STORIES


DIE PRINZESSIN MIT DEM WEINENDEN AUGE

von Fred H. Schütz



"An meine Zeit als Afrit erinnere ich mich kaum noch," sagte Lili leise. "Und das ist gut so. Alle Dschinni sind böse, aber die übelsten von allen sind die Afriti, denn sie tragen die Saat von asch-Schaìtan in sich."
Wie hast du des Satans Saat verloren, Lili? Denn du bist nicht mehr was du warst. Schon lange nicht mehr.
Lili starrte blicklos vor sich hin. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen einen Meter über dem Fußboden und hatte die Hände lose in den Schoß gelegt. Sie trug wieder das Haremskostüm und das ließ mich sehen wie sie ein Schauer überlief. "Dschinni entstehen aus Feuer und Rauch. Ich entstand aus dem Lagerfeuer einer Karawane. Es war Nacht. Die Männer, vom langen Tagesmarsch erschöpft, saßen um das Feuer gruppiert, tranken Tschai und erzählten sich Geschichten -
Geschichten die du aus Alif laila wa laila kennst ..."
Geschichten aus Tausend und einer Nacht, ja Lili. Tschai ist Tee, der im vorderen Orient so stark gezuckert getrunken wird, daß unsereinem übel davon werden könnte. Aber warum erzählst du mir das?
"Die Nacht war kalt," fuhr Lili fort, "ein übler Wind raunte und machte die Kamele unruhig. Vielleicht deshalb erzählten die Männer einander Geschichten von Hexerei, bösen Zauberern und schwarzer Magie. Das Lagerfeuer, wie üblich mit Kameldung gespeist, flackerte und rauchte und wollte nicht richtig brennen. Und aus dieser Kombination entstand ich. Ich fuhr ins Feuer, daß es aufloderte und die Männer brannte, schleuderte Brände auf die Tiere sodaß diese aufsprangen und in wilder Panik in die Nacht hinausrannten, die Männer fluchend und schimpfend hinterdrein."
Lili hob eine Hand und ließ sie sinken, die Brauen gefurcht. "Ich habe sie niemals wiedergesehen, denn auch ich machte mich davon."
Lili erschauerte noch mehr als vorher. "Ich war ein schrecklicher Geist. Mein Kopf starrte vor Hörnern die sich wie Schlangen wandten und aus meinem Mund schossen Zähne wie Dolche -" Sie hob ihre Hände, weiß wie frisch gefallener Schnee - "meine Finger waren Krallen, lang wie deine Arme! Und meine Farbe war schwarz - schwarz wie der Rauch aus dem ich entstand ..."
Lili, laß es sein! Ich sehe wie es dich quält! Denke an etwas anderes, denke an ...!
"Aber ich muß es erzählen!" schrie sie auf. Ihre Augen, schreckensgeweitet, blickten mich an, Tränen schossen daraus hervor. "Vielleicht, wenn ich darüber spreche, kann ich mich von meiner Sünde reinigen ..."
Sie blickte wieder vor sich nieder, die Hände im Schoß. Ihre Stimme klang dumpf. "Ich habe gebüßt, oh, wie ich büßte! Er, der deinen Namen trug - sie vermeidet es seinen Namen auszusprechen, schloß ich goldrichtig - er bannte mich in diese Lampe (sie deutete zu ihrer Lampe hinüber die auf dem Kaminsims steht) Dreitausend Jahre lang - dreitausend finstere, einsame, zermürbende, grausame, furchtbare Jahre - bis du mich daraus befreitest und mir diese Gestalt gabst ..."
Sie schaute zu mir auf und ein schüchternes Lächeln verschönte ihr Gesicht. Eine letzte Träne zitterte an ihrer Wimper und fiel als sie sprach. "Dafür werde ich dir ewig dankbar sein!"
"Nur," sie betrachtete ihre Hände, zierliche feingliedrige Hände mit schlanken Fingern und rosig polierten Nägeln. "Nur eine Sünde bleibt ungesühnt ..."
