte nicht was die Erinnerung vor sein geistiges Auge holte: der Anblick von Ceni wie sie blutend auf dem Boden lag nachdem er mit Papás Auto über sie hinweggerollt war.
Er wandte sich ab weil er den grausigen Anblick nicht länger ertragen konnte und würgte, "Ich - ich ..."
In diesem Moment stürmten die Reporter heran und ihre Stimmen schollen durcheinander. Pol prallte zurück und Mrs. Roscoe sprang in die Presche. Sie hob die Arme. "Geben Sie Ruhe! Dieser Mann hat großes Leid erfahren ..."
"Ja, aber wer ist er?" rief einer und der nächste, genauso laut: "Und wer ist die Tote?" Sie hatten den Namen Jane Doe auf dem Grabkreuz wohl bemerkt.
"Lassen Sie dem Mann seinen Frieden!" sagte Mrs. Roscoe energisch. "Die Friedhofsverwaltung wird Ihnen eine Notiz zukommen lassen aus der Sie alles erfahren. Aber jetzt gehen Sie!"
Murrend zogen sich die Reporter zurück, blieben aber in einiger Entfernung stehen. Wieder flammten die Blitzlichter. Die neugierige Menge hatte sich bereits bis auf einige wenige Gaffer verzogen die in das leere Grab starrten. Währenddessen lud der Bagger den morschen Sarg auf und fuhr auf dem Weg zurück den er gekommen war.
Mrs. Roscoe ergriff Pols Arm. "Kommen Sie, wir wollen die notwendigen Formalitäten erledigen!"
Immer noch barhäuptig und gesenkten Blickes ging Pol neben der Frau. Drei lange Jahre lang hatte er gehofft und gebetet seine Schwester irgendeines Tages aber doch wohlbehalten wieder in die Arme schließen zu können, und nun hatte er ihre Leiche gesehen! Nie wieder würde er sie necken können, nie wieder ihre Wange streicheln und sie trösten, nie wieder ihr verlegenes Lachen hören ... Wie sollte er es den Eltern erklären ...
Ein Traum war zu Ende, zerplatzt wie eine Seifenblase. Pol fühlte sich elend.
Im Büro der Friedhofsverwaltung gab es einen Moment der Mißstimmung weil Mrs. Roscoe nicht verstand wie Cenis Name zu schreiben war. Schließlich kritzelte er ihn auf einen Zettel und sie las mit hochgezogenen Augenbrauen: "Don?a María Dolores Temple y Guzman de Rostrorojo - wow! So lang!" Sie sah ihn groß an.
Und senkte den Blick als sie die Feuchte in seinen Augen bemerkte. Sie fühlte sich verlegen.
"Eine Lady," sagte er und bemühte sich nicht überheblich zu klingen. "Sie gehörte ebenso wie ich dem spanischen Hochadel an. Vielleicht verstehen Sie jetzt wie ich mich fühlte als ich sie in einem anonymen Grab sah. In ..." In einer Pappschachtel wollte er zufügen, unterließ es aber um die Frau nicht zu verärgern.
Sie nickte, langsam, mit niedergeschlagenen Augen. "Das - verstehe ich ... Glaube ich."
Mrs. Roscoe war eine tüchtige Frau und kannte ihren Job aus dem FF. Sie veranlasste die Umbettung von Cenis sterblicher Hülle in einen der hermetisch verschlossenen Zinksärge die für den Flugtransport von Leichen verwendet werden, und dessen Überführung zum nächsten Flughafen. Hiernach würde das Weiterkommen Pol obliegen.
Ihre Notiz für die Presse lautete: "Die Leiche der am ungefähr 16. November 1970 verstorbenen Donna Mary Temple wurde heute von ihrem Bruder Paul Temple identifiziert, der ihre Exhumierung sowie Überführung an ihren gemeinsamen Heimatort, Madrid, Spanien, veranlasste."
Sie dachte einen Moment nach und dann strich sie "Spanien" wieder aus. Die Öffentlichkeit wollte so genau nicht wissen woher Leute kamen die hier nicht zuhause waren.
