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DER BESTE FREUND DES MENSCHEN

von Susanne Stahr



Winseln, Jaulen, Heulen ... Julia presste die Mittelfinger gegen ihre Ohren. wie konnten diese Männer nur so roh mit den armen Hunden umgehen! Mit dem besten Freund des Menschen! Und das nannte sich Tierschutz! entsetzt wandte sie sich ab als der Hundefänger zwei quietschende Welpen in einen Käfig warf. Die schrillen Schmerzenslaute gingen ihr durch Mark und Bein.
Einen Seufzer unterdrückend eilte die zierliche Frau die Straße hinunter. Julia war müde. Nach acht Stunden Computerarbeit kein Wunder. Als sie in ihre kleine Wohnung trat, umfing sie die Stille und Einsamkeit wie ein über den Kopf gestülpter Plastiksack, der sie langsam zu ersticken drohte. Halb in Panik öffnete sie das Fenster. Nach einer halben Stunde war die abgestandene Luft ausgetauscht, aber Julias Beklemmung war nicht gewichen. Je älter sie wurde, umso schwerer fiel ihr das Alleinsein. Schon zogen sich graue Fäden durch ihr nussbraunes Haar. Wenn sie wenigstens ein Tier hätte ...
Die jungen Hunde fielen ihr ein. Was geschah mit ihnen? Zuerst kamen sie wohl ins Tierheim. Und dann? Wenn sie niemand wollte, wurden sie dann eingeschläfert? Eine Gänsehaut lief über ihren Rücken bei diesem Gedanken. Unlustig bereitete sie sich ein einfaches Mahl. Wie schön wäre es doch jetzt, den Knochen ihres Koteletts einem Hund zuwerfen zu können! Der treue Blick, das Schwanzwedeln ..... Ihre Gedanken schweiften zurück in ihre Kindheit auf dem Land. Gipsy! Er war ein Mischling, mittelgroß und hellbraun wie die Welpen ... Nun stahl sie sogar eine Träne in ihren Augenwinkel. Gipsy war sechzehn Jahre alt geworden. Zum Schluss lag er nur noch in der Sonne vor dem Haus und ging abends in seinen Korb. Ja, und eines Tages blieb er einfach vor dem Haus liegen. Er war ganz still eingeschlafen. Erst am Abend bemerkten sie, dass er tot war.
Ohr Gipsy! Wenn er doch noch hier wäre! Diese Welpen ..... War das nicht ein Wink des Schicksals? Einer hatte doch ganz genauso ausgesehen wie Gipsy. Plötzlich überfiel sie eine heftige Sehnsucht nach dem kleinen Fellbündel. Am liebsten wäre sie gleich zum Tierheim gelaufen. Nein, heute war es zu spät. Aber gleich morgen. Das war ein Samstag und da hatte das Tierheim sicher offen. Mit diesem Gedanken ging sie zu Bett.