Welche Sünde ist das, Lili?
Ihre Brauen verdüsterten sich. "Schin-Li, goldene Morgenröte. Sie war Tochter des Kaisers -"
Welchen Kaisers, Lili?
"Tang-Tsi. Er war der erste Kaiser von China. Schin-Li war seine Tochter. Eine von vielen, aber sie war die allerschönste. Ihr Name war ihr zu Recht gegeben. Sie verstand sich auf viele Künste. Ihr Zitherspiel ließ selbst die Grillen im Palast verstummen und alles lauschte verzückt. Sie webte die schönsten Kleider. Weil ihre Kalligraphie so schön war, ließ man sie gewähren obwohl das Schreiben und Lesen Frauen verboten war - und sie verfaßte die erhabensten Verse, die sie zum Lautenspiel vortrug. Das Portrait ihres Vaters, das sie gemalt hatte, gefiel dem Kaiser so sehr, daß er es hinter seinem Thron aufhängen ließ, sodaß ein jeder, der sich vor ihm verneigen durfte, sowohl das Bild als den Kaiser sah und einsehen mußte, daß beide identisch waren ..."
Über die Identität dieses Kaisers hatte ich meine Zweifel. Aber man weiß ja nie - so vieles aus grauer Vorzeit ist heute nicht mehr bekannt ... Was hast du getan, Lili?
"Ich blies ihr ins Auge. In das linke weil links die weibliche Seite ist. Das brachte ihr Auge zum Weinen. Tränen quollen daraus hervor und wollten nicht aufhören zu fließen. Davon schwoll ihr Auge und rötete sich, und alle, die sie vorher mit Wohlgefallen angesehen hatten, wandten sich ab."
Sie hob die Hände und ließ sie sinken, die Augen dunkel. "Herr, sie war Wang-schen-hen versprochen, einem Prinzen des Hauses Wang, das sich mit dem Kaiser verbündet hatte. Als der junge Mann vernahm, daß sie nicht mehr schön war, zog er seine Zusage zurück und das Bündnis zerfiel."
Lilis Gestalt überlief ein Zittern. "Tang-Tsi empfand dies als die schlimmste Beleidigung. Er entsandte Truppen gegen das Haus Wang und ließ es dem Erdboden gleichmachen. Die ganze Familie wurde getötet. Wang-shen-hen aber wurde zur Hauptstadt gebracht, wo man ihn auf dem großen Platz vor dem Herrschertempel qualvoll hinrichtete."
Lili zitterte noch stärker während sie sprach. "Der Kaiser ließ das Portrait aus dem Thronsaal entfernen damit es ihn nicht mehr an seine einst so wunderschöne Tochter erinnerte. Und er verbannte das Kind, das Schande über ihn gebracht hatte. Die Unglückliche wurde sieben Tagereisen weit ins Schangebirge gebracht, wo sie für den Rest ihres armseligen Daseins in einer schäbigen Höhle hausen mußte. Nur ihre getreue Dienerin Hüè durfte bei ihr bleiben."
Den Kopf gesenkt murmelte Lili mit dumpfer Stimme. "Nach einigen Jahren starb Hüè denn sie war schon alt. Schin-Li blieb allein in ihrer Höhle. Viele lange Jahre lebte sie einsam und vergessen, und als sie einhundertacht Jahre alt war starb auch sie. Sie weinte noch in ihrer letzten Stunde."
Lili barg ihr Gesicht in den Händen, ihr Körper vom Schluchzen geschüttelt. "Das war mein Werk, Herr. Meine Sünde ..."
Kleine Ursache, große Wirkung. Bereust du deine Tat, Lili?
Sie hob den Kopf und was sie sagte klang wie ein Schrei: "Oh ja, Herr! Aus tiefstem Herzen bereue ich, und wenn ich meine Tat ungeschehen machen könnte ..."
