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ZEITWEISE ZEITLOS - SCHWINGUNGEN

von Andreas Leder



In meiner Funktion als Aeternus hatte ich über den geordneten Zeitablauf in allen Universen zu wachen. Die gedeihliche Entwicklung der jungen Systeme lag mir aber besonders am Herzen. Neue Universen entstehen nicht alle Tage, das war sogar für uns Zeitwächter ein seltenes Ereignis. Daher hatte ich auch allen Grund, Munditia, die neue Zeitwächterin in ihrem jungen Universum, öfter zu besuchen. Zu ihr zog es mich immer wieder hin.
Und wenn ich mein Erscheinen auch nicht ankündigte, so hatte sie immer eine kleine Überraschung für mich bereit. Diesmal war es ein Planet mit mehreren Kontinenten und einer Oberfläche, die zu etwa drei Vierteln aus salzigen Meeren bestand. Die Pole waren kalt und mit Eis bedeckt, um den Äquator zogen sich sowohl unergründliche Urwälder als auch staubtrockene Wüsten. Im Wasser verstreut lagen viele größere und kleinere Inseln und immer wieder spuckten Vulkane ihre heißen Grüße ins Land, was gerade in den Nächten besonders schön aussah.
Lebewesen gab es auch, aber die hatten in dieser Zeit noch keine Intelligenz entwickelt. "Ich war schon ein bisschen neugierig", gestand sie mir mit schelmischem Augenaufschlag. "So nett die Leute aussehen, die sich hier entwickeln, so seltsam werden ihre Anschauungen sein."
"Du hast diese Planetenbewohner in der Zukunft besucht?" fragte ich und "erzähl doch von ihnen." Wir hatten ja so selten Zeit, uns mit den Lebewesen zu beschäftigen, die all die Planeten in den unzähligen Galaxien bevölkerten.
"Ach, weißt du, eigentlich machen sie mich ganz traurig."
"Wieso denn?"
"Sie werden den schönen Planeten ganz und gar kaputt machen. Sie werden riesengroße Städte bauen und viele, viele Straßen. Die Meere und die Luft werden sie so schmutzig machen, dass das Leben gar nicht mehr lebenswert sein wird."
Sanft drückte ich sie an mich. Sie war so ein mitfühlendes Wesen, meine Munditia. "Und wie ist es jetzt hier?" machte ich den Versuch sie abzulenken und sie ließ es zu.
"Jetzt ist es einfach wunderbar. Komm mit!"
Sie nahm mich bei der Hand und sprang mit mir an den Fuß eines großen Gebirges. Unter uns breiteten sich grüne Täler und weite Wälder aus, die von einer Vielzahl von wild lebenden Tieren bewohnt wurden. Die höher gelegenen Felsen waren von Schnee und Eis bedeckt und der Himmel sah aus wie ein hellblaues Tuch.
Wir standen neben einer verwitterten Hütte, die aus starken Baumstämmen gebaut war. Am Dach wuchsen Moose und Gräser und drinnen war es so richtig angenehm zum Wohlfühlen. Auf meinen fragenden Blick antwortete sie: "Sie wäre sowieso von einer Lawine zerstört worden. Da hab ich sie kurz zuvor hergeholt." Das war gut so, denn damit hatte sie kein Bruch im Zeitablauf verursacht.
Wir genossen uns und die langsam vergehende Zeit und ließen es uns für ein paar Sonnenumläufe einfach nur gut gehen.
Doch die Pflicht ruft und irgendwann konnten wir unsere Aufgaben nicht mehr hinaus schieben. Ich verabschiedete mich und Munditia brachte die Hütte zurück in den ursprünglichen Zeitablauf, wo sie unter den herabstürzenden Massen der Lawine zerstört wurde.
