STORIES


ST. MARTIN DU BOIS

von Fred H. Schütz



nach einer Idee von
Marion Stamatu-Wilting


Wutentbrannte Augen! Das war der erste Eindruck den Rupert von ihr hatte - später würde er schwören, er habe wirklich Funken aus ihnen hervorsprühen gesehen. Mit vor Wut zusammen gepreßten Lippen zischte sie: "Wenn mich noch einer fragt ob ich Dr. Fraiser vom Stargate-Zentrum bin, beiße ich ihm den Kopf ab!"
Normalerweise hätte ihn ihr Ausbruch zum Lachen gereizt, aber so wie sie vor ihm stand, bei aller Zierlichkeit auf ihn wirkend wie ein tollwütiger Eisbär, überkam ihn leise Furcht. "I-ich meinte ja nur," stammelte er.
Rupert Conreid war, was man in der Branche einen Rookie nennt, ein Anfänger. Und dies war der erste Auftrag zu dem man ihn allein geschickt hatte. Er war per Flugzeug, Bahn, Bus und zuletzt Taxi hierher gelangt, hatte erkennen müssen, daß je kleiner das Transportmittel um so kürzer die zurückgelegte Strecke war, und hatte sich schließlich mit dem Taxifahrer herumgeärgert der sich weigerte ihn weiter als bis zum Tor der Klinik zu fahren.
"Hier warte ich auf Sie," hatte der Mann gesagt. "Eine Stunde! Wenn Sie bis dann nicht wieder herauskommen nehme ich an, daß der Teufel Sie geholt hat und fahre allein zurück!"
Er war weder durch Bitten noch durch Drohungen von seiner Ansicht abzubringen gewesen, daß dies ein höchst gefährlicher Ort sei. Der Anblick des Torbogens - zwei miteinander kämpfende Urweltriesen - mochte allerdings den Eindruck erwecken. So machte sich Rupert schließlich zu Fuß auf den Weg. Dieser führte ihn, nachdem er den Torbogen passiert hatte, gut einen halben Kilometer durch eine Art Urwald - finster genug wie ihm schien; kaum zu glauben, daß keine fünf Kilometer von hier eine belebte Ortschaft lag - und endete vor einem wuchtigen Gebäude das nichts ähnlicher sah als einer mittelalterlichen Trutzburg. Sogar der Wendelturm an der Ecke fehlte nicht.
Anstelle einer Regenrinne saßen auf der Dachkante steinerne Wasserspeier. die aussahen wie aufmerksam dahockende Urweltwesen, oder wie sich Steinmetze einer früheren Zeit Ungeheuer vorstellen mochten, und über dem Eingang sah Rupert den Namen des Hauses in Form von kunstvoll geschmiedeten Eisenlettern - die allerdings schon so verrostet waren, daß er Mühe hatte sie zu entziffern: St. Martin du Bois.
Die Eingangstür - schwere Eichenbohlen, zusammengeheftet mit starken Eisennägeln deren vierkantige Köpfe weit herausragten - stand einladend offen, und als er eintrat mußte er erst einmal stehen bleiben, um seine Augen an das schummrige Halblicht zu gewöhnen. das hier herrschte.
Als er dann einigermaßen sehen konnte, fand er sich in einer weiten steingefließten Halle, die aufgrund ihrer Leere größer wirkte als sie vielleicht wirklich war. An der linken Seite der Hinterwand tat sich auf was wohl ein Gang war, und dessen Wände schienen aus ebensolchen ungetünchten Steinquadern errichtet, wie die der Halle. Rechts führte eine aus schwerem, vom Alter dunklen Eichenholz gebaute Treppe nach oben: fünf Stufen, Absatz, fünf weitere Stufen im Winkel nach links, und so weiter. Ein Karree.
Das war alles. Keine Information, keine Aufnahme, nichts. Das sollte ein Krankenhaus sein?
Gerade als er sich anschickte ein lautes "Hallo" auszustoßen - verdammt, irgendwer mußte sich doch in diesem Gebäudekoloß befinden, er konnte doch nicht ganz und gar leer sein! - trat aus einer Tür unter der Treppe, die er bislang nicht bemerkt hatte, eine nicht mehr ganz junge Frau heraus, angetan mit einem vorne offenen weißen Kittel unter dem ein dunkles Kleid hervorlugte, und weil sie ein Stethoskop um den Hals hängen hatte, nahm er an, daß sie eine Ärztin war.