Jeder katholische Priester würde dir augenblicklich Absolution erteilen, Lili. Aber da du keine Christin bist ...
Sie starrte mich verständnislos an. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet - wie das linke Auge der Prinzessin Schin-Li - ihre Wangen noch von den Tränen feucht. "Was ist Abos - Abs ..., Herr?" Sie hat Schwierigkeiten mit dem ihr fremden Wort. Kein Wunder, wurde sie doch in die Lampe gebannt lange bevor es Christen gab ...
Statt ihr zu antworten stelle ich die Frage, "Wie weit kannst du in der Zeit zurückreisen, Lili?"
"Bis zum Moment meines Entstehens, nicht weiter, Herr." Sie hat es nicht begriffen.
"Und wie weit in der Welt?" Es hat keinen Sinn sie zu fragen wie lang die Strecke ist die sie zurücklegen kann.
"Wohin du mich schickst, Herr. Herr?" Ihre Augen sind groß und blicken verängstigt. "Schickst du mich fort, Herr?"
"Aber nein!" Ich lächle damit sie sieht wie ernst ich es meine. "Wir gehen zu Schin-Li. Kleide dich entsprechend!"
Lili springt von ihrem luftigen Sitz und als ihre Füße den Boden berühren ist sie angetan mit einem Gewand aus fließender rosa Seide, ihr Haar ist zu einem Schopf gebunden und von dem Schopf rieselt eine Rispe goldener Blüten. Die Augen hält sie gesenkt. "Ich fürchte mich Schin-Li unter die Augen zu treten, Herr."
"Fürchte dich nicht, Lili. Schin-Li wird nicht dich ansehen sondern mich!"
Sie blickt mich furchtsam an. "Was willst du tun, Herr?"
"Ich werde deine Sünde ungeschehen machen!" Wenn ich kann, setze ich im Stillen hinzu. Ich fühle mich lange nicht so sicher wie ich vorgebe. Aber das muß ich Lili nicht wissen lassen.
Augenblicklich wandelt sich ihr Ausdruck und ihre Augen strahlen mich an. Sie vertraut mir. Hoffentlich erweise ich mich deines Vertrauens würdig, Lili, denke ich.
Sie tritt hinter mich, faßt die Holme meines Rollstuhls. "Schließe die Augen, Herr!"
Ich weiß was sie meint. Führe ich offenen Auges durch die Nebelwand, die Dimensionen trennt, würde ich es bitter bereuen. Gehorsam schließe ich die Augen - und fühle wie sich mein Rollstuhl bewegt.
Als er am Ende eines ewig scheinenden Augenblicks anhält, sagt mir der merkwürdig würzige Geruch, daß wir an einem fremden Ort sind. Ich öffne die Augen.
Der Geruch entströmt zwei hoch flackernden Feuern in Steinschalen beiderseits eines großen quadratisch geformten Stuhls mit Rückenlehne. Der Stuhl schimmert golden, aber es ist wohl nur Goldlack auf Holz. Er steht auf einem breiten Podest am hinteren Ende eines langen, langen, langen Saals der nur soweit erhellt ist, wie der Schein der Feuer reicht.
Das macht, wie mir scheint, den Stuhl zum Thron. Er kann nicht sehr bequem sein, denn der Mann der darauf sitzt, macht ein mürrisches Gesicht.
Das erkenne ich trotz des Vorhangs aus goldenen Perlschnüren, der vom Schirm seiner goldfarbenen Mütze herunterhängt. Solcher Art Vorhänge habe ich in spanischen Ladentüren gesehen, wo sie Kunden ungehindert passieren lassen, Fliegen aber den Eintritt verwehren. Dieser Mann trägt den Vorhang damit die Blicke seiner Untergebenen sein Gesicht nicht beleidigen.