Der Heimflug, so ruhig und weniger zeitaufwendig er aufgrund der neuen Düsenaggregate auch war, gestaltete sich für Pol als ein Trip durch die Hölle. Seine Gedanken kreisten um Ceni die drei qualvolle Jahre lang all sein Denken und Handeln bestimmt hatte. Nun ruhten ihre kümmerlichen Überreste im Frachtraum irgendwo unter seinen Füßen. Welche Angst hatte sie auf dem Flug in die USA ausgestanden, möglichst weit vom Fenster sitzend um nur nicht in die schreckliche Tiefe blicken zu müssen! Diese Angst war ausgestanden, sie war ja tot.
Tot! Er preßte die Fäuste ans Gesicht um sein Schluchzen zu unterdrücken. Sein Sitznachbar blickte ihn kurz an, zuckte die Schultern - es ging ihn ja nichts an - und wandte sich wieder seiner Lektüre zu.
Wie freudig war sie ihm entgegen gesprungen, wenn er von der Schule nach Hause kam! Sie hatte ihre Arme um ihn geschlungen und ihm einen fetten Kuß auf die Wange gedrückt. Es hatte ihn immer verlegen gemacht und er hatte mit dem Handrücken seine Wange abgewischt. Diese Küsse würde er nun nie mehr empfangen, sie war ja ...
Er erinnerte sich des Tages - sie waren drei oder vier Jahre alt - als sie verbotenerweise in der alten Burgruine spielten und sie in ein tiefes Loch fiel. Es hatte Stunden gedauert, bis man sie - relativ unversehrt aber völlig verstört und vor Angst schreiend - daraus bergen konnte. Oder wie er als sie noch Zöpfe trug diese an die Lehne eines der Stühle im Speisezimmer geknotet hatte. Das Mobiliar im Speisezimmer war uralt und tonnenschwer. Dennoch hatte sie den Stuhl bis zur Tür gezerrt ehe jemand ihr Weinen hörte und sie befreite.
Immer wieder war er es gewesen - er! - der sie in arge Bedrängnis gebracht hatte!
Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er eilte den Gang hinunter und schloß sich in der Flugzeugtoilette ein. Dort lehnte er seinen Kopf an den Spiegel über dem Waschbecken und heulte wie ein Schloßhund.
Die Türen von Flugzeugtoiletten sind nicht schalldicht. Die Stewardessen hörten sein Jammern und klopften an die Tür. "Mr. Temple, bitte kommen sie heraus!" Schließlich öffneten sie die Tür mit dem Hauptschlüssel und führten ihn an seinen Sitz zurück. Die Chefstewardess setzte sich zu ihm - sein voriger Sitznachbar hatte längst einen anderen Platz aufgesucht - flößte ihm einen Whiskey ein und hielt seine Hände. Da schüttete er der Wildfremden sein Herz aus.
Bei der Ankunft auf Barajas (dem madrider Flughafen) war er relativ gefaßt und besaß auch die Kraft das Entladen des häßlichen Zinksargs zu beaufsichtigen.
Die Traueranzeige, vom Sekretariat des Marquisen sorgfältig redigiert, war schlicht und so wurde sie in allen seriösen Blättern des Landes veröffentlicht. Der Trauergottesdienst hingegen war so pompös, wie ihn Ceni sicher nicht gewünscht hätte und fand in der madrider Aristokratenkirche San Jeronimo Real statt. Pol und wahrscheinlich auch der Marquis hätten ihre Parochialkirche Santa Ana vorgezogen aber die Aristokratie hat nun mal ihre eigenen Gepflogenheiten. Seine Eminenz, Don Alvaro Nun?ez Ochoa, der Bischof von Madrid, zelebrierte die Totenmesse und der päpstliche Nuntius, zu dem Zweck von seinem Sitz in Toledo herbeigeeilt, bestand auf einem Hochamt.
