STORIES


DER GOBELIN


von Susanne Stahr



Sanft strichen Amandas welke Finger über die eben fertig gestellte Arbeit. Es war ihr größtes Werk und es hatte Jahre gedauert, bis sie diesen letzten Stich machen konnte. Ein großer Gobelin, der eine mittelalterliche Szene darstellte. Ritter in prunkvollen Gewändern mit ihren reich geschmückten Damen, im Vordergrund spielende Kinder, im Hintergrund eine Jagdgesellschaft und im Zentrum die Jungfrau mit dem Einhorn.
Amanda schob eine weiße Locke hinters Ohr und beugte sich tiefer über die Stickerei. War da ein Fehler? Energisch putzte sie ihre Brille. Nein, es war alles richtig. Mit leichtem Zittern tastete ihre Hand über die Stiche. Dieses kleine Mädchen, das nach einem Schmetterling haschte, erinnerte sie an ihre eigene Tochter.
Lucille war damals gerade zwei Jahre alt gewesen als sie endlich ihr eigenes Haus beziehen konnten. Mit kindlicher Neugier war sie in den Garten gelaufen. "Blume fliegt!" hatte sie mit ihrer hellen Stimme gerufen.
Lachend hatte Amanda sie korrigiert. "Das ist ein Schmetterling."
"Schmetterschming." Jauchzend war sie ihm nachgelaufen.
Es war eine schöne Zeit gewesen, dachte Amanda. Jetzt ist Lucille längst erwachsen und ihre Kinder gehen bald aufs College. Wo war die unbeschwerte kleine Lucille geblieben? Wenn sie jetzt auf Besuch kam, furchten Sorgenfalten ihre Stirn.

"Du kannst nicht hier allein bleiben", sagte sie jedes Mal. "Warum ziehst du nicht zu uns? Du kannst das Gästezimmer haben."
"Ich bin hier zu Hause", antwortete sie immer. Es war wie ein Ritual.
"Wenn du deine Möbel mitnimmst, wirst du gar nicht merken, dass du woanders bist", drängte dann Lucille weiter. "Und deinen Kater nimmst du auch mit."
"Aber ich kann nicht das Haus und den Garten mitnehmen", wehrte sie dann ab. "Wenn es mir schlechter geht, komme ich auf dein Angebot zurück. Aber jetzt schaffe ich es noch allein."
So ging es noch eine Weile, bis ihre Tochter seufzend aufgab. Es waren immer die gleichen Argumente, die sie vorbrachten.
Grimaldi sprang auf ihren Schoß und rieb schnurrend seinen Kopf an ihrer Hand. Automatisch begann sie ihn zu streicheln.
"Du alter Streuner", sagte sie liebevoll und betrachtete sein schönes schwarzes Fell, roch den herben Katzengeruch. Mit einem "Miau!" sprang er zu Boden und lief in die Küche.
"Du hast wohl Hunger", vermutete sie und wuchtete sich mühsam hoch. Indem sie sich auf Möbelstücke stützte ging sie langsam dem Kater nach. Da war doch noch eine Dose Katzenfutter. Amanda schüttete den Inhalt auf ein Schälchen und stellte es auf den Boden.
Ächzend richtete sie sich wieder auf. Ich werde Grimaldi in Zukunft auf dem Tisch fressen lassen, nahm sie sich vor und ging zurück ins Wohnzimmer. Der Kater hatte sich auf das Futter gestürzt und verschlang es schmatzend.
Wo wird der Gobelin einmal hängen, fragte sie sich. In ihrem Haus war gar kein Platz für so ein großes Bild. Ein Weihnachtsgeschenk für ihre Tochter? Wieder wanderten ihre Augen über die Szene. Ein Hirsch floh angstvoll durch den Wald, gefolgt von den berittenen Jägern.

