STORIES


ST. MARTIN DU BOIS

Folge 2

von Fred H. Schütz



nach einer Idee von
Marion Stamatu-Wilting


Vor der Tür trafen sie auf einen älteren rundlichen Mann im weißen Kittel der heraneilte und schon von weitem rief, "Dr. Fraiser, wo bleiben Sie denn? Es ist schon spät!"
"Das ist Dr. Beaumont," sagte Dr. Fraiser und blieb stehen. "Dr. Beaumont und ich leiten diese Einrichtung. Wir haben noch einen dritten Arzt, Dr. Severance, aber der hat heute frei."
Als der Mann sie erreichte und tief atmend stehenblieb sagte sie, "Dr. Beaumont, dies ist Mr. Conreid, der Reporter von der Times!"
"Ah, ja," sagte der Angesprochene und streckte die Hand aus. "Wir haben schon von Ihnen gehört!"
"Hoffentlich nur Gutes!" Sein Händedruck war fest aber die Hand war feucht. Hoher Blutdruck bei einem Arzt? dachte Rupert angewidert und rieb heimlich die Hand über Hose mit dem Gefühl Dreck abzuwischen.
Auch das feiste Gesicht des Mannes war schweißnass. Das Menjoubärtchen auf seiner Oberlippe wirkte komisch. "Haha," sagte er, "guter Witz! Ich meinte natürlich, daß man uns geschrieben hat Sie würden kommen!"
"Kommen Sie!" rief Dr. Fraiser ungeduldig. Sie war schon einige Schritte voraus und ging nun vor ihnen her. Der Arzt und Rupert folgten. Rupert fand, daß er seine Schritte kurz halten mußte, um sie den Trippelschrittchen des Dicken anzupassen.
Von hinten sah Dr. Fraiser keineswegs so klein aus wie er zuerst gedacht hatte. Das kommt, weil jeder dem ich begegne soviel kleiner ist als ich, dachte er. Das kurzgeschnittene dunkle Haar ließ sie irgendwie männlich erscheinen.
Mona ist blond, dachte er, schön! Es kam ihm nicht in den Sinn, daß ihm bisher völlig egal gewesen war ob eine Frau blond oder brünett war.
Sie bogen in den Gang ein den Rupert bei seiner Ankunft wahrgenommen hatte. Es war ein langer Gang, der sich augenscheinlich quer durch das ganze Gebäude erstreckte. Ganz am Ende gewahrte Rupert eine Fenstertür die halb offen stand. Sie war durch ein schweres Eisengitter gesichert.
Auf der linken Seite sah Rupert Türen in regelmäßigen Abständen, die wohl nur deshalb nicht riesig wirkten, weil hier alles riesig war. Sie bestanden aus dunkel poliertem Holz dessen Ornamente einen Stil auswiesen den Rupert nicht einordnen konnte. Keinesfalls Gothik und schon garnicht Romanik, also was?
Seine Überlegungen wurden jäh unterbrochen als Dr. Beaumont die erste Tür auf der rechten Seite öffnete. Auf dieser Seite gab es nur wenige Türen. An der offenen Tür erkannte Rupert die Stärke des Materials und gab einen leisen Pfiff von sich. Diese Türen würden sogar Kanonenkugeln standhalten!
"Dies ist unser Behandlungsraum," sagte Dr. Beaumont. Die Mitte des Gelasses wurde von einer gepolsterten Liege beherrscht deren Maße Rupert in Schrecken versetzte. Die ist doch mindestens sechs oder sieben Meter lang, dachte er.
Neben der Pritsche standen im Verhältnis zwergenhaft wirkende Behandlungsstühle auf Rollfüßen wie man sie in modernen Arztpraxen findet. Rupert war beeindruckt.
"Kommen Sie schon, meine Herren!" rief Dr. Fraiser ungeduldig. Sie war bereits einige Meter voraus und die beiden Männer folgten ihr eilends.
Die nächste Tür auf der linken Seite stand offen und Rupert sah seinen ersten Drachen. Ohne zu merken, daß er den Schritt verhielt, blieb er offenen Mundes stehen.