Er ist der Kaiser. Er hat seinen linken Ellbogen auf die Armlehne seines Throns gestützt und sein mit einem falschen Bart "verziertes" Kinn in der offenen Handfläche vergraben. Er starrt blicklos vor sich hin und der goldfarbene Fächer in seiner rechten Hand zuckt: viertel auf, wieder zu, viertel auf, wieder zu ...
Junge, ist der Mann nervös!
Als er mich endlich bemerkt fährt er auf. "Wer bist du? Wie kommst du hier herein? Wache!" das letzte Wort ruft er mit erhobener Stimme.
"Du kannst," sage ich gewichtig, "die Wachen hereinrufen und dich lächerlich machen - wörtlich sage ich dein Gesicht verlieren - oder du kannst mit mir sprechen und dich vor großem Schaden bewahren."
Zu Lili gewandt raune ich, "Mach uns unsichtbar!" Augenblicklich breitet sich ein durchsichtiger Schleier über mich und ich sehe wie der Kaiser entsetzt zurückfährt. Er sieht mich nicht mehr.
"Oh Geist, verschone mich!" schreit er.
Das ist die richtige Einstellung, so will ich ihn haben. "Schick die Wachen fort!" sage ich in scharfem Ton, denn ich höre bereits das Getrappel vieler Füße.
Der Kaiser sendet ängstliche Blicke hierhin und dorthin weil er nicht erkennen kann, wo die Geiststimme erklingt, und im selben Moment stürzen die Wachen herein.
Etwa ein Dutzend gleichgekleidete mit Lanzen bewaffnete Männer werfen sich vor ihm nieder und senken ihre Blicke zu Boden, denn dem Kaiser blickt man nicht ins Angesicht. Auf ihre Rücken sind quadratische Schilde gestickt und auf denen steht Wächter des goldenen Drachen. Ob das der Name des Palastes oder ein Ehrentitel des Kaisers ist kann ich nicht sagen.
Wannimmer Lili bei mir ist wirkt sie wie ein Katalysator und ich verstehe Sprachen, von denen ich nicht einmal den Namen weiß. Jetzt habe ich den Beweis, daß ich sogar chinesisch lesen kann, wenn sie sich in meiner Nähe befindet.
"Erhabener, Ihr habt uns gerufen," murmelt einer der wohl ihr Anführer ist. "Sagt was Ihr wünscht und wir werden augenblicklich -"
Tang-Tsi läßt ihn nicht ausreden. Sicher kennt er die hochtrabenden Sprüche die in unhaltbaren Versprechen gipfeln. "Ich habe Stimmen gehört. Jemand ist in den Palast eingedrungen. Sucht ihn!"
"Hören ist gehorchen!" ruft der Offizier und der Trupp verschwindet so laut wie er gekommen ist. Wer weiß, vielleicht nimmt der Eindringling vor dem weithin schallenden Getrappel Reißaus!
Garnicht dumm, dieser Kaiser! Er schickt die Wache vor den Geist aufzuhalten, und wenn der sie tötet weiß der Monarch, wie gefährlich er ist. Und es gibt ihm Zeit sich in Sicherheit zu bringen.
Inzwischen lasse ich mich von Lili ein paar Meter zur Seite schieben und wie das Getrappel verklingt bin ich wieder sichtbar. Wie erwartet prallt der Kaiser erschrocken zurück als er mich an einer anderen Stelle gewahrt.
"Wohin wolltest du denn fliehen?" frage ich, bemüht meiner Stimme einen süffisanten Klang zu geben. "Wisse, du Herr aller - Fleischgeborenen (das letzte Wort spreche ich aus als bekäme ich davon einen schlechten Geschmack im Mund), daß du dich nie und nirgendwo vor mir verbergen kannst! Wisse auch - " setze ich hinzu, weil ich sehe, wie er seinen Fächer hebt (in der Hand eines Chinesen sind Fächer von jeher gefährliche Waffen gewesen) "- daß mir keine menschliche Waffe etwas anhaben kann!"
