SCHWERPUNKTTHEMA


DER VOGEL GREIF


GRYPHUS FABULOSIS ELEGANS

von Fred H. Schütz



Wer sich die Suppe einbrockt soll sie gefälligst auch auslöffeln! Das habe ich nun von meiner Superidee: ich darf mir das Hirn über Stiefonkel Fhafhrd Ochsensohns liebevolles Geschenk verrenken, das mir nicht nur ein knochenbrecherisches und äußerst lebensgefährliches Abenteuer einbrachte!
Warum mußte er sich auch im dunkelsten und nichtigsten Nichts zwei Mann hoch über dem Gipfel des Everrest - aufgepaßt: nicht Everest sondern Everrest, mit zwei R mittendrin! - verbergen, nur weil ihm Sinister Sister donnergrollende Steinlawinen angehext hat die jedesmal niedergehen wenn er seine Stimme über ein Flüstern erhebt!
Aber ich habe das Kerlchen - ein Greifenbaby von nicht einmal der Größe eines Bernhardiners - sicher und wohlbehalten zur Erde heruntergebracht. Er wuchs und gedieh und wir hatten eine wunderbare Zeit miteinander bis - ja, bis Sinister Sister erneut auftauchte. Das gefährliche Weib hexte auch ihn an und dann verschwanden beide. Nach meinem besten Wissen befinden sie sich in einer anderen Dimension wo sie einander um ihr jeweiliges Überleben bekämpfen.
Ach, Flitz, mein Flitz, wo bist du nur …
Mit ihm dürfte der letzte lebende Greif vom Antlitz dieser Welt verschwunden sein. Steinmetzerische und bildliche Zeugnisse der Art von namhaften Künstlern gefertigt gibt es zwar zur Genüge, und außerdem lebt ihre Erinnerung in Städtenamen wie Greifswald, Greifenstein oder Greifenhagen, bzw. im Staatswappen des verschwundenen weil
ehemals reichsdeutschen Landes Ostpreußen und in Familiennamen wie z.B. Karl Mays Die Herren von Greifenklau fort, aber hast du schon einmal einen Greif gesehen?
Übrigens bedeutet der Name Greifenklau keinesfalls, daß hier ein Greif geklaut wurde sondern er bezieht sich auf seine Klaue, eines der hervorstechenden Merkmale des Greifen.
Darauf komme ich noch zurück. Die Existenz - oder vormalige Existenz - des Greifen ist aber nicht nur in Familien- und Städtenamen belegt sondern auch durch den Umstand, daß ihm ein lateinischer Gattungsname zuteil wurde. Nun ist mir die umfangreiche nahezu eine Tonne wiegende Klassifikationsliste des Carl von Linné nicht zugänglich und so habe ich in Eigeninitiative einen Namen für die Gattung gestrickt, wobei ich mich strikt an das linnésche Klassifizierungsprinzip hielt. Den Namen habe ich an den Beginn dieses Artikels gestellt, sodaß ein jeder der diese Seite aufschlägt ihn lesen muß.
Überhaupt, was den Gattungsnamen betrifft würde es mich nicht wundern wenn die Bezeichnung für die Familie der Greifvögel von ihm abgeleitet wurde. An eine Zufälligkeit der Namensgleichheit glaube ich eher nicht.
Denn mit einem Greifvogel fing alles an, nichtwahr. Seinen Ursprung hat der Greif - das heißt die Mythologie des Greifen - im Orient. Am Palast des Assurnasipal in Babylon ist ein Riesenvogel mit Löwentatzen und Menschenkopf abgebildet, der K'rub - wer denkt da nicht sofort an den Riesenvogel Roq mit dem Sindbad auf einer seiner sieben Reisen zu kämpfen hatte?