Gipsy war putzig, süß, brav, ein wunderschönes Kerlchen ... er erfüllte alle Kriterien als sie ihn das erste Mal hochhob und seine kleine, weiche Zunge über ihr Gesicht fuhr. Das Beste war, dass sie ihn mit zur Arbeit nehmen durfte. Gipsy schlief fast die ganze Zeit unter ihrem Schreibtisch. Er war doch nur zwei Handvoll braunes Flauschfell, süße Schlappohren und ein Ringelschwanz, der sogar im Schlaf wedelte.
Julia hatte ihm ein schönes, weiches Hundebett gekauft, natürlich größer als derzeit benötigt. Sie wusste nicht, wie groß er werden würde. Auch der Tierarzt, der ihn geimpft hatte, wollte sich nicht festlegen. Dass er sich prächtig entwickelte, war unübersehbar. Sein Appetit war grenzenlos und Julia fand, dass er überraschend schnell wuchs.
Als er fünf Monate alt war, besorgte sie ein neues, größeres Bett für ihn. Gipsy war deutlich darüber hinaus gewachsen. Um diese Zeit knurrte er sie auch das erste Mal an als sie seinen Futternapf nicht schnell genug füllte. Er schien immer hungrig zu sein. Obwohl er fast wie ein erwachsener Hund wirkte, war er noch immer tollpatschig wie ein Welpe. Dann kam der Tag, da er mit seinen scharfen Welpenzähnen nach ihrer Hand schnappte und ihr die Haut am Handrücken aufriss.
Besorgt darüber erzählte sie den Vorfall Mr. Green, dem Leiter der Hundeschule. Da erschien eine steile Falte zwischen den dunklen Brauen des Mannes. Er gab ihr einige kleine Aufgaben und beobachtete sie dabei aufmerksam. Gipsy war an diesem Tag besonders ausgelassen. Er tollte um sie herum und wollte nicht auf sie hören.
"Ihr Hund braucht eine strenge Gehorsamserziehung", erklärte ihr Mr. Green. "Er hat keinen Respekt vor Ihnen." Und dann kamen eine ganze Reihe von Anweisungen.
Julia schwirrte der Kopf. Gipsy sollte nur noch nach ihr durch eine Tür gehen. Oje, das würde schwierig werden. Seine angebliche Tollpatschigkeit war nur gespielt, meinte Mr. Green, er remple sie absichtlich an, zum Zeichen, dass er ranghöher wäre. Auch das sollte sie bestrafen. Und dann das Härteste: er durfte nur fressen, wenn sie es erlaubte und immer nur, nachdem sie gegessen hatte. Wie sollte sie das nur machen? Sie hatte Gipsy immer zuerst gefüttert und dann erst ihr Essen bereitet. Meist war er dann schon mir seiner Portion fertig und erbettelte sich den ersten Happen von ihrem Teller.
"Sie müssen konsequent sein, sonst können Sie ihren Hund nicht mehr bändigen. Er scheint ziemlich groß zu werden", riet Mr. Green.
Sehr nachdenklich ging Julia nach Hause. Gipsy sprang fröhlich um sie herum. Zu Hause holte er sofort seinen Futternapf und knallte ihn auf ihren Fuß. Ein scharfer Schmerz durchzuckte Julia. Dann holte sie tief Atem.
"Du wirst jetzt warten, Gipsy!", sagte sie streng. "Zuerst esse ich." Damit ging sie in die Küche und stellte Wasser auf. Spaghetti mit Pasta wollte sie kochen. Gipsy saß in der offenen Tür und starrte sie an.
Als sie keine Anstalten machte, sein Futter zu bereiten, lief er zum Vorratsschrank, wo sie seine Hundeflocken aufbewahrte und bellte ein paar Mal.
"Still, Gipsy!", schalt sie. "Zuerst ich, dann du!"
Da sprang er auf sie zu und knurrte sie böse an. Ein Schreckensschrei entfuhr ihr. "Gipsy, Platz!", schrie sie.
Aber der Hund hörte nicht. Mit gefletschten Zähnen drängte er sie zum Vorratsschrank. "Du machst mir jetzt mein Essen!", hörte sie eine tiefe Stimme in ihrem Kopf, die vor verhaltener Wut vibrierte.
Zitternd und schwitzend vor Angst gehorchte Julia. "Das bilde ich mir nur ein", flüsterte sie vor sich hin. "Das kann doch nicht wahr sein."
"Warum denn nicht", höhnte Gipsy und hob kurz den Kopf aus dem Napf. "Diese blöde Hundeschule kannst du übrigens in Zukunft vergessen. Wir kommen schon miteinander klar." Darauf folgte das hässlichste Gelächter, das sie je gehört hatte.
"Ich bin überdreht", sagte sich Julia als sie zu Bett ging.