Sie bemerkte ihn und trat näher, und als er ihren Namen auf dem an ihre Brusttasche gehefteten Schildchen las platzte er, anstatt sich ordentlich vorzustellen, mit dieser blöden Bemerkung heraus!
Er hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt.
Jedenfalls war sie schnell von Begriff, denn noch ehe er zu einer Entschuldigung ansetzen konnte, fragte sie: "Was soll denn das überhaupt sein, dieses Stargate-Zentrum?"
"Eine Fernsehserie," entgegnete er. "Eine geheime Militäreinrichtung besitzt ein Tor das zu anderen Welten im Universum führt."
"Dann ist der Titel schonmal falsch," bemerkte sie trocken, "denn dieses hypothetische Tor führt zu keinem Stern! Könnte es auch garnicht," setzte sie hinzu, "wenn diese Welt nicht im Plasma verglühen sollte!"
Er fühlte sich eingeschüchtert. "Man sagt halt so. ‚Reise zu den Sternen' ist ein gängiger Begriff."
"Science Fiction!" Sie sprach als hätte sie einen schlechten Geschmack im Mund. "Und die andere Dr. Fraiser, was hat die da verloren?"
"Sie ist Chefärztin der Einrichtung."
Ihre Lippen verbreiterten sich zu einem humorlosen Lächeln. "Na, dann haben wir ja mehr als nur den Namen gemeinsam!"
Abrupt drehte sie sich um und warf über die Schulter zurück, "Kommen Sie!" während sie bereits schnellen Schritts der Tür zustrebte aus der sie gekommen war.
Er folgte betreten.
Als er hinter ihr eintrat, fand er sich in einem spärlich eingerichteten Raum der wohl ihr Praxiszimmer war. Ein altersdunkler Schreibtisch, an der Rückwand ein Bücherregal mit - er glaubte es kaum - uralten Folianten darin, an der linken Wand eine Vitrine mit Medikamenten, daneben eine zweite in der irgendwelche chromblitzende Instrumente säuberlich aufgereiht lagen, und in der rechten Seitenwand ein schwer vergittertes Fenster, das war alles.
Sie deutete seinen Blick und zuckte die Schultern, "Einbruchsicher. Wir haben Drogen hier, das lockt lichtscheue Elemente an."
Sie machte eine einladende Geste und er nahm Platz, fand den Besucherstuhl so unbequem wie alle Besucherstühle auf denen er bisher gesessen hatte.
Als sie sah, daß er saß, nahm sie gleichfalls Platz. Ihr Sessel ist bestimmt der bequemste im ganzen Haus, dachte er mit einem Anflug von bitterem Humor. Dann sagte sie: "Nun, was kann ich für Sie tun?"
Er stellte sich vor, nannte sein Anliegen. Sie hörte mit hochgezogenen Augenbrauen zu und als er fertig war sagte sie: "Ach ja, ich erinnere mich. Die Times hat mir ihren Besuch angekündigt."
Dann verblüffte sie ihn. "Glauben Sie denn an Drachen?"
"Wie meinen Sie das?" fragte er vorsichtig.
"Ist es nicht offensichtlich?" Ihr Ton, bisher kühl, hatte sich verschärft. "Wer glaubt heute noch an Drachen!"
"Nun ..." Der Stuhl war wirklich sehr unbequem. "Um der Wahrheit die Ehre zu geben -"
"Sie glauben, hier wird Steuerschwindel großen Ausmaßes betrieben!"
Allerdings war er mit dieser Prämisse hierher gekommen, aber mit so etwas platzt man nicht heraus, umgeht das Thema bis sich eine Lücke in der Verteidigung des Gegenübers auftut, um ihn dann mit der Anschuldigung zu konfrontieren. Ehe er sich eine Erwiderung zurechtlegen konnte fuhr sie fort: "Sie wären nicht der Erste der mit dieser Anschuldigung hierher kommt! Aber Sie werden sehen, daß sie nicht der Wahrheit entspricht!"
"Eh - " begann er aber sie unterbrach ihn. "Sie werden sehen, daß dieses Haus voller Drachen ist!"
"Nun - " Er wußte nicht was er sagen sollte, war fast froh, daß sie ihn nicht weitersprechen ließ. "Ich werde Sie sie sehen lassen," sagte sie und ihre Stimme klang so heiß wie das Feuer das ihm aus ihren Augen entgegenloderte. "Aber sehen Sie sich vor und halten Sie Abstand," fuhr sie fort, "denn sie sind augenblicklich nicht in bester Stimmung!"
"Wie - wieso?" fragte er und mußte zweimal ansetzen um den Kloß hinunterzuschlucken der sich unbegreiflicherweise in seiner Kehle festgesetzt hatte.
