SCHWERPUNKTTHEMA


DER VOGEL GREIF


BEGEGNUNG

von Andreas Leder



Eines ist klar, wer Urlaub in Kenia macht, der bucht auch eine Safari. Ich hatte zwar ein günstiges Reisebüro gefunden und die drei Wochen all-inclusive in einem Club-Hotel rissen kein übermäßiges Loch in meine Ersparnisse, doch als ich im Hotel die unbedingt notwendige Safari buchten wollte, glaubte ich meinen Ohren nicht zu trauen.
Der Halsabschneider wollte siebenhundertfünfzig Euro von mir für einen einzigen Tag Safari! Für einen Tag wildes Herumgeschaukle in einem unzureichend mit uralten Blattfedern ausgestatteten ungemütlichen Jeep!
Also gut. Wer A sagt, muss auch O sagen. Zähneknirschend unterschrieb ich die Kreditkartenrechnung und hoffte, der Reiseveranstalter würde es nicht schaffen, die Abrechnung binnen vier Wochen bei meinem Kreditkartenunternehmen einzureichen. Dann nämlich musste ich gefragt werden, ob ich damit einverstanden wäre - aber ich bin ja kein Charakterschwein und beschloss schon jetzt, auch nach sechs oder acht Wochen, der Abrechnung zuzustimmen.