Der Roq soll so riesig gewesen sein, daß es ihm ein leichtes war, einen Elefanten davon zu tragen - aber das halte ich für ein Gerücht. Immerhin war Flitz zur Zeit seines Verschwindens so groß wie ein Brauereigaul und entsprechend groß war sein Adlerkopf mit den aufgerichteten Ohren. Nimm dazu seine
aquamarinfarbenen Augen - falls du's nicht weißt, die Farbe des Aquamarins (auch blauer Diamant genannt) ist glasklar mit einem Hauch von blau - dann wirst du verstehen, warum die Leute lieber wegblickten und zu sich sagten Ich sehe dich nicht, dann siehst du mich auch nicht!
Aber ein lieber Kerl war er doch, mein Flitz!
Im Orient galt der Roq wie hierzulande der Drache, als Wächter von Schätzen. Wer eine seiner Schwungfedern ergatterte - auch ein Roq mauserte hin und wieder - konnte sich glücklich schätzen, weil sie dem Besitzer Glück und Reichtum einbrachte, und aus seiner Kralle - die allerdings gab ein Roq nicht freiwillig her, woraus sich ihre Seltenheit leicht ableiten läßt - ließ sich ein Trinkgefäß fertigen das jegliche Substanz die daraus getrunken wurde in einen Heiltrank verwandelte.
Nach anderer Quelle gab es den Roq im Gebiet des indischen Ozeans - das würde mit Sindbads Erzählungen übereinstimmen - den Simurgh in Farsistan, das heißt Persien dem heutigen Iran, und den Greif im Kaukasus. In der iranischen Tradition ist der Simurgh der Erzieher des persischen Gegenstücks zum deutschen Siegfried, eines Helden namens Rustam gewesen. Auch seine Federn besaßen Heilkräfte.
Von K'rub lässt sich übrigens der lateinische Name Gryphus für die Gattung leicht ableiten.
Russische Sagen erzählen vom Feuervogel. Dessen Augen waren wie Kristalle (sic!) und seine Federn leuchteten wie Feuersbrünste. Auch besaß er die Macht Dunkelheit zu vertreiben.
Eine Prinzessin, so berichtet die Sage, lag in tiefem Schlaf während ihr Land in pechschwarzer Dunkelheit gefangen war. Da erschien der Feuervogel und trug einen jungen Mann herbei der sie weckte, während der Schloßhof von des Vogels Licht taghell erleuchtet wurde. Die Prinzessin hatte nun Gelegenheit die Ursache der unheimlichen Dunkelheit zu ergründen. Die fand sie schließlich in einem tristen Gemäuer wo eine schwarz gekleidete hagere Frau - ihre düstere Schwester - ein lichtloses Feuer schürte. Auf dem Feuer stand ein brodelnder Kessel in dem die Prinzessin das Herz des jungen Mannes fand, den der Feuervogel zu ihr gebracht hatte. Sie holte das Herz aus dem eisig kochenden Kessel und Sinister Sister - Verzeihung: ihre düstere Schwester - verschwand. Es erübrigt sich zu sagen, daß die Prinzessin also das Reich gerettet hatte und anschließend mit dem namenlos bleibenden jungen Mann eine glückliche Ehe führte.
Schließlich sei noch der Fenghuang erwähnt der als chinesischer Phönix bekannt ist. Seine Federn schillerten in so wunderbaren und reichen Farben, daß es hieß, sie spiegelten das Licht des Paradieses. Sein Ruf war pentaton, das heißt er bestand aus fünf Tönen die eine Melodie ergaben. Auch dies erinnert an meinen Flitz.
Ich sollte wohl besser "die" Fenghuang sagen, denn bei den Chinesen gilt sie als weibliches Gegenstück zum männlichen Drachen. Und wenn das mein Flitz wüsste, käme er vielleicht doch wieder zurück...!
Von Alters her hat sich die Fenghuang jeweils als Vorbote glücklicher Zeitalter gezeigt, aber wie mir scheint, haben die Chinesen in den letzten hundert Jahren nicht mehr in den Himmel geschaut …
Ich habe übrigens den Phönix der europäischen Tradition nicht erwähnt weil ich denke, daß er nicht unbedingt zur Verwandtschaft des Greifen zu zählen ist …
Damit endet mein kurzer Ausflug in die Geschichte, bzw. zur Verwandtschaft des Greifen und wir wollen uns näher mit dem Sujet unserer Betrachtung befassen.