Doch am nächsten Morgen ging es in der gleichen Tonart weiter. Sie musste zuerst Gipsys Futter herrichten. Dazu durfte sie nichts essen, bis er satt war. Als sie die Wohnung verließen, rempelte er sie so wild an, dass sie mit der Hüfte gegen den Türstock prallte und den ganzen Tag Schmerzen litt. Am Abend entdeckte sie an dieser Stelle einen großen, blauen Fleck.
"Sieh, was du gemacht hast, Gipsy!", warf sie ihm vor.
"Das kommt noch schlimmer, wenn du wieder frech wirst", drohte er. "Ich gehe voraus und du darfst mir folgen."
"Ich muss ihn weggeben", schoss es ihr durch den Kopf. Ihr Blick glitt über das braune Fell, den eckigen Kopf, die kräftigen Läufe. Nein, es war kein schöner Hund. Alles schien an ihm grob und ungeschlacht. Dabei war er doch noch so jung. Wenn sie ihn mit anderen jungen Hunden verglich, die sie in der Hundeschule gesehen hatte ... Er sah so alt aus, schon längst erwachsen, dabei war er doch noch nicht einmal ein halbes Jahr alt. Und dieses Wachstum! Als sie ihn aus dem Tierheim geholt hatte, hatte er gerade ein halbes Pfund gewogen und jetzt! Zwanzig Kilo sagte ihre Waage.
"Bist du fertig mit der Musterung?", erklang wieder dieses entsetzliche Stimme in ihrem Kopf. "Du wirst mich nicht weggeben, Süße! Mir gefällt es bei dir. Ich muss dir nur noch ein wenig Manieren beibringen."
"Geht es Ihnen nicht gut, Miss Julia?" Ihr Chef, Mr. Crowley stand vor ihr und sah sie besorgt an. "Sie sind so blass. Wollen Sie ein paar Tage frei haben?"
"Nein, nein", wehrte sie ab. "Es geht schon."
"Kommen Sie in mein Büro", bat er.
Julia nickte und breitete Gipsys Decke unter ihrem Schreibtisch aus. Der Hund legte sich darauf und schlief gleich ein.
Crowley besprach einige geschäftliche Dinge mit ihr. Dann fragte er: "Was ist los mit Ihnen? Ich bemerke schon seit einiger Zeit, dass Sie nicht ganz bei der Sache sind. Es bedrückt Sie doch etwas."
Zuerst starrte Julia ihren Chef nur an. Dann berichtete sie stockend von ihren Problemen mit Gipsy. Nur, dass er mit ihr sprach, verschwieg sie.
"Diesen Eindruck habe ich auch. Sie müssen wissen, ich habe einen Dobermann als Wachhund. Ihr Hundetrainer hat absolut recht. Gehorsam ist sehr wichtig, besonders bei so großen Hunden." Damit griff er in eine Lade seines Schreibtisches und holte ein Hundehalsband heraus. "Damit verschaffen Sie sich Respekt." Es war ein Würgehalsband.
"Aber, Gipsy ist doch noch ein Welpe ...", wandte sie zögernd ein.
"Wenn er es jetzt nicht lernt, müssen Sie ihn eines Tages erschießen, sofern er ihnen nicht schon vorher die Gurgel durchgebissen hat."
"Das würde Gipsy nie tun!", behauptete sie fest und schob das Halsband von sich.
"Er benimmt sich schon jetzt sehr respektlos. Warum erlauben Sie, dass er vor ihnen durch jede Tür geht? Manchmal legt er sich mitten ins Zimmer und Sie müssen ihm ausweichen. Ja, Miss Julia, streiten Sie es nicht ab, ich habe es gesehen. Das ist ein schwerwiegendes Autoritäts-problem."
Wo er recht hatte, hatte er recht, musste sich Julia eingestehen. Also nahm sie das Teil und ging wieder an ihren Platz.
"Was hast du da?", fragte Gipsy schläfrig.
"Ein neues Halsband für dich", flüsterte sie. "Mr. Crowley hat es mit gegeben. Es wird dir gut stehen."
"Leg es mir um", befahl er.
"Später, ich muss jetzt arbeiten." Ihre Augen hefteten sich auf den Bildschirm, da durchfuhr sie ein reißender Schmerz. Gipsy hatte sie ins Bein gebissen.
Keuchend, mit Tränen in den Augen, zog sie das Hosenbein hoch. Nein, zum Glück floss kein Blut, aber Gipsys Zähne hatten deutliche Spuren hinterlassen. "Noch mehr blaue Flecken", dachte sie.
"Anders lernst du es ja nicht", knurrte es in ihrem Kopf. "Jetzt mach schon."
Schnell gehorchte sie. Den Rest des Tages hatte sie von ihm Ruhe.
Auf dem Nachhauseweg beschloss sie, das Halsband auszuprobieren. Als sie ihre Wohnung betreten wollte, sagte sie ruhig: "Heute gehe ich mal zuerst."
Leise knurrend trat ihr Gipsy auf den Fuß und rammte ihr gleichzeitig die Schulter gegen das Bein. Julia riss an der Leine. Es brach ihr fast das Herz als der Hund jaulend nach Luft schnappte. Trotzdem, ein Teil von ihr fühlte Triumph als sie vor ihm die Wohnung betrat. Dann lockerte sie den Zug.
"Komm schon, Gipsy!", rief sie freundlich.
Und Gipsy kam. Mit einem riesigen Sprung hechtete er auf sie zu. Mit einem Schrei wich sie zurück. Doch der Hund folgte ihr. Der eckige Kopf mit den grausamen Zähnen pendelte vor ihrer Brust hin und her. Die Leine war schon lange ihren klammen Händen entfallen.
"Jetzt bist du dran, Süße!", knurrte Gipsy. "Mach das Fenster auf."
Zitternd gehorchte sie. Dann stießen die groben Pfoten gegen ihren Rücken.
Niemand konnte sich erklären, warum Julia Selbstmord begangen hatte. In ihrer Wohnung fand man nur einen kaum katzengroßen Welpen auf einem viel zu großen Hundebett.


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