Der Drache hatte sich mehrere Kissen in den Rücken gestopft und saß gemütlich zurückgelehnt auf seiner Liege. Auf seinem Schoß lag einer jener riesigen Folianten die Rupert in Dr. Fraisers Büro gesehen hatte und er schien darin zu blättern. Er betrachtet wohl die Bilder, dachte Rupert leicht amüsiert. Drachen können doch nicht lesen, oder?
Wenn Rupert einen Schädel wie den eines Krokodils erwartet hatte sah er sich getäuscht. Das Antlitz des Drachen glich dem eines Menschen! Lediglich die Ohren ragten spitzig über seinen Schädel und von seiner Nase sah Rupert nur zwei eng beieinander stehende Schlitze mit geblähten Nüstern.
Der Drache sah auf und seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. "Hallo," sagte er freundlich und hob eine Hand zum Gruß. Zwischen seinen Lippen zeigten sich zwei Reihen perlweiß blitzender Dolche.
"'Allo, Monsieur Fhafrid," rief Dr. Beaumont, "wir kommen gleich zu Ihnen!" Er ergriff Ruperts Arm. "Kommen Sie, Monsieur Conreid! Wir müssen uns sputen!"
Conreid ließ sich von dem Mann fortziehen. Sein Kopf schwirrte. War es wahr, daß der Drache einen grünen Hausmantel anhatte, der sich deutlich farbig von seinem Teint abhob? An der erhobenen Hand hatte Rupert Krallen gesehen, die die Finger des Drachen doppelt so lang scheinen ließen als sie sein sollten. Schwarze Krallen ...
Und zwischen den Krallen, die einem Menschen mit einem Schlag die Kehle aufreißen konnten, zerbrechlich wirkend, das Lorgnon! Lorgnons sind Brillen früherer Zeiten mit einem Stiel an der Seite, mit dessen Hilfe man sich die Linsen vor die Augen hielt. Klar doch, dachte Rupert, ein Brillengestell würde niemals auf ein Drachengesicht passen ...
Er faßte den Arm des Arztes und zwang ihn stehenzubleiben. "Sagen Sie mir, Doktor, können Drachen lesen?"
Der Mann starrte mit runden Augen zu ihm auf als ob er etwas Unerhörtes gesagt hätte; etwas vollkommen Absurdes wie, "Fräulein Ingelore trägt montags rosa Söckchen!" Dann sagte er, "Sie wissen es nicht, non?"
"Ich weiß was nicht?" Als der Doktor zögerte faßte er ihn am Arm und rief, "Kommen Sie schon, Mann, sagen Sie es mir!"
Er spürte ein fast unüberwindliches Bedürfnis ihn zu schütteln wie ein nasses Handtuch. Erst als der Arzt einen Schmerzenslaut von sich gab kam er zu Sinnen und ließ ihn frei. "Sagen Sie es mir! Bitte!"
"Es waren Drachen," dozierte Dr. Beaumont. Er sprach langsam und überdeutlich als wollte er einem Kind die Weltformel beibringen. "Drachen, die uns das Lesen und Schreiben lehrten! Sie haben die Schrift erfunden!"
Rupert stand wie vom Donner gerührt. "Die schwarze Kunst," sagte der Andere und Rupert hörte sein leises Kichern. Der Arzt hatte sich umgewandt und ging weiter. "Die Tinte, ursprünglich braun oder rot, ist im Laufe der Jahrhunderte nachgedunkelt ..."
Rupert hätte womöglich an der Stelle Wurzeln geschlagen aber die glockenhelle Sopranstimme neben ihm löste den Bann. "Halloo!" sagte die Stimme. Mit Betonung auf der zweiten Silbe ...
Er war neben einer weiteren offenen Tür stehen geblieben und der Drache im Zimmer, von seiner Beschäftigung abgelenkt, lächelte ihn an.
"Hallo," rief Rupert hastig und eilte Dr. Beaumont nach ...
Der Drache hatte einen silbergerahmten Spiegel in einer Hand gehalten und in der anderen einen Lippenstift mit dem er sich die Lippen nachzog. Sein Hauskleid wies vorne eine deutliche Wölbung auf und Rupert fühlte sich an das Interview mit den Tänzerinnen im Gloria Palace erinnert, das er nach der Show in ihrer Garderobe mit ihnen führte.