Am nächsten Tag mussten wir um fünf Uhr morgens aus den Betten, um halb sechs war Abfahrt. Ein verschlafenes Zimmermädchen, das zu diesem ungeliebten Dienst abkommandiert worden war, drückte uns beim Verlassen der Hotel-Anlage noch ein ziemlich kleines Papiersäckchen in die Hand - das sollte unsere Verpflegung für den ganzen heutigen Tag sein, denn vor zehn Uhr abends war mit einer Rückkehr nicht zu rechnen.
Ich riskierte einen Blick. Nun ja, ein paar Sandwichs, zwei Äpfel und ein Schokoriegel amerikanischer Herkunft. Gut, dachte ich, das war ein Tag, an dem ich sicher einige Millimeter meines Wohlstands-Schwimmreifens um die Hüften abbauen konnte.
Wir saßen zu sechst quer zur Fahrtrichtung auf der Ladefläche eines markenlosen Geländewagens. Die Polsterung unsere Sitze hatte auch schon bessere Tage erlebt und der Wagen hatte tatsächlich Blattfedern. Krampfhaft versuchten wir uns am Gestänge hinter und über uns festzuklammern, was aber nicht immer gelang, vor allem dann nicht, wenn der schwarzhäutige Chauffeur wieder einmal durch eines der Schlaglöcher rumpelte.
Dann schaute er - wie unbeabsichtigt - nach hinten, wie es uns denn erginge und ließ dabei seine weißen Zähne blitzen, die uns kariesgeplagte Wohlstandsmenschen vor Neid erblassen ließen.
Ich schaffte es, in einer Phase ruhigerer Fahrt, den einen entscheidenden Schritt nach vorne zu machen und ihm eine Hand auf die Schulter zu legen. Dann aber warf mich ein mindestens fußballgroßes Schlagloch wieder zur Seite, sodass ich mich bei einer der Mitreisenden unsanft am Knie abstützen musste, was mir wiederum einen bösen Blick von ihr einbrachte. Nein, ich wollte ihr nicht zu nahe treten, ich wollte mir nur nicht den Schädel entzwei schlagen. Also rappelte ich mich wieder hoch, klammerte mich mit einer Hand an einer Strebe fest und zauberte einen zehn Dollar-Schein aus meiner Hosentasche, den ich dem wild gewordenen Ritter des kenianischen Gaspedals unter die Nase hielt.
"Bitte", konnte ich gerade noch hervorbringen, bevor mich der unvorhergesehene Kontakt mit einem Metallrohr vierhundert bis fünfhundert Sterne sehen ließ. Doch bevor ich wieder abtauchte, hatte der Schwarze schon den Geldschein an sich gerissen und grinste mich an.
"Okay, Mister", hörte ich ihn sagen, dann röhrte der alte Sechszylinder auf. Ich wurde nach hinten katapultiert und landete unsanft auf meiner Kehrseite. Eine gnädige Hand hielt mich am Riemen meiner Kamera fest, die ich um Hals und Schulter trug. Gewürgt zu werden ist vielleicht doch besser als bei 80 Meilen in der Stunde einen Abflug vom Wagen zu produzieren.
Unser Ritter des Gaspedals hatte mich ganz offensichtlich falsch verstanden, doch der angenehme Nebeneffekt der höheren Geschwindigkeit war, dass wir jetzt die Schlaglöcher nicht mehr durchfuhren sondern über sie hinweg flogen.
Eine geschlagene Stunde dauerte der wilde Ritt über die afrikanische Sandpiste und wir alle, inklusive Chauffeur und dunkelhäutigem Beifahrer waren anschließend einheitlich hellbraun. Selbst schnäuzen brachte nur bedingten Erfolg, der Sandstaub war einfach überall. Meine Mitfahrer hatten einen weiteren Versuch von mir verhindert, den ganz sicher einem Geschwindigkeitsrausch erlegenen Lenkraddreher mit einer weiteren Dollar-Note zu besänftigen. Gut, dachte ich, waren wir schneller da - wo eigentlich? - in the middle of nowhere? - wie man so zu sagen pflegt. Vielleicht sahen wir ein paar Tiere mehr und die Chancen, sie digital abgebildet mit nach Hause zu nehmen, waren vielleicht größer.
Als der Motor erstarb und wir nur mehr dahinrollten, glaubte ich es zuerst gar nicht. Der wilde Ritt sollte schon vorbei sein? Der Wagen wurde langsamer, die Schlaglöcher fühlbarer. Schließlich standen wir abseits der Sandpiste mitten in halbdürrem Grasland und unser Chauffeur und offensichtlich auch Fremdenführer, deutete mit der Hand zur linken Seite. Eine Löwenfamilie räkelte sich unter der Krone eines mir unbekannten, jedoch sehr weit ausladenden Baumes. Ja, das waren die Motive, die wir suchten. Wir zückten unsere Kameras, drehten an den Objektiven und knipsten darauf los. Eines der Bilder würde schon gut werden.
Neugierig, wie ich von Natur aus bin, schaute ich nicht nur auf die dösende Löwengruppe, sondern ließ meinen Blick schweifen. Etwas Abseits sah ich das sandgelbe Fell eines sehr großen Löwen, fast schon verdeckt von einer Gruppe hoch wachsender Gräser. Ich richtete das Objektiv auf dieses Bild meiner Begierte, doch ich schaffte es nicht, den Auslöser durchzudrücken. Durch das Teleobjektiv starrten mich zwei Augen so zwingend an, dass ich erstarrte.
"Wieso kannst du mich sehen?" hörte ich eine Stimme in meinem Kopf.
"Warum … wieso …?" ich brachte keinen vernünftigen Satz zustande.
Da erhob sich der Löwe und schaute mich an. Jetzt sah ich es! Auf den breiten Schultern eines Löwenkörpers, umrahmt von einer prächtigen Mähne, hatte sich mir das Gesicht eines Adlers zugewandt, ein riesigengroßer gelb glänzender Schnabel thronte mitten in diesem Antlitz. Auf seinem Rücken lagen zusammengefaltet mächtige Federschwingen. Er entfaltete seine Flügel und noch einmal hörte ich die Stimme in meinem Kopf. "Du solltest mich nicht sehen können." Dann erhob er sich mit einem Sprung in die Luft, ein paar Schläge mit seinen riesengroßen Flügeln und fort war er.
Erst jetzt klickte es, ich hatte die Kamera noch immer vor dem Auge gehabt und mein Finger hatte erst in diesem Moment den Auslöser berührt.
Glaubt mir, vom Rest des Tages hatte ich nichts mehr. Ob Elefanten, Giraffen, Nashörner, … fliegende Irgendwas oder gefleckte Dingsbums - mir war's egal. Ich wollte nur mehr zurück ins Hotel und versuchen, ob ich das Bild im Fotoapparat mit dem Grafikprogramm auf meinem Laptop, noch etwas aufbereiten konnte, damit vielleicht doch noch dieses in Wirklichkeit unbeschreibliche Tier zu erkennen war. Am Display der Digitalkamera war nichts Vernünftiges zu sehen. Gräser, Büsche, zu viel und vor allem zu heller Himmel.
Lunchpaket hin oder her, ich hatte keinen Hunger und verteilte das Wenige aus meiner Ration an die hungrigen Mitleidenden.
Wie es unser schwarzhäutiger Gaspedalakrobat schaffte, niemals zu schwitzen, immer zu lächeln und jederzeit guter Laune zu sein, weiß ich nicht. Tatsache war, dass er uns zu einer Wasserstelle mitten in der Savanne brachte, in der herrlich, kühles Trinkwasser wartete und uns so vor dem schon unvermeidlich erscheinenden Vertrocknungstod errettete.
Endlich berührte die rotglühende Sonne den Horizont und mit unserem Hitzeleiden war es vorbei. Die Fahrt zurück in der Dämmerung hat, glaube ich, keiner von uns so richtig wahr genommen. Irgendwann in der Finsternis, kehrten wir zurück in einen von Fackeln heimelig beleuchteten Hotel-Innenhof, klaubten unsere Knochen zusammen und schleppten uns aufs Zimmer.
Der Gaspedal-Artist stand mit aufgehaltener Hand beim Stiegenaufgang und wir gaben ihm reichlich Obolus. Auch wenn er uns in höchste Lebensgefahr geführt hatte, so waren wir ihm doch mehr als nur dankbar dafür, dass er auch den Weg zurück in die Oase der Zivilisation gefunden und mit uns beschritten hatte.

Und das Bild in meiner Kamera?
Fragt nicht.
Gräser, Büsche und ein fast alles überstrahlender blau-weißer Himmel.
Ich habe mich zwar bemüht, den dunklen Punkt am Himmel zu vergrößern, aber außer ein paar braunen Pixeln war nichts zu sehen.
Nichts, was man hätte erkennen können.


zurück