Greife seien, so heißt es, Mischwesen gewesen weil sie aussahen wie geflügelte Löwen mit Adlerkopf. Tatsächlich sah mein Flitz auch so aus. Aber das machte ihn nicht zu einem Mischwesen und andere Greife auch nicht. Daß man solche Ansichten auf's Tapet brachte geschah aus reinem Unwissen. Mischwesen konnte es ebenso wenig geben wie man frankensteinsche Ungeheuer aus Leichenteilen zusammenstückeln konnte.
Es hat aber schon immer Kreaturen gegeben welche die äußerlichen Aspekte verschiedener Tierarten auf sich vereinigten. Der Urvogel Archäopteryx zum Beispiel war ein gleichsam bepelzter wie gefiederter Dinosaurier, und das Schnabeltier Australiens könnte sich mit einigem Wohlwollen als Dachs mit Entenschnabel und -füßen darstellen.
Wenn man bisher keine Fossilien gefunden hat die sich eindeutig als von einem Greifen stammend identifizieren lassen, bedeutet dies keineswegs, daß es nie welche gegeben hätte. Es gibt noch viele Geheimnisse auf dieser Welt die der Entdeckung harren …
Über die Form des Greifen sind wir uns also insoweit im Klaren als wir wissen wie er aussieht, nämlich wie ein geflügelter Löwe mit Adlerkopf. Daß Letzterer aber nun kein richtiger Adlerkopf sein kann sehen wir unter anderem auch an seinen Ohren. Er hat nämlich regelrechte Katzenohren, Ohren die er bewegen und je nach Laune aufrichten oder auch nach hinten drehen kann.
Sein Schnabel ist allerdings wie ein Adlerschnabel geformt, mit herab gebogener Spitze, genau wie bei einem Adler, nur größer und kräftiger. Größer ist auch sein Schädel bei dem man ohne weiteres ein größeres Hirnvolumen - ähnlich dem eines Menschen - vermuten darf.
Seine Intelligenz ist unbestreitbar!
Sprechen kann er natürlich nicht. Auch ein Papagei spricht nicht im eigentlichen Sinne. Aber der Greif hat eine Stimme und die weiß er zu modulieren. Ähnlich wie die Fenghuang variiert er die Töne die er von sich gibt und deshalb konnte mein Flitz sich mit mir unterhalten. Man muß nur auf die Töne achten und sie zu interpretieren wissen.
Greife sind also, wie gesagt, sowohl bepelzt als auch gefiedert. Sein geschmeidiger Löwenkörper ist mit seidigfeinem Pelz bedeckt der sich wie weichster Plüsch anfühlt. Ich weiß es, denn ich habe ihn oft gestreichelt. Eine Mähne sucht man allerdings bei dem adlerartigen Kopf eines Greifen vergebens.
Anstattdessen ist er vom Kopf bis zu den Schultern sowie an den Vorderbeinen bis ganz hinunter gefiedert. Diese Federn sind mit größter Vorsicht zu behandeln denn sie haben Kanten so scharf wie Rasiermesser! Wenn man nicht sehr Acht gibt, kann selbst eine flüchtige Berührung schwere Verletzungen verursachen.
Leider hat er in der ganzen Zeit die er bei mir war nie gemausert und so bekam ich auch keine Feder von ihm.
Lediglich unter dem Kinn - Verzeihung, das ist so eine Redewendung von mir; ein geschnäbelter Kopf hat ja kein Kinn - also an der Stelle wo sein Schnabel an die Kehle ansetzt ist sein Gefieder weich wie Flaum, und dort habe ich meinen Flitz gern gekrault; das mochte er sehr.
Dann legte er seinen Kopf auf die Seite, schloß die Augen und - schnurrte wie ein Kätzchen!