So dauerte die Angelegenheit anstelle der ursprünglich vorgesehenen fünfundvierzig Minuten weit über zwei Stunden. Wer im spanischen Hochadel abkömmlich war, kam oder schickte einen Vertreter. Der Generalíssimo war verhindert, aber Don?a Carmen nebst Tochter und Schwiegersohn (gleichfalls Marquis) ließen es sich nicht nehmen zu erscheinen. Für den damaligen Thronanwärter von Francos Gnaden, Don Juan Carlos und dessen Gattin, der Prinzessin Sophia von Griechenland war es eine heilige Pflicht; sie saßen in der ersten Reihe direkt neben Don Pablo der seine Galauniform angelegt hatte über der er als Zeichen seiner Trauer eine schwarze Schärpe trug. Don?a Dolores an seiner Seite war ganz in schwarz gekleidet, doch anstatt sich in der Verehrung der Anwesenden zu sonnen (wie sie gedacht hatte) zerfloß sie in tiefster Trauer. Pol, der neben ihr saß, fühlte sich davon unangenehm berührt; zu Cenis Lebzeiten hatte sie kein gutes Wort für ihre Tochter gehabt und das wurde ihm erst jetzt richtig bewußt.
Die kleine Kirche hatte nicht genügend Platz für eine Trauergemeinde dieser Größenordnung und viele mußten draußen bleiben. Der Kirchenvorplatz und sogar die Seitenstraßen waren schwarz mit Menschentrauben und als der Trauerzug - ein mit schwarzem Flor behangener Leichenwagen gezogen von vier schwarzen Rössern - in Richtung des markgräflichen Schlosses fuhr säumten Menschenmassen die Straßen und weinende Mütter die Ceni im Leben nie gekannt hatten winkten mit tränennassen Taschentüchern.
So genoß Ceni im Tod eine Popularität, die sie im Leben nie erfuhr.
Schließlich wurde ihr Leib in einem prunkvollen Katafalk aus edlem Mahagoni mit Messingzierrat - ihr Name war auf eine Messingplatte direkt unter dem Messingkreuz obenauf eingraviert - in der Familiengruft zur ewigen Ruhe gebettet. Und Mamá, deren Geist niemals ruhte, ließ die Erinnerungstafel in der Schloßkapelle ändern, um Cenis Lebensende aufzuzeigen. Es hat sie schrecklich gewurmt, daß sie Cenis genaues Sterbedatum nie erfahren würde.
"Weißt du es?" fragt Lili mit zitternder Stimme und sieht mich mit tränennassem Antlitz an. Es gibt mir einen Stich ins Herz zu sehen, was ich ihr mit meiner Erzählung angetan habe.
Ich schüttele den Kopf. "Nicht genau. Während der ersten Novemberdekade, schätze ich. Das folgere ich aus dem Datum an dem Waitluck San Francisco verließ: Halloween, und er brauchte mindestens zwei Tage, vielleicht drei, um die Stelle zu erreichen wo er mit Ceni zusammentraf.
"Übrigens," setze ich hinzu, "die beiden Streckenwärter wurden des Geldes nicht froh, das sie unterschlugen."
"Welches Geld?"
"Stuart hatte doch sein Geld mit ihr geteilt. Das stak in dem Schuh, der neben ihr lag."
"Das haben sie behalten?"
"Ja. Am Abend gingen sie feiern, wohl auch um den gräulichen Anblick der Leiche zu vergessen - und erlitten das gleiche Schicksal wie Ceni. Sie wurden überfallen und ausgeraubt."
"Geschah ihnen das recht?" fragt sie vorsichtig. Sie hat wieder die steile Falte zwischen den Augenbrauen.
"Aber ja!" Ich nicke, ehrlich empört. "Ceni wäre nicht wieder lebendig geworden wenn sie das Geld den Behörden übergeben hätten wie es sich gehört. Aber zumindest wäre sie nicht in einer Pappschachtel begraben worden."

Sie nickt ihrerseits. "Das verstehe ich. Glaube ich ..." Dann schaut sie auf und sieht mich fragend an. "Was ist eigentlich mit Cenis Kind? Es blieb doch zurück als Mariana Ceni verjagte? Du hast es nicht mehr erwähnt ..."
"Weil ich's nicht weiß, Lili! Aber eine gewisse Ahnung sagt mir, daß wir's erfahren werden."

Und zwar bald -
und das erzähle ich im Epilog


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