War das etwa eine Drachenfrau? Gab es denn sowas überhaupt? Rupert beschloß Dr. Beaumont zu befragen. Ein Gefühl sagte ihm, der Mann würde in dieser Frage entgegenkommender sein als Dr. Fraiser.
Er holte ihn ein, gerade als er die Ärztin erreichte. Die stand mit der Hand auf der Klinke und starrte ihnen ungeduldig entgegen. Der Ärger stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Fehlt nur, daß sie mit dem Fuß auftappt, dachte Rupert leicht amüsiert.
Sie riß wortlos die Tür auf noch ehe sie sie erreichten und betrat forschen Schritts das Krankenzimmer. So geht nur Krankenhauspersonal, dachte Rupert, die Ärzte forsch, die Schwestern eilends ...
Die beiden Männer folgten ihr, der Doktor so schnell ihn seine Beine trugen während Ruperts lange Beine mühelos Schritt hielten.
So riesig alle Dinge in diesem Haus auch waren, sie erschienen Rupert winzig im Vergleich zu den Dimensionen des Patienten in diesem Raum. Rupert verschlug es den Atem. Der Kranke lag ausgestreckt in dem Riesenbett von Mona sorgfältig zugedeckt.
Sie saß auf einem Hocker neben ihm und hielt seine Hand. Die ungeheuere Pranke lag schlaff und kraftlos in ihren zierlichen Händen. Als die Ärztin mit ihrer Begleitung eintrat sah sie auf. Ihr Züge waren von Sorge gezeichnet und Rupert, der nichts lieber getan hätte als sie in die Arme zu nehmen und ihr das Leid aus dem Gesicht zu küssen, fühlte seine Knie erzittern.
"Doktor, er hat Schmerzen!" sagte sie und ihre Stimme, sonst so rein, daß sie das viergestrichene C auf der Bühne hätte singen können, klang brüchig.
Ein Stich wie ein weißglühendes Eisen fuhr ihm durch die Brust. Mein Gott, dachte er und weil ihm nichts anderes einfiel seine Gefühle in Worte zu fassen dachte er nur, Oh, mein Gott ...
Der längliche zwiegefurchte Grat auf ihrem Rücken, der eigentlich nicht auf einen Menschenrücken gehörte, vibrierte leicht.
Die Ärztin nickte, ergriff das Krankenblatt - eine wie in Krankenhäusern die Rupert kannte übliche Aluminiumkladde - am Fußende des Bettes und schlug es auf. "Hm, kein Fieber," sagte sie und studierte weiter.
Die Vorhänge am Fenster waren zugezogen sodaß der Raum in einer Art Dämmerlicht lag. Der Kranke lag mit geschlossenen Augen und ächzte schwach. Seine Wangen waren eingesunken und fahl, die schuppige Haut seines Gesichts eher grau als grün. Sein Atem ging flach.
Dr. Fraiser zog die Bettdecke herunter und entblößte seinen Leib. Seine Haut, dunkel auf der Vorderseite und eher hell auf dem Rücken, spielte von graugrün zu einem farbigen braun - eher schon violett, dachte Rupert, aber das war sicher Einbildung weil der Raum abgedunkelt war. Die beiden anderen Drachen die er gesehen hatte hatten aber einen grünlichen Teint.
Unter dem Rücken des Patienten lugte ein Flügel hervor, nicht gefiedert wie bei einem Vogel sondern häutig wie - wie bei einen Flugsaurier, dachte Rupert. Klein und verschrumpelt, und wie es schien ganz ohne Knochengerüst, lag er schlaff auf dem Bett. Seine Farbe, dunkler als der Bauch des Patienten, war schwarz oder ins Schwarze spielend.
Damit kann er doch nie fliegen, dachte Rupert. Wozu hat er Flügel?
Die Ärztin betastete den Bauch des Patienten und der stöhnte laut auf. "Völlig aufgedunsen," sagte sie. "Die Blähung bewirkt wohl die Schmerzen. Und dann ..." Sie konsultierte das Krankenblatt, dann schaute sie auf und sah Mona streng an. "Kein Stuhl seit nahezu vierzehn Tagen! Wieso?"