Welch ein Abenteuer war das doch gewesen als sie damals, mit elf Jahren, ihre Freundin Samantha auf der Ranch besuchen durfte. Unbekümmert war sie auf das Pferd gestiegen, das die Freundin ihr gab.
"Er ist ganz brav", hatte Sam gesagt. "Da kann gar nichts passieren."
Und dann waren sie losgeritten, ohne Vorkenntnisse, nur mit dem unerschütterlichen Vertrauen der Jugend ausgestattet. Zuerst war ja auch alles gut gegangen, bis Samantha ihren Gaul zum Galopp antrieb. Sie erinnerte sich noch genau an das Gefühl, als sich ihr Pferd unter ihr spannte und wie von der Sehne geschnellt losschoss.
Es wollte gar nicht mehr aufhören zu rennen und Amanda hatte doch gar keine Ahnung, wie sie es stoppen konnte. Sie hörte heute noch Samanthas begeistertes Jauchzen wahrend ihr der Angstschweiß ausbrach.
Als sie die Ranch wieder erreichten, hing sie völlig erschöpft am Hals des Pferdes und ihre Freundin bekam eine gehörige Standpauke. Es war der erste und letzte Ausritt ihres Lebens gewesen.
Amanda lächelte und streichelte über einen der Reiter, der wie Samantha langes dunkles Haar hatte. "Du hast es gut gemeint, Sam", murmelte sie. Ach, Sam! Wie lange war sie schon tot? Waren es sechs Jahre? Oder sieben?
Ihr Blick glitt weiter auf ein junges Paar. Ein goldblonder Ritter mit einer rothaarigen Dame. Das könnten wir beide sein, dachte sie. Leonard und ich. Er war immer mein strahlender Ritter, auch als von seinen goldblonden Locken nur noch ein dünner grauweißer Kranz um den kahlen Schädel übrig war. Sechsundvierzig Jahre waren sie verheiratet gewesen. Sie hatten zusammen gelacht und geweint, gestritten und sich wieder versöhnt. Es war nichts Großartiges passiert. Ein ganz normales kleines Leben. Sonst nichts. Keine besonderen Höhen und Tiefen. Aber Liebe und Zufriedenheit.
"Bald komme ich zu dir, Lenny", flüsterte sie dem Ritter zu. Und fast schien es ihr als hätte er genickt.
Dann erfasste ihr Blick das Einhorn. Ein graziles schneeweißes Tier mit zierlichen Hufen und einem goldenen Horn auf der Stirn. Als junges Mädchen war sie gern allein in den Wald gegangen. Es gab dort eine kleine versteckte Lichtung. Dort hatte sie sich ins Gras gesetzt und davon geträumt, dass ein Einhorn zu ihr käme.
Amanda schloss die Augen und ließ die Lichtung vor ihrem geistigen Auge entstehen.
Während vor ihrem Fenster dichtes Schneetreiben herrschte, fühlte sie die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut, roch den Duft der Wiesenblumen und hörte den Gesang der Vögel. Es ist wunderschön hier, dachte sie. Jetzt müsste ein Einhorn zu mir kommen.

Da trat es aus dem Unterholz, feingliedrig und schneeweiß. Das goldene Horn funkelte im Sonnenlicht als es auf die alte Frau zuging. Helibraune Augen sahen tief in ihre Seele als es sagte: "Nun bin ich doch zu dir gekommen. Du hast nicht umsonst gewartet."
"Aber, ich bin eine alte Frau", wunderte sie sich. "Ich dachte ..."
"Denk nicht soviel", riet das Einhorn, legte sich neben Amanda ins Gras und bettete den Kopf in ihren Schoß. "Ich bin hier. Das genügt doch."
"Ja, es genügt", stimmte Amanda zu und streichelte das seidige Fell.
"Ruh dich aus, Amanda", sagte das Einhorn und berührte sacht ihre Brust mit seinem Horn.
Da überkam die Greisin eine große Müdigkeit und sie ließ sich ins warme Gras sinken. Das Zwitschern der Vögel und das Summen der Bienen verstummte. Nur der Duft von Löwenzahn begleitete ihren Schlaf.

"Es tut mir leid, Mrs. Turnier", sagte der Sheriff und fingerte verlegen an der ruinierten Tür herum. "Der Kater hat Tag und Nacht geschrien. Deshalb haben wir die Tür aufgebrochen. Und da fanden wir sie. Sie saß ganz friedlich in ihrem Stuhl, mit dieser Handarbeit auf dem Schoß."
Lucille starrte den Mann aus rotgeweinten Augen an. Konnte er nicht endlich den Mund halten? "Das ist schon ok", brachte sie mühsam hervor. "Ich wäre jetzt gern allein."
"Ja, natürlich, Madam." Mit einer kleinen Verbeugung entfernte sie sich.
Die junge Frau griff nach dem Gobelin, der achtlos auf den Tisch geworfen dalag. Das war die letzte Arbeit ihrer Mutter. Ich werde einen Platz dafür finden, nahm sie sich vor und breitete die Stickerei aus. Seltsam, die Dame mit dem Einhorn war nicht, wie erwartet, ein junges Mädchen, sondern eine alte Frau.


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