Die Universen entwickelten sich zu meiner Zufriedenheit und ich konnte das Entstehen eines weiteren Universums beobachten. Obwohl es jedes Mal das Gleiche ist, so ist es doch immer wieder anders. Wieder stand ich vor der Aufgabe, einen Zeitwächter zu rekrutieren. Da ich jetzt wusste, was ich zu tun hatte, war es kein wirkliches Problem mehr für mich. Vorher wollte ich noch schnell bei Munditia vorbei schauen.
Als ich in ihr Universum kam, fiel mir sofort auf, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Etwas war anders als bei meinem letzten Besuch. Ich konzentrierte mich und ließ meine Sinne schweifen. Dabei verglich ich die jetzigen Eindrücke mit meinen Erinnerungen und hatte schon bald herausgefunden, was mich so störte. Obwohl Munditias Universum noch sehr jung war, hatte es seine Schwingungen fast schon an die eines Nachbaruniversums angeglichen. Dieser Vorgang konnte nicht natürlichen Ursprungs sein. Was lief hier falsch?

Ich fand Munditia, wie immer fröhlich, lächelnd, fast schon tanzend zwischen den Sterneninseln und noch bevor ich sie in die Arme nehmen konnte, entdeckte ich, dass sie es war, die die Schwingungen ihres Universums veränderte.
Sie stürmte auf mich zu und umarmte mich heftig. Doch sofort spürte sie, dass ich mich dagegen sperrte, dass ich nicht als ihr Vertrauter und Geliebter hier war.
"Warum machst du das, Munditia? Weißt du denn nicht, dass das niemals gut geht? Du schaffst ein Zeitchaos unvorstellbaren Ausmaßes!"
Jedes Universum schwingt in seinem eigenen Rhythmus. Die Lebewesen darin nehmen das nicht wahr, aber wir Zeitwächter und besonders ich, seit ich Aeternus geworden bin, nehmen die Schwingungen eines jeden einzelnen Universums sehr wohl in uns auf. Und so große Systeme, wie sie Universen einmal darstellen, sind bestrebt, aus Gründen, die man vielleicht einmal im Astrophysik-Unterricht gelernt hat, nach ein paar Ewigkeiten ihre Schwingungen aneinander anzupassen.
Dann schwingen zwei benachbarte Universen im Gleichklang und dabei schieben sie sich ineinander.
So harmlos das klingen mag, so schrecklich ist es für die betroffene Gegend, denn nicht die Räume, sondern die Zeiten sind es, die sich hier beginnen zu vermischen und dann haben wir das schlimmstmögliche Chaos. Ein Zeitchaos gigantischen Ausmaßes, mit keinem Chaosloch oder einem vielleicht quer fließenden Zeitstrom zu vergleichen. Dabei entsteht eine derart gewaltige Anomalie, die ein Zeitwächter alleine nicht beherrschen kann. Da müssen schon mehrere Zeitwächter im Verbund arbeiten, um großes Unheil von den betroffenen Universen abzuhalten.
"Weißt du, Aeternus, ich fühle mich hier nicht wirklich wohl. Immer ist da etwas, das an mir zieht und zerrt", erklärte Munditia. "So habe ich mich auf die Suche gemacht und bin durch alle nahen Universen gezogen. Und plötzlich war ich in einem, in dem ich mich total gut fühlte. Aber dort sind schon zwei Zeitwächter und ich kann sie ja nicht wegschicken. Also bin ich wieder zurückgegangen und habe entdeckt, dass es mir besser geht und ich mich wohler fühle, wenn ich in diesem Universum einige kleinere Anpassungen vornehme."
Ich war jetzt schon etwas ratlos. Vor diesem Problem bin ich noch nie gestanden. Gemeinsam besuchten wir das Universum, in dem sie sich so wohl fühlte. Jetzt verstand ich, dass ich mit daran schuld war, wenn sie sich nicht gut fühlte. Ich hatte Munditia in ein Universum versetzt, das nicht ihr eigenes war. Das spürte sie. Darum vermeinte sie, dass immer etwas an ihr zieht und zerrt.
Ich bat Munditia mit den Anpassungen nicht weiterzumachen, ich wollte mich zurückziehen und über das Problem nachdenken und bald mit einer Lösung zurückkommen. Sie versprach zwar, die letzten Änderungen nicht vorzunehmen, aber ich merkte, dass sie es nur zusagte, weil wir uns so nahe standen. Lange durfte ich mir nicht Zeit lassen.
Ich zog mich in das Universum zurück, das mein ursprüngliches Aufgabengebiet gewesen ist. Jetzt fiel mir auf, dass auch ich mich hier am wohlsten fühlte. Ich musste also irgendwo hier auf einem der unzähligen Planeten geboren worden sein, bevor mich der damalige Aeternus rekrutiert hatte.
Was sollte ich mit Munditia machen? Ich konnte sie natürlich in ihr eigenes Universum versetzen. Dann würden aber Agrestis und Faber, die zwei zuständigen Zeitwächter, glauben, dass ich ihnen nicht mehr vertraue. In ein anderes Universum konnte ich die zwei auch nicht versetzen, sie würden sich dort nicht wohl fühlen und ich hätte zwei neue Probleme.
Ich ließ meine Gedanken schweifen, versuchte abzuschalten, nichts zu denken, nur ein paar kurze Zeitalter zu meditieren, um mich so dem Problem von allen Seiten zu nähern.
Es kam jedoch, wie es kommen musste. Faber und Agrestis riefen um Hilfe und das konnte ich nicht ignorieren. Munditia hatte zu schnell die Geduld verloren und ihr Universum so weit angepasst, dass es bereits zu Zeitüberschneidungen und -überwerfungen mit dem Nachbaruniversum kam. Jetzt war rasches Handeln erforderlich.
Als ich ankam blähten sich bereits mehrere interuniverselle Zeitbrüche auf und Faber musste sich zusätzlich mit mehreren Zeitstrudeln und einigen Chaoslöchern gleichzeitig herumschlagen. Agrestis trieb eine Wand aus stabilisierter Zeitenergie vor sich her, um die Einbrüche aus dem fremden Universums aufzufangen. Die zwei machten das echt gut und ich spendierte ihnen neben viel Lob auch einiges von meiner Kraft. Damit hätten sie der Probleme Herr werden sollen.
Ich wollte mich nun Munditias Universum widmen und den Gleichklang der Schwingungen wieder aufheben. Sie war jedoch wild entschlossen, und setzte alle Energien ein, die ihr zur Verfügung standen, ihr Werk zu vollenden, sodass Faber und Agrestis auf verlorenem Posten standen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als die Zeit um sie herum anzuhalten. Sie wehrte sich, doch als Aeternus stehen mir Möglichkeiten zu Verfügung, von denen ich als normaler Zeitwächter nicht einmal geträumt hatte.
Ich bedauerte es sehr, aber ich musste ihr die Kräfte wieder nehmen, mit denen ich sie zu einer Zeitwächterin gemacht hatten.
Ein Laut des Schmerzes, des Kummers und der Traurigkeit klang durch das noch immer junge Universum und Munditias Gedanken verwehten wie ein Samenkorn im Wind.
Oh, nein! Das hatte ich so nicht gewollt! Der Schmerz, der sich in meiner Brust festkrallte, nahm mir den Atem, ließ mich abstürzen.
War es das, was der frühere Aeternus einmal als die "Hölle der Zeit" bezeichnet hatte, durch die ein jeder von uns einmal hindurch musste?
Jetzt war ich also wieder dort, wo ich gestanden bin, als ich diese Aufgabe übernommen hatte.
Zusätzlich hatte ich viel mehr Zeit, als mir lieb war, die ich alleine mit meinen Gedanken und Erinnerungen verbringen musste und nur wenig Zeit in der mich die alltäglichen Probleme ablenkten.
Verdammt, Zeit! Ich hasse dich!


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