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DIE ERBSCHAFT


von Susanne Stahr



Mit einem kaum hörbaren Quietschen schloss sich die Tür des Verbrennungsofens, wodurch automatisch der Brennvorgang ausgelöst wurde. Fenton Houseman, seines Zeichens Bestatter, ein mittelgroßer Mann unbestimmbaren Alters, mit schütterem, braunem Haar, hob eine weiche, weiße Hand.
"Darf ich Sie jetzt bitten, Lady und meine Herren!" Seine Stimme klang, passend zu seinem schwarzen Anzug, ernst und gedämpft. "Mr. Billings erwartet Sie."
Mit gesenkten Köpfen folgte die kleine Trauergemeinde des verstorbenen Großindustriellen Simon Feinbeck. Da war die Witwe, eine hagere Frau, die ihr Gesicht hinter einem schwarzen Schleier verbarg. Houseman stellte sich vor, wie ihre hervorquellenden Augen an der Innenseite des Schleiers schabten. Sie trat als Erste in das Büro, das der Bestatter dem Notar zur Verfügung gestellt hatte. Ihr folgten Nathaniel, Abner und Merodach, die drei Brüder des Verblichenen. Diskret schloss Houseman die Tür und zog sich in die Küche zu seiner Frau zurück.
"Ist das wieder einer von Ludovs Kunden?" Es klang mehr wie eine Feststellung als eine Frage.
Houseman nickte. "Mach mir eine Tasse Kaffee. Das Geschäft blüht."