"Er ißt kaum," sagte Mona schüchtern.
"Dennoch!" Dr. Fraiser schüttelte den Kopf. "Die Diät wirkt stuhlfördernd - trinkt er denn ausreichend?"
Mona hob die Schultern. "Ich weiß - ich glaube nicht."
"Dann braucht er Salzlösung! Zur Vorsorge - "Sie wandte sich an Dr. Beaumont, "bekommt er einen Einlauf! Haben Sie alles zur Hand?"
"Natriumbisulfat wie üblich?" Der Doktor nickte eifrig. "Ich glaube, Dr. Severance hat bereits alles zusammengestellt."
"Gut. Außerdem nehmen wir eine Blutprobe um Infektionen auszuschließen!"
Sie kritzelte etwas in das Krankenblatt und Rupert sah über ihre Schulter. "E SO2, 10%" las er; die Schrift war kaum leserlich.
Als er aufsah war sie schon auf dem Weg zur Tür. "Mona, kommen Sie?" warf sie über die Schulter zurück. "Wir brauchen Sie noch!"
Mona nickte und deckte den Drachen sorgsam zu. "Ich komme wieder sobald ich kann, Vater." Obwohl sie leise sprach hörte Rupert die Sorge in ihren Worten.
Sie eilte der Gruppe nach und Rupert spürte ein sonderbares Gefühl das ihn überschwemmte und innerlich zerreißen wollte als sie neben ihm ging. Wie gern ...
Er räusperte sich und als er sprach wollte ihm die Stimme nicht gehorchen. Wütend auf sich selbst begann er von neuem. "Sie - Sie lieben Ihren Vater, Mona?"
Die idiotischste aller Fragen! Natürlich liebte sie ihren Vater! Er hatte es doch gerade beobachtet! Obwohl ... Klotz, schalt er sich innerlich, Klotz, Klotz, Klotz!
Das Wort war aus dem Deutschen in die englische Sprache übergekommen und bezeichnete einen ungeschickten Tölpel.
Sie warf ihm einen sonderbaren Blick zu. Erst viel später würde ihm auffallen, daß ihre Pupillen nicht rund waren sondern querliegende Schlitze, und er würde sich fragen wie man mit solchen Augen sieht. Aber da würde sie ihre Sehkraft längst demonstriert haben. "Natürlich," erwiderte sie, "Sie lieben Ihren Vater doch auch, nichtwahr."
Für sie war das keine Frage.
Rupert zögerte. Liebe ich meinen Vater, dachte er und mußte sich insgeheim eingestehen, daß dies nicht der Fall war. Sein Vater war ein strenger wortkarger Mann gewesen dem das Wort Liebe nie über die Lippen kam. Selbst die Erinnerung an ihn weckte ein leises Gefühl der Furcht.
Was er nicht wußte war, daß sie begonnen hatte sich für ihn zu interessieren. Sie warf ihm einen heimlichen Blick zu als er, in schwermütiger Erinnerung gefangen, düster vor sich hin starrte. Was sie sah gefiel ihr.
Als erstes fiel ihr auf, daß er größer war als sie. Bisher war sie niemandem begegnet der auch nur annähernd so groß war wie sie - außer den Drachen natürlich. Drachen mußten im Umgang mit Menschen auf allen vieren gehen, weil es in deren Behausungen nicht einen einzigen Raum gab, in dem sie aufrecht stehen konnten. Wie oft hatte sie ihren Vater klagen hören, "Kind, die Menschen sind alle so klein! Niemals kann man mit ihnen auf gleicher Höhe umgehen."
Ob Menschen deshalb Drachen fürchteten? Wie konnten Drachen ihre Integrität beweisen wenn die Menschen sich stets abwandten?
Und nun ging an ihrer Seite einer der sogar noch ein Stückchen größer war als sie! Dazu sah er trotz seines glatten Rückens noch so teuflisch gut aus! Ob er ihre Flügel akzeptieren würde die jetzt, erschlafft und kleingefaltet, unter ihrem Kleid einen flachen Hügel auf ihrem Rücken bildeten? Vater hatte ihr einst gesagt die Menschen würden sie bemitleiden weil sie dachten sie hätte einen Buckel.