Was den Greifen noch von anderen vierfüßigen Tieren - also auch dem Löwen - unterscheidet das sind seine Flügel. Anders als in sonst recht gewissenhaften Abbildungen die wohl aus Platzgründen mit ihren Dimensionen sparen sind aber die Flügel des Greifen wahrhaft riesig; schließlich müssen sie einen Körper von der Größe eines Löwen durch die Lüfte tragen! Wenn mein Flitz seine Flügel ausstreckte übertraf ihre Spannweite die eines Düsenjägers …
Sein Flug war lautlos wie der einer Eule, dafür aber so schnell, daß ich ihm den Namen Flitz gab. Mach drei schaffte er spielend. Wenn er zu seinen Jagdgründen aufbrach - hinter dem Ural, stell dir das vor! - war er in spätestens einer Stunde wieder zurück, legte mir seine Beute zu Begutachtung vor - dieses kindliche Verhalten, das er nie aufgab, zeigt wie jung er noch er war, als er mich verließ - und zog sich dann in einen verborgenen Winkel zurück um sie bis auf das letzte Knöchelchen zu verzehren.
Je nachdem wie groß die Beute war konnte das Tage dauern. Dazwischen kam er immer wieder kurz zum Schmusen vorbei, aber nie sah ich ihn mit Blut beschmiert oder bemerkte Beutegeruch an ihm.
Genau wie es Katzen sind, war auch mein Flitz äußerst sauber und jedes Härlein, jedes Federchen lag an seinem Plätzchen.
Unter seinem gefiederten Beinkleid ragten seine Füße hervor, mit Krallen wie die eines Adlers - eines sehr großen Adlers - aber es waren doch keine Vogelkrallen. Er hatte vier Tatzen wie jeder Löwe, nur besaßen die vorderen fingergleiche Zehen die ihn zum Greifen befähigten - oh ja, er konnte sehr gut greifen, nur schreiben zum Beispiel konnte er damit natürlich nicht.
Und streicheln, na ja, sich von ihm streicheln zu lassen war eher gefährlich!
Er hatte, wie gesagt, Augen wie Aquamarine. Sein Blick war daher streng, sehr streng. Wer ihn nicht kannte fühlte Furcht. Dabei war mein Flitz das liebste Kerlchen, das du dir vorstellen kannst und nur seine Beute oder Sinister Sister hatten ihn zu fürchten.
Über seine Beute will ich hier lieber nicht sprechen, weil sie dem einen oder anderen vielleicht leid tun könnte, aber von irgendetwas muß auch ein Fabeltier leben, nicht wahr?
Woimmer ihn ein Lichtstrahl traf leuchteten meines Flitzens Fell und Gefieder wie flüssiges Gold, aber auch in völliger Dunkelheit sah man den matten Schimmer, der von ihm ausging.
Von Greifen sind die abenteuerlichsten Farbenspiele berichtet worden. Am merkwürdigsten ist vielleicht jener dessen schwarzes Äußere über und über mit roten Tupfen bedeckt war, und auch Catherine erzählte mir von einem völlig schwarzen Greifen den sie deswegen Onyx getauft hatte. Aber die bestbekannte Variante ist doch wohl der Goldton und genauso sah mein Flitz auch aus.
Bis auf seine Flügel.
Die sind zwar auch gefiedert, aber bei ihm sind es winzige Federchen die zum einen wie bei der Eule das Fluggeräusch bis zur völligen Lautlosigkeit dämpfen, zum anderen wie die Schuppen des Schmetterlingsflügels das darauf fallende Licht immer wieder anders reflektieren, sodaß Greifenflügel wie Regenbögen leuchten und rascher Flügelschlag ihn wie von gleißenden Lichtern umsprüht erscheinen läßt - und darin gleicht ein Greif wiederum der chinesischen Fenghuang …
Nun denn, sofern mein Flitz nicht doch irgendwann meine Hoffnungen wahr macht und wiederkehrt, sodaß ich Neues von ihm berichten könnte, ist das Vorstehende alles was ich vom Greifen - dem Gryphus fabulosis elegans - erzählen kann.
Nur eine Frage bleibt offen und die handelt nicht davon, daß Stiefonkel niemals echte Blutsverwandtschaft bezeugt - nein, die Frage ist: Wie kann sich einer als Sprößling eines Verschnittenen ausgeben?


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