"Alle Drachen," sagte sie als ob sie seine Frage überhört hätte, "alle heute noch lebenden Drachen sind hier in diesem Haus versammelt!"
"Wieso?" fragte er noch einmal, "ist dies denn nicht ein Krankenhaus?"
"Dies ist ein Krankenhaus!" Beim Klang ihrer Stimme fiel ihm unwillkürlich das Katana ein, das japanische Schwert das, ruhig gehalten, ein frei in der Luft schwebendes Haar durchschnitt. "Deswegen sind sie hier, denn sie sind krank! Alle!"
"Krank?" Der Kloß wollte sich einfach nicht auflösen. "Was in aller Welt - ?"
"Sie haben eingesehen - mußten einsehen, daß man ihnen keine Jungfrauen mehr zur Verfügung stellen würde und nach Jahrhunderten einseitiger Ernährung bekommt ihnen die Umstellung nicht. Deshalb sind sie krank! Wir - ja!"
Der letzte Ausruf galt dem Klopfen an der Tür. Ungehalten sah sie auf. Rupert wandte sich um - doch noch jemand im Haus? dachte er neugierig - und dann fiel ihm die Kinnlade herab.
Durch die sich öffnende Tür schwebte das herrlichste Geschöpf herein das ihm jemals unter die Augen getreten war: groß und schlank - endlich mal eine die nicht auf einen Stuhl klettern muß um mich zu küssen, dachte er. Das heißt, er dachte es nicht mit Worten sondern ein heiß glühendes Gefühl übermäßigen Glücks durchströmte ihn. Rupert besaß Gardemaß; das heißt, ein jeder der zwei Meter maß, war gut einen Zentimeter kleiner als er. Deswegen fühlte er sich ausgegrenzt, zumal die Reaktion seiner Zeitgenossen alles andere als aufrichtig war. Entweder fragte man hämisch ob er denn "da oben" noch Luft zum Atmen hätte oder man nannte ihn "Kleiner" so wie man ein kleines mickriges Kerlchen "Dicker" nennt, und das fand er ebenso niederträchtig.
Er stand auf und fand, daß sie ihm bis an die Brauen reichte. Sie trug einen rosafarbenen Kittel und als sie an ihm vorüberging bedachte sie ihn mit einem Blick der seine Knie weich werden ließ, daneben ein kurzes höfliches Nicken das bewies, daß sie ihn kaum mehr wahrnahm als irgendeinen Einrichtungsgegenstand. Und dann sagte dieses wunderbare Wesen - sie besaß einen Sopran der an jeder Weltbühne Furore gemacht hätte - sie sagte: "Doktor Fraiser, es ist Zeit für die Visite!"
"Ja, Mona," entgegnete die Angesprochene und begann auf ihrem mit Papieren übersäten Schreibtisch herumzusuchen. "Aber ich habe gerade Besuch. Gehen Sie schon mal voraus und ich komme dann auch gleich!"
"Wo soll ich anfangen, Doktor?" fragte die Engelsstimme. Rupert überliefen heiße und kalte Schauer. Er konnte die Augen von der himmelsgleichen Erscheinung nicht abwenden.
Die himmelsgleiche Erscheinung hatte einen Buckel, aber der machte ihren Rücken nicht krumm. Sie stand kerzengerade und wohl deshalb achtete Rupert nicht darauf. Womöglich hätte er auch einen krummen Buckel in Kauf genommen wenn er sie nur in den Arm nehmen durfte!
Doktor Fraiser grinste - wie eine Katze die einer Maus ansichtig wird, dachte Rupert. "Wo wir immer anfangen, Mona: bei ihrem Vater!"
"Ja, Doktor." Mona wandte sich und hatte schon ein, zwei Schritte in Richtung Tür getan als die Ärztin sagte, "Ach, Mona, das ist Mister Conreid von der London Times! Sie wissen doch: der Reporter!"
"Ja, Doktor," sagte die Engelsstimme und die Himmelsgleiche stoppte ihren Schritt und blickte ihn an. Rupert versank in zwei goldfarbenen Augen wie in einem bodenlosen Abgrund. Höllenfeuer umloderte ihn und Harfenklänge brausten in seinen Ohren.
"Mister Conrad," sagte das himmlische Wesen und neigte leicht den Kopf. Distanzierte Höflichkeit - so begrüßt man Fremde die man nicht kennen lernen will; noch machte sie Anstalten ihm die Hand zu reichen.