Lili die unsichtbar geblieben ist weil ich will, daß sich seine Aufmerksamkeit voll auf mich richtet, ist im nu an seiner Seite, entreißt ihm den Fächer und bringt ihn mir. Da sie sich lautlos bewegt (niemand kann das so gut wie Lili) glaubt der Kaiser das Ding flöge durch die Luft.
Ich hebe den Fächer und lasse ihn einmal auf- und wieder zuschnappen. "Siehst du wie leicht es für mich ist dich zu entwaffnen!"
Auf einen Test mit der Unverwundbarkeit - zum Beispiel durch ein geworfenes Messer - will ich mich erst garnicht einlassen. So etwas erforderte eine Geschicklichkeit von mir, die ich nunmal nicht vorweisen kann.
Aber der Kaiser denkt nicht daran mich anzugreifen, so beeindruckt ist er. Ich sehe es an seinem Gesicht, wie er sich innerlich windet. Seine Blicke fahren hierhin und dorthin und suchen nach einem Ausweg, aber weil er nicht an meinen Worten zweifelt, findet er keinen.
Das kann ich nicht lange anstehen lassen sonst gibt es am Ende noch ein Unglück - schließlich habe ich auch nicht vor ihm Übles anzutun. Daher sage ich rasch: "Führe mich zu deiner Tochter!"
Später werde ich Lili fragen warum sie mich nicht direkt zu Schin-Li gebracht hat und sie wird mir erklären sie brauchte einen Anhaltspunkt um hierher zu finden; da war der Kaiser der stärkste Magnet. Das leuchtet mir ein, zumal der kleine Umweg niemandem zu Schaden gereicht.
Bisher hat er es vermieden mich direkt anzusehen, aber jetzt ist er überrascht und schaut hoch. "Zu welcher Tochter?"
Ach ja, ich vergaß: der Kaiser ist Vater von vielen Töchtern! "Schin-Li, die mit dem weinenden Auge!"
Augenblicklich reißt er die Hände hoch, streckt sie mir flehend entgegen: "Oh, Geist, tu ihr kein Leid an!"
Also, das überrascht mich! Der Kaiser, der kaltblütig wegen einer eingebildeten Schmach die Todesfolter anordnet, der Vater, der aus dem nämlichen Grund sein Kind in die Verbannung schickt, der sorgt sich um seine Tochter? Um eine von vielen - und ist es nicht so, daß in dieser Gesellschaft Frauen so gut wie keinen Wert haben? Was für ein Mensch ist das?
Indes, bemüht der Überraschung Herr zu werden, öffne ich meine Lider weit und mein Blick bohrt sich in seine Augen (als Brillenträger kann ich das gut: ich starre und obwohl ich doch garnichts sehe, läßt dieser Blick dafür empfänglichen Personen das Blut in den Adern gefrieren.) "Oh Mensch! Weißt du nicht wozu ich dich aufsuche?"
Er hat völlig vergessen, daß der Perlschnurvorhang seine Augen vor fremden Blicken verbirgt und das Schnarren meiner Stimme tut ein übriges. Er zittert förmlich und seine Stimme bebt. "Nein! Oh Geist, verschone mich und meine Familie!"
"Gut," sage ich, "ich werde dich verschonen - unter der Bedingung, daß du mich zu Schin-Li führst!"
Er wagt nicht zu fragen was ich von dem Mädchen will. Rasch hebt er die Hände, bereit zu klatschen. "Ich werde einen Die -"
"Nein!" Der Ton meiner Stimme schneidet in seine Seele wie ein heißes Messer durch Butter fährt. "Kein Diener ist meiner würdig! Du selbst wirst mich führen!"
Das sage ich aber nur, damit er hinter meinem Rücken nichts gegen mich anzetteln kann.
Das Gesicht des Kaisers legt sich in müde Falten; er weiß nicht was er dem Geist entgegensetzen kann. Ergeben neigt er das Haupt und erhebt sich zu seiner imposanten Größe von einhundertsiebenundfünfzig Zentimetern. "Folge mir." Sein Ton ist müde und schlürfenden Schritts strebt er dem Ausgang zu.