Was würden die gleichen Menschen sagen wenn sie den Druck in ihren Flügeln erhöhte sodaß sie sich entfalteten und sie hoch über ihren Köpfen flog? Was würde er sagen? Würde ihn der Gedanke anwidern, daß in ihren Adern Drachenblut floß?
Sie wagte noch einen raschen Blick und errötete als sie direkt in seine Augen sah.
Wie schön sie ist, dachte er, ich ...
Sie hatten das nächste Krankenzimmer erreicht und die Ärztin riß die Tür auf ohne anzuklopfen. Das tun Ärzte immer, dachte Rupert; er fühlte Betroffenheit. Die Ärztin trat ein und die anderen folgten ihr auf dem Fuß.
Der Patient in diesem Zimmer war mager, mit zerfurchten Gesichtszügen und schlohweißem Haar. Er lag sichtlich geschwächt auf seinem Bett und hatte die Decke über sich gezogen. Mona eilte sofort zu ihm, zupfte die Bettdecke zurecht und strich ihm das strähnige Haar aus der Stirn. Dabei flüsterte sie etwas das Rupert nicht verstand.
Sie liebt diesen Alten, dachte er, ebenso wie sie ihren Vater liebt. Wie kann ich da auf Zuneigung von ihr hoffen ... Ein Gefühl der Bitterkeit stieg in ihm hoch.
Der Kranke öffnete die Augen, sah Mona und ein freudiges Lächeln überzog seine verhärmten Züge. "Mona," flüsterte er.
"Ja, liebster Sleipnir," sagte sie, gerade laut genug, daß Rupert sie verstand. "Ich bin hier. Ich werde immer für Euch da sein ..."
Der Grat auf ihrem Rücken vibrierte, aber das nahm Rupert nicht wahr. Er war von rasender Eifersucht erfüllt.
"Hallo, Mr. Sleipnir," sagte Dr. Fraiser, forsch wie jeder Arzt. "Wie geht es uns heute?"
Sleipnir? Dachte Rupert, Wotans Reittier? Das wollen wir doch mal sehen! Er war froh, daß es etwas gab über das er seine brüllende Wut ausschütten konnte.
Der Kranke sah zu der Ärztin auf und aus seinem Lächeln wich die Zärtlichkeit. "Uns," sagte er und seine brüchige Sopranstimme betonte das Wort, "uns geht es wie es gehen mag. Aber ich werde keinen Tag jünger."
"Ja, daran kann ich auch nichts ändern," erwiderte die Ärztin unbeeindruckt. "Aber," sagte sie und ergriff das Krankenblatt das sie mit geübtem Blick überflog, "aber um Ihr Wohlbefinden kann und werde ich mich kümmern."
"Ach, gehen Sie zum Teufel!" knurrte der Alte und wandte seinen Blick Mona zu. Seine abgemagerte Pranke ergriff Monas Hand. "In deinen Armen möchte ich in die Ewigkeit fliegen!"
"Sleipnir!" rief Mona mit erstickter Stimme und die Ärztin warf die Kladde zurück. "Wie üblich, Mona!"
Dann wandte sie sich ihren Begleitern zu, "Kommen Sie, meine Herren!" Schon klickten ihre Absätze auf dem steinernen Fußboden als sie rasch der Tür zustrebte.
Rupert blickte zurück während er neben Dr. Beaumont der Ärztin folgte. Mona stand über den alten Drachen gebeugt und ihre Hand - Händchen, dachte Rupert oder hätte es gedacht wenn er eines vernünftigen Gedankens fähig gewesen wäre - verschwand geradezu in der kraftlosen Pranke des Riesenwesens. Sie lächelt so himmlisch, dachte Rupert verzweifelt, warum ...