"Ich liebe dich," sagte Rupert oder dachte er hätte es gesagt. Was er wirklich sagte war, "Erfreut Sie kennen zulernen." Ebenso distanzierte Höflichkeit, und sein übermächtiges Verlangen sie an sich zu reißen und mit Küssen zu übersäen wurde durch eine plötzliche allgemeine Lähmung zunichte gemacht; er stand steif wie ein Stock, unfähig sich zu rühren, streckte auch seine Hand nicht zur Begrüßung aus.
Noch fiel ihm auf, daß sie seinen Namen falsch aussprach.
Das himmelsgleiche Wesen setzte seinen Weg fort und war alsbald durch die Tür verschwunden.
Rupert stand und starrte auf die Tür als könnte er sie mit seinem Blick durchdringen. Doch dann fiel die Lähmung von ihm ab wie Wasser von einem Hund, der sich nach dem Bad schüttelt. Er wandte sich Dr. Fraiser zu die endlich gefunden hatte was sie suchte: eine ziemlich dicke himmelblaue Kladde. "Wer ist das?" quäkte er.
"Mona?" Sie war aufgestanden und stand nun, die Kladde unter dem Arm. Plötzlich schien Sonne auf ihrem Gesicht - das kommt von ihrem Lächeln, dachte er. "Dr. Saebius' Tochter," sagte sie, "sie kam mit ihrem Vater um ihn zu pflegen. Jetzt hilft sie aus wo sie kann, hat sich damit unentbehrlich gemacht." Sie seufzte und die Sonne auf ihrem Gesicht ging unter. "Gott weiß, wie sehr wir der Hilfe benötigen!"
"Dr. Saebius?" fragte er. Er fühlte sich überfordert. Will mich denn niemand darüber aufklären was hier vor sich geht! Man hatte ihn regelrecht ins Blaue geschickt; noch nie war er mit so wenig Vorausinformation losgeschickt worden wie für diese Reportage!
"Dr. Saebius," wiederholte er, "ist er Arzt?"
"Er hat mehrere Titel," entgegnete sie und wiegte den Kopf. "Vielleicht ist er auch Arzt. Ich habe noch nie jemanden getroffen der so klug ist wie er. Aber vor allem," setzte sie hinzu, "ist er unser Patient!"
"Ihr Patient!" stieß er aus, "ich dachte, Sie haben hier nur Drachen?"
Sie ließ ein verhaltenes Lachen hören das wie Glucksen klang. "Dr. Saebius ist ein Drache!"
Diese Information war so gewaltig, daß sie ihm die Beine wegzog. Zu seinem Glück stand der Besucherstuhl genau hinter ihm. "Ihr - " Er mußte schlucken. "Ihr Vater ist ein Drache?"
Und merkte nicht, daß ihm das letzte Wort eine Oktave höher entfuhr.
Sie stand vor ihm und lächelte. Wie eine Katze die gerade Mäuse gefrühstückt hat, dachte er - oder hätte es gedacht wenn er eines klaren Gedankens fähig gewesen wäre. "Es hat sie wohl ziemlich erwischt?" sagte sie - war das eine Frage?
Sie nickte und ihr Lächeln wurde womöglich noch breiter. "So geht's jedem, dem sie begegnet. Sie - " Sie hielt inne und ihr Gesicht nahm wieder ernste Züge an. "Haben Sie ihren Buckel gesehen?"
Er nickte und begann sich wieder in die Höhe zu rappeln. "Flügelstutzen," sagte sie. Sie seufzte. "Sie wird wohl nie fliegen können ..."
"Kann sie denn Feuer spucken?" fragte er und schalt sich augenblicklich einen Narren weil er die Angebetete damit zur Witzfigur degradierte. Rupert, du bist ein Idiot, dachte er, angewidert von sich selbst.
Einen Moment lang starrte sie ihn an und brach dann in schallendes Lachen aus.
Das währte nur einen Augenblick. "Sie glauben dieses Märchen doch nicht! Ja," setzte sie hinzu, "Drachen können Feuer entfachen, aber das schaffen sie mit Gedankenkraft! Zumindest ist das die einzige Erklärung, die mir dazu einfällt."
"Haben Sie es denn schon gesehen?" fragte er und sie nickte "Ja. Aber jetzt kommen Sie! Begleiten Sie mich auf die Visite!"
Sie setzte sich in Bewegung und warf über die Schulter zurück: "Kommen Sie! Sie werden jetzt mehr Drachen treffen als Ihnen lieb ist. In Ihren schlimmsten Alpträumen haben Sie nicht soviel Drachen erblickt!"

Fortsetzung folgt


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