Ich folge. Das heißt, Lili macht was sie schon getan hatte als wir Rakus befreiten und so segelt mein Rollstuhl in Kopfhöhe hinter dem Kaiser drein. Gut, daß er sich nicht umschaut sonst trifft ihn der Schlag.
So schlurft er durch den nächsten Raum und durch noch eine Tür und dann einen langen Gang entlang. Überall begegnen wir Leuten und wie die uns erblicken schmeißen sie sich hin und knallen mit den Stirnen auf den Boden - nur nicht den Geist ansehen wie er ihren Kaiser jagt!
Der wahre Geist - nämlich Lili - ist für jeden außer mir unsichtbar.
Schließlich öffnet sich von dienstbaren Boten bewegt eine letzte Tür und der Kaiser tritt hinaus in einen Garten so herrlich wie ihn nur ein chinesisches Genie entwerfen konnte. Ich muß unwillkürlich an die englischen Gärten der Neuzeit denken, so schön erscheint er mir - überall üppig wuchernde Gewächse ...
Aber zum Verweilen ist keine Zeit. Der Kaiser hat seine Schritte beschleunigt und eilt nunmehr der Gartenmitte zu, wo die Wässer eines nicht sehr ausgedehnten Teichs Kühlung versprechen. Unter einer Trauerweide, deren gerade herabrieselnden Zweige sie wie ein Vorhang abschirmen, sitzt eine reichgekleidete junge Frau am Ufer. Ihre Hand rührt langsame Kreise im Wasser, so als wollte sie es daran hindern ihre Tränen zu spiegeln.
Lili hat nicht übertrieben. Das Mädchen ist selbst für westliche Begriffe eine Schönheit und es gibt mir einen Stich im Herzen sie weinen zu sehen.
Der Kaiser bleibt stehen und teilt mit der Hand die Zweige. "Tochter," sagt er streng und als die in ihren Kummer Versunkene nicht reagiert, lauter: "Tochter!"
Die Angesprochene erschrickt, sieht wen sie vor sich hat und springt auf. Sie verneigt sich tief. "Mein Herr Vater ..."
Ganz die wohlerzogene chinesische Prinzessin. Von ihrem linken Auge rinnen unaufhörlich Tränen.
"Hier ist einer der dich sehen will," sagt mein Herr Vater kurz und deutet auf mich. Lili läßt mich mit meinem Rollstuhl sorgsam zu Boden sinken und gleich darauf sitze ich sozusagen auf der Wiese. Wasser und die umgebende Vegetation riechen einladend.
Das Mädchen sieht mich und schreckt zurück. "Ein Geist!" Sie wendet ihr Gesicht und hebt die Hände zur Abwehr.
"Fürchte dich nicht!" sage ich rasch, "ich bin gekommen ..."
Bisher habe ich nicht gewusst, was ich zu tun gedenke und schon garnicht wie, und just in diesem Moment trifft mich die Erleuchtung.
Sympathiemagie ist angesagt. "Schau her!"
Ich zücke meinen Notizblock und während sie ängstlich hersieht habe ich mit ein paar Strichen ein Gesicht gezeichnet. Die Träne unter dem linken Auge zeichne ich mit leichtem Strich. Mit gutem Grund. "Wer ist das?"
Die Frage etabliert ihre Identität.
"Nein!" Sie schluchzt und wendet ihr Gesicht. "Nein ..."
"Doch! Du mußt hersehen! Schau!" Die Geheimwaffe ist bereits in meiner Hand. Warhols Radiergummi entfernt die Träne mit einem Wisch. Noch ein paar leichte Striche mit dem Stift und die Augen strahlen.
"Sieh her, du bist geheilt!" Im gleichen Ton könnte einer sagen, "Das Wetter ist schön."