*


Es dauerte drei Tage bis Rupert alle Insassen des Hauses - drei Ärzte, fünf Pfleger und vierzehn Patienten, die Köchin und Putzkräfte nicht mitgerechnet - kennengelernt hatte. Auch der Administrator, ein gewisser Monsieur Rimbaud, den eine heftige gegenseitige Abneigung mit Rupert verband, ließ sich einmal kurz blicken. Er wohnte in der Stadt und kam nur einmal im Monat um nach dem rechten zu sehen. Dieses "nach dem rechten sehen" beinhaltete jedesmal eine heftige Auseinandersetzung mit Dr. Fraiser der er eine "durch unverhältnismäßig hohe Ausgaben bewiesene" verwaltungstechnische Unfähigkeit vorwarf.
Bis es Rupert zuviel wurde als er Dr. Fraisers verweinte Augen sah. Er packte den Mann am Schlafittchen und beförderte ihn kurzerhand zur Tür hinaus. Mit der strikten Anweisung "nicht wiederzukehren ehe er sich ordentlich zu benehmen gelernt hätte."
Den Tritt in den Hinteren unterließ er aber als ihm in letzter Sekunde einfiel er könnte sich damit womöglich einen Gerichtsbeschluß, womöglich sogar eine Ausweisung einhandeln, weil er Ausländer war. Ärger mit den Behörden konnte dieses Haus am allerwenigsten gebrauchen.
Aber schon in der ersten Stunde stand für Rupert fest, daß er hierbleiben würde um, wie er sagte, sich nützlich zu machen, selbst wenn das hieß, daß er den Job bei der Times verlöre. Dr. Fraiser durchschaute seine fadenscheinige Begründung auf der Stelle - sie brauchte ja nur zu sehen wie sich seine Augen an Mona förmlich festsaugten wenn sie in der Nähe war - nahm darum oder vielleicht auch trotzdem sein Angebot mit heimlicher Freude an; ein zusätzliches Paar kräftiger Hände war genau das was sie brauchte und der junge Mann gab sich vom ersten Moment an ja auch recht anstellig. Die folgenden Ereignisse sollten ihr Recht geben.
Sie erlaubte ihm das Telefon in ihrem Büro zu benutzen, und Rupert, der sich mühevoll einen Grund ausgedacht hatte, wie er seinem Chef überzeugen könnte, fiel aus allen Wolken als der ihm sofort einen sabbatischen Urlaub gewährte. Ein sabbatischer Urlaub - bei einer Zeitung höchst unüblich - ist ein Jahr Arbeitsruhe bei voller Bezahlung mit der Auflage am Ende der Zeit eine fertige dem Arbeitgeber höchst nützliche Arbeit vorzulegen.
Chefredakteure bei einer so großen Zeitung wie es die London Times nun einmal ist, haben einen untrüglichen Instinkt. Dieser hatte sofort erkannt, daß er einen Goldfisch an der Angel hatte, als Rupert in seinem fadenscheinigen Anzug auftauchte und um Anstellung nachsuchte. Er war es auch gewesen der in der unauffälligen Notiz von der angeblichen Drachenklinik in den Vogesen das bevorstehende weltbewegende Ereignis roch als er - nur um seine Französischkenntnisse aufzufrischen - ein unbedeutendes Provinzblatt aufschlug; und wer zum Teufel war besser geeignet selbst die elitärste Konkurrenz von der Spur abzulenken, als ein unbekannter grüner Neuling? So kam es, daß sich ein ahnungsloser junger Mann auf die Reise machte, und nur deshalb war unser Man von der Times keineswegs erstaunt, als ihn der Anruf aus einem vom Rest der Welt abgeschnittenen Provinznest im Osten Frankreichs erreichte just als er die Fahnen für die Spätausgabe durchsah.
Sein Name - für die Welt und für diese Erzählung nur insofern von Belang als daß wir jetzt wissen wer der Urheber dieses Dramas ist - war Mr. Archibald Fenimore Fox.
Als die Dämmerung hereinbrechen wollte fiel Rupert das wartende Taxi ein. Er borgte sich eine Taschenlampe - es war Mona die sie ihm in die ob der flüchtigen Berührung ihrer Hand vor Erregung zitternden Finger drückte - und rannte mit klopfendem Herzen zum Tor. Natürlich war weit und breit kein Taxi zu sehen; der Fahrer hatte seinen Worten die Tat folgen lassen und das Weite gesucht.