In dem schlichten Büro saßen die Hinterbliebenen Simon Feinbecks wie auf einer Kette aufgereiht vor dem einfachen Schreibtisch. Vor dem Notar befand sich ein einziges Blatt Papier auf der Tischplatte, das Testament. Daneben lagen vier gleichartige, in graues Seidenpapier gewickelte Päckchen.
"Wie Sie wissen war es der Wunsch Mr. Feinbecks sein Testament noch während seiner Einäscherung zu verlesen", begann er. Billings Blick glitt über die Versammelten. Mrs. Feinbeck hatte den Schleier zurück geschlagen und betupfte ihre Augen mit einem Batisttaschentuch. Ihre Schwager starrten ihn nur gierig an.
"Als Erstes"; fuhr Billings fort, "möchte ich Sie bitten, diese Päckchen an sich zu nehmen, jeder eins. Es ist der Wunsch Mr. Feinbecks, dass Sie den Inhalt während der Verlesung des Testaments in der Hand halten." Er kam umständlich hinter dem Tisch hervor und gab jedem ein Päckchen.
Die Vier machten befremdete Gesichter, packten aber gehorsam die Gabe aus. Fein, weiche Taschentücker kamen zum Vorschein. Die eingestickten Buchstaben S. F. ließen keinen Zweifel, wem sie gehört hatten.
"Eins von Simons Taschentüchern!", hauchte Mrs. Feinbeck und drückte ihre Hakennase in den edlen Stoff.
Merodach wollte das Tuch in die Rocktasche stecken, doch Billings hob den Zeigefinger und so behielt er es in der Hand.
"Mrs. Feinbeck, meine Herren", kam der Notar endlich zur Sache. "Der dahingegangene Mr. Feinbeck tut hier seinen Letzten Willen kund: Ich, Simon Feinbeck, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, verfüge, dass im Falle meines Todes mein Vermögen von der Kanzlei Billings & Todd verwaltet wird. Meine Frau Selma und meine drei Brüder sollen jeden Monat 10.000 Dollar zu ihrer freien Verfügung erhalten, bis ans Ende ihrer Tage. Im Falle des Todes einer dieser Personen erlischt der Anspruch. Falls keine dieser Personen mehr am Leben ist, erbt meine uneheliche Tochter Sophie das Vermögen zur Gänze. Gezeichnet: Simon Feinbeck." Mr. Billings sah auf und lächelte. "Das ist alles, meine Herrschaften."
"Aber ... sind Sie sicher?" stammelte Mrs. Feinbeck. "Ich habe ihm doch verziehen, dass er mit dieser ......"
"Könnte ich nicht vielleicht einen Vorschuss …?", fragte Nathaniel zaghaft und zupfte nervös an dem Tuch. "Ich hatte in letzter Zeit größere Auslagen ..."
Immer noch lächelnd überreichte der Notar jedem einen Scheck. "Natürlich beginnt die Auszahlung sofort. Wir sehen uns dann an jedem Ersten des Monats in meinem Büro." Sein Gesicht drückte entschiedene Endgültigkeit aus als er sich erhob und nach seiner Aktentasche griff. "Leben Sie wohl, meine Herrschaften." Mit etwas zu langen Schritten für seine kurzen Beine eilte er aus dem Büro.
"Das reicht doch nicht!", jammerte Nathaniel. "Könnt ihr mir nicht ein bisschen aushelfen? Nur dieses eine Mal. Ihr kriegt es ganz sicher zurück."
"Spinnst du?", fuhr ihn Abner an und wischte sich mit dem Tuch den Schweiß von der Stirn. "Damit du es postwendend beim Pokern verlierst? Nein, wirklich nicht!" Wieder wischte er über seine Stirn. Dann trat er über die Schwelle.
Der Bestatter stand wartend am Ausgang. Seine Miene zeigte die ideale Mischung aus Zurückhaltung und Anteilnahme.
"Kann ich ein Glas Wasser bekommen?", fragte Abner und holte ein Pillenröhrchen aus seiner Brusttasche. Schon wieder stand eine Reihe Schweißperlen auf seiner Stirn.
"Aber sicher." Fürsorglich geleitete Houseman den Mann in den Waschraum. Von draußen kamen die Geräusche von drei startenden Wagen.
Wenig später wählte der Bestatter die Nummer des Ärztenotdienstes. "Bitte schicken Sie einen Krankenwagen. Ein Trauergast wurde ohnmächtig ... Ja, er atmet, allerdings schwach und unregelmäßig." Dann ging er durch die Küche in ein gemütliches Wohnzimmer. Mr. Billings wartete dort mit einem jungen Mädchen auf ihn. Seine Frau trug gerade Tee und feine Kekse auf. Unauffällig musterte er die junge Frau. Mit ihren fein geschnittenen Zügen, dem brandroten Haar und der tadellosen Figur hätte sie als Schönheit gelten können, wäre da mich der leicht stechende Blick ihrer grünen Augen gewesen. Es war kaum zu glauben, dass das die Tochter des alten Feinbeck war!
"Wer wird der Erste sein?", fragte das Mädchen beiläufig und nahm einen Schluck Tee.
Etwas an ihrer Stimme wirkte irritierend, aber Houseman konnte nicht sagen, was. "Mr. Abner liegt bewusstlos im Waschraum. Und so wie Mr. Merodach gestartet ist ...."
Zwei Wochen später gab es wieder ein Begräbnis in der Familie Feinbeck. Mr. Nathaniel Feinbeck war einige Tage zuvor in einer dunklen Straße erstochen aufgefunden worden. Die Polizei vermutete in der Gegend einen illegalen Spielclub. An der Feier nahm nur Mrs. Feinbeck teil. Abner lag nach einem Schlaganfall im Koma und Merodach pflegte eine Grippe.

Zwei Monate später saß Sophie Mr. Billings in seinem Büro gegenüber. Abner war seinem Leiden erlegen. Merodachs Grippe hatte sich zu einer Hirnhautentzündung ausgewachsen, die ihn schließlich tötete. Und Mrs. Feinbeck war an einer Gräte erstickt.
"Ihr Vater verfügte, dass Sie dieses Päckchen auswickeln und den Gegenstand während der Verlesung in der Hand halten", begann der Notar.
"Aber ...", stotterte Sophie und wurde blass.
"Wollen Sie das Erbe zurückweisen, Miss O'Hara?" fragte Billings sanft. "Das wären immerhin 200 Millionen Dollar, die bei Ihrem Rücktritt dem Tierschutzverein zugute kämen."
"200 ...! Natürlich nehme ich das Erbe an", sagte sie schnell und wickelte das graue Seidenpapier von dem Taschentuch.
"Wenn Sie Ihren Vater geliebt haben, haben Sie nichts zu befürchten", meinte er glatt und beugte sich über das Testament.


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