Das Mädchen runzelt die Stirn, sieht mich zweifelnd an und dann die Zeichnung. Sie wendet sich und schaut ins Wasser. Das Wasser - wie könnte es anders - spiegelt ein reines Gesicht mit klaren Augen.
Mit einem Aufschrei bricht sie zusammen, birgt ihr Gesicht in den Händen und beginnt laut zu weinen.
Der Kaiser, bisher hat er daneben gestanden während sämtliche Emotionen, von Kummer, Furcht und schließlich Zorn sich in seinen Zügen spiegeln. Jetzt fährt er auf, "Oh Geist, was hast du meinem Kind angetan! Ich werde dich -"
"Lieben," sage ich schlicht. "Sie hin, sie ist geheilt."
Tang-Tsi sieht mich zweifelnd an während auf seinem Gesicht Hoffnung und Angst um Vorherrschaft ringen. Dann kniet der Mann vor dem sich ein jeder zu Boden werfen muß, um nicht über ihm zu stehen, er kniet sich vor seine Tochter und faßt ihre Schultern. "Meine Tochter, sagt er die Wahrheit? Bist du geheilt?"
Darauf sieht sie hoch und ich habe niemals vorher und später nie wieder solches Glück aus dem Gesicht eines Menschen strahlen gesehen. Sie spricht und ihre Stimme zittert, "Ja, mein Herr Vater, es ist wahr! Ich kann es nicht fassen aber Eure unwürdige Tochter ist geheilt!"
Da springt er auf die Füße und jubelt, "Oh ehrwürdiger Geist, Ihr habt mich vor unendlicher Schmach bewahrt! Habt tausendmal tausend Dank!"
Die Stirn von dem Kerl! Denkt er denn nur an sich? Hat seine Tochter nicht Anspruch auf wenigstens ein bißchen Glück?
"Sei ein guter Kaiser," murmele ich und gebe Lili ein Zeichen mich fortzubringen. Den Fächer des Kaisers lasse ich auf der Wiese liegen. Er wäre ein schmähliches Andenken.
Einen Augenblick später habe ich eine Eingebung. "Möchtest du sehen wie die Geschichte ausgeht, Lili?"
"Ist sie denn nicht zu Ende, Herr?" Erstaunen klingt aus ihrer Stimme.
"Nein, Lili. Kannst du mich zu Schin-Lis Lebensende bringen?"
"Ich will es versuchen, Herr."
Einen Augenblick danach sehe ich aus der Höhe auf ein ärmliches Gemach in einer winzigen Hütte herab. Die Hütte steht halb im Gebüsch verborgen in der Nähe eines glucksenden Baches. Auf einem aus Lumpen zusammengeschusterten Lager windet sich die Gestalt einer Frau. Es ist unverkennbar die Prinzessin, um Jahre gealtert.
"Wann und wo sind wir, Lili?" Der Anblick tut in der Seele weh.
Lilis Stimme verrät ihren Gemütszustand. "Es ist acht Jahre später, Herr. Schin-Li hat Wang-shen-hen vier Kinder geboren, aber die Rebellen haben ihn und die Kleinen ermordet als sie ihr Haus überfielen. Sie haben Schin-Li als Geisel genommen und verlangen vom Kaiser ihre Auslösung. Sie nahm Gift um ihrem Vater die Schmach zu ersparen, und wird den Abend nicht mehr erleben."
Klar: sie hat Gift genommen weil es in diesem Leben nichts mehr gibt was des Lebens wert ist, aber im Jenseits warten die, die sie liebt auf sie. Und der Kaiser, würde er sich dazu herablassen mit Rebellen einer Tochter wegen - einer wertlosen Witwe! - zu verhandeln? Ich glaube, nein!
Lili kämpft sichtlich mit ihrer Bewegung. Sie würgt die Frage hervor. "Ist dies das Ende, Herr?"
"Ja," entgegne ich und kann mich des Mitleids - mit der Prinzessin, mit Lili - nicht erwehren. "Ja, Lili, das ist das Ende."


zurück