Am Tor warteten lediglich, fein säuberlich nebeneinander aufgereiht, seine Arbeitsmappe, die Reisetasche (mit frischer Wäsche für einen Tag und seinem Rasierzeug darin) und der Plastikbeutel mit dem Rest seines Reiseproviants. In dem Beutel fand er später die Visitenkarte des Taxiunternehmers mit der darauf gekritzelten Nachricht "Sie schulden mir 67,40 Euro!"
Nun hatte er es zu bereuen, daß er nur die kleine Tasche gepackt hatte. Ein großer Koffer mit ausreichend Wäsche zum Wechseln wäre jetzt sehr willkommen gewesen und was nützte es, daß er sich sagte er habe vorher nicht wissen können, daß er auf längere Zeit unterwegs sein würde - es gab keinen Laden am Ort wo er Kleidung seiner Größe hätte kaufen können und wenn er nicht nackt gehen wollte, mußte er ein ganzes Jahr die gleiche gebrauchte Wäsche anziehen!
Wieder war es Mona die ihm aus der Patsche half. Als er seine Habseligkeiten auspackte - man hatte ihm eine Kammer im obersten Geschoß zugewiesen, durch deren Fenster er den nächststehenden gar abscheulich anzusehenden Gargoyle auf dem Dachgesims erkennen konnte, und als er merkte, daß er so gut wie Tür an Tür mit dem göttlichen Geschöpf auf das er so garkeinen Eindruck zu machen schien wohnen würde, kannte seine Freude keine Grenzen - und sie den geringen Umfang seiner Ausrüstung bemerkte verschwand sie wortlos.
Erleichtert atmete er auf. Die geringste abfällige Bemerkung von ihr hätte ihm den Todesstoß versetzt.
Wenige Minuten später stand sie in der Tür, ein Bündel Kleidungsstücke auf jedem Arm. "Ich habe die Schränke der Zwillinge geplündert," sagte sie und ihr Lächeln versetzte Rupert in den siebten Himmel.
Eckhart und Wieland, Vollwaise seit dem tragischen Tod ihrer Eltern vor vier Jahren, waren gerade in dem Alter in dem ihre Kleidung Rupert passen mußte. Und tatsächlich, als er sie anprobierte saßen die Stücke wie angegossen.
"Aber ich kann Ihnen doch nicht Ihre Kleidung wegnehmen," protestierte er schwach und bot ihnen Entschädigung an als er mit ihnen sprach. Die Times würde dafür aufkommen, des war er sicher.
Aber sie lehnten lachend ab. "Wir haben genug," sagte Eckhart der ältere und Wieland setzte hinzu, "Wir wollten die Stücke sowieso weggeben weil sie uns nicht mehr passen."
Tatsächlich waren beide trotz ihrer Jugend bereits ein oder zwei Zoll größer als er.
Nur mit Schuhen gab es anfänglich Schwierigkeiten. Drachenfüße sind anders gebaut als die von Menschen und deshalb gab es auch keine Drachenschuhe. Am Ende gabelte Mona von irgendwo her ein Paar abgetretene Sandalen auf die ihm paßten und Rupert konnte seine Pflastertreter vor Staub geschützt in den Schrank stellen. Seine Füße dankten es ihm.
Als Dr. Fraiser seine neue Aufmachung sah reagierte sie auf eine Weise die ihn anfangs betroffen machte - bis auch er die Komik der Situation begriff: zum ersten Mal seit er sie kannte sah er ein amüsiertes Lächeln auf ihrem Gesicht.
Nur Mona bereitete ihm weiterhin großen Kummer. Sie gab sich zwar freundlich aber mehr als Kameradschaftlichkeit für ihn schien sie nicht zu fühlen. Wäre er nicht so verliebt gewesen hätte er vielleicht gemerkt, daß er sich wegen seines Herzschmerzes nicht den Kopf zu zerbrechen brauchte - dann wären auch die folgenden tragischen Geschehnisse nicht nötig gewesen, sie einander näher zu bringen ...

Fortsetzung folgt


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