ARTIKEL


DIE ÄSTHETIK DER MORIBUNDEN SCHÖNHEIT

von Markus K. Korb



Edgar Allan Poe im schwarzen Spiegel der Romantik - zum 200. Geburtstag
(19. Januar 1809 - 7. Oktober 1849)

Tod im Rinnstein

Der Mann, der vor der Gunners Hall in Baltimore in der Gosse lag, war in einem Besorgnis erregenden Zustand. Die Kleider schmutzig und teilweise eingerissen, ein ungepflegter Bartwuchs unterstrich die Schatten unter den Augen. Es war der 3. Oktober 1849, der letzte Tag der Kongressabgeordnetenwahlen von Maryland.
Der Mann, um den es sich handelte, war kein geringerer als Amerikas bedeutendster Dichter und Literaturkritiker - Edgar Allan Poe. Er entwickelte eine neue Prosagattung - die Kurzgeschichte - und legte deren theoretischen Hintergrund in der Schrift "The Philosophy of Composition" dar.
Auch seine literarischen Arbeiten waren neuartig und wirkten schockierend auf seine Zeitgenossen. Der überwiegende Teil der amerikanischen Leser wollte nichts wissen von abgrundtiefem Hass, der sich in perfiden Mordplänen auslebt; sie wollten nicht miterleben, wie zu früh Begrabene hochschrecken und sich die Fingernägel am Sargdeckel blutig kratzen. Für diese Visionen wurde Edgar Allan Poe von vielen gehasst. Nur wenigen Aufgeschlossenen dämmerte es, dass hier eine Perle der Literatur herangereift war. Und wie das bei Perlen so ist, wuchs auch diese inmitten von Schlamm auf, der sie zu verschütten drohte.
Zwei Tage nach seiner persönlichen Tragödie verstarb das Genie Edgar Allan Poe im Washington Hospital in Baltimore. Seine letzten Stunden verbrachte er im Delirium.

Später Ruhm

Noch lange Zeit danach war Poe eine persona non grata im damaligen Amerika. Erst durch Charles Baudelaire, der Poes Werke ins Französische übersetzte und ihre Verbreitung förderte, erntete Poe posthum Lob und Anerkennung in der Fremde. Die Symbolisten Frankreichs und die Dekadenzautoren Deutschlands erkoren ihn zum Idol der Moderne. In der Literaturszene Weimars wurde sein Name im Zusammenhang mit heute zu Unrecht vergessenen Autoren wie Alexander Moritz Frey genannt. Erst nachdem er in Europa geschätzt wurde, erlangte er auch in seinem Heimatland den ihm gebührenden literarischen Ruhm.
Zusammen mit Franz Kafka ist Edgar Allan Poe einer der wenigen Autoren der sogenannten Hochliteratur, die dem phantastischen Genre nahe stehen und deren literarischer Rang in der wissenschaftlichen Diskussion stets unangefochten hoch eingestuft wird.
Doch was trieb diesen Mann zu immer neuen literarischen Höhenflügen? Viele Mutmaßungen existieren, doch nur wenige Literaturwissenschaftler legen das Augenmerk auf jene Hintergründe, in welchen Einflüsse der Romantik, und insbesondere der Schwarzen Romantik, zu finden sind.

Edgar Allan Poe und die Frauen

Poes Mutter, Elizabeth Poe, war eine Schauspielerin, die vorwiegend in den Südstaaten als festes Ensemblemitglied einer Theatergruppe umherzog. Ihr Mann, der Schauspieler David Poe, dem sie 3 Kinder gebar, behandelte die junge Frau äußerst unfein. Immer wieder sprach man von Trinkgelagen, denen sich der talentlose Schauspieler hingab, ohne auf Frau und Kinder Rücksicht zu nehmen. David Poe verließ seine Familie, als Elizabeth mit dem dritten Kind Rosalie schwanger war.
Elisabeth Poe wurde krank und starb, als ihr Sohn Edgar drei Jahre alt war. Sie hinterließ ihm nur wenig mehr als ein ovales Potrait.
Das Potrait von Elizabeth Poe zeigt ihre fast kindlichen Gesichtszüge. Riesige Augen, geheimnisvoll dunkel in einem rundlichen Gesicht. Ihr Körper sieht zierlich aus, nahezu abgemagert.
Edgar Allan Poe hat den frühen Tod der Mutter sein ganzes Leben lang nicht überwunden, wie sich sowohl im Werk, wie auch in seiner Biographie zeigt.
Elizabeth Poe litt an Tuberkulose. Ihr Zustand verschlechterte sich in Schüben, die mit Blutstürzen einhergingen. Man darf davon ausgehen, dass dies in dem dreijährigen Edgar einen grauenhaften Eindruck hinterlassen hat.
Es ist insbesondere diese Krankheit, welche sich wie ein blutroter Faden durch das gesamte Leben von Edgar Allan Poe zieht. Später sollten sein Bruder William, seine Pflegemutter, eventuell auch sein Vater David, und Poes Frau Virginia darunter leiden.
Betrachtet man Poes Frauengestalten in seinen Erzählungen, zeigt sich die Vorliebe für einen ganz bestimmten Typus - die leidende, dem Tod geweihte Schöne. Was sind "Berenice", "Morella", "Ligeia" oder "Madeleine" denn anderes als Spiegelbilder seiner Mutter oder seiner Frau? Schwindsüchtig schweben sie geradezu wie Gespenster durch die Szenerien. Krank, bleich bis zur Durchsichtigkeit und stets von der Aura des Todes umfangen.
Poe selbst nannte den Tod einer schönen Frau in seiner literatur-theoretischen Schrift "The Philosophy of Composition" das poetischste Thema der Welt, und belegt damit seine Fixierung auf diesen Frauentypus.

"…terror is not of Germany, it's of the soul..."

Zu Lebzeiten von Poe waren die romantischen Literaten Europas auch in Übersee en vogue. Edgar Allan Poe wurde vorgeworfen, dass er seine Erzählungen zu sehr auf die Romantik berufe, fast einem Plagiatsvorwurf gleichkam. Poe trat diesem Vorwurf entgegen, indem er sein Schreiben selbst analysierte und beschrieb, dass der von ihm geschilderte Schrecken nicht dem Nachäffen von literarischen Vorbildern entstamme, sondern sich aus einer tiefsitzenden Angst entwickle - aus der eigenen Seele des Dichters.
Dadurch bot er seinen Kritikern eine willkommene Munition, um den Dichter erneut als Zielscheibe von Spott und Häme zu benutzen. Dabei begingen sie einen Fehler, der sogar heute noch vielen Lesern und Literaturkennern unterläuft - sie setzten die Ich-Erzähler der Geschichten mit dem Autoren gleich. Zieht man diesen Vergleich, ist es nur allzu verständlich, dass man Poe die unglaublichsten, amoralischen Tendenzen vorwarf. Man betrachte nur die Erzählung "The Tell-Tale Heart", in welcher ein wahnsinniger Erzähler auftritt, der einen alten Mann wegen seines "Geierauges" tötet. War es möglich, dass in Poe ein potentieller Mörder schlummerte?
Sicherlich gibt es in jedem Menschen eine dunkle Seite, aber einem Autoren, der sich gerade eben mit den dunklen Seiten der Seele beschäftigt, dies vorzuwerfen erscheint im Lichte der Psychoanalyse und Literaturtheorie als höchst fragwürdig und paradox. Nur wenigen Kriminalschriftstellern wurde bislang vorgeworfen, sie würden Mordpläne in die Tat umsetzen wollen, aber bei Autoren der Phantastik war eine solche unterschwellige Unterstellung stets vorhanden. Bei Edgar Allan Poe kam eine deutlich zu Tage tretende Alkoholsucht hinzu, in welcher Poe tiefste Depressionen auslitt.
"Meine Feinde schreiben den Wahnsinn dem Getränk zu, aber nicht das Getränk dem Wahnsinn" meinte Poe, auf die Problematik hin angesprochen. Darin liegt die Begründung für einen Teufelskreis, aus dem selbst der geniale Poe keinen Ausweg fand.
Solange er sich an seine überragenden geistigen Fähigkeiten klammern konnte, solange er Kriminal-Geschichten wie "Der Mord in der Rue Morgue" zu schreiben vermochte, in welcher Poe mit einem analytischen Geist die Kriminalfälle lösen ließ, hoffte er, den Dämon des Wahnsinns im Zaun halten zu können.

Poes romantische Seite

Bislang wurde zu wenig Augenmerk auf die Tatsache gelenkt, dass Poe in vielen Texten deutliche Bezüge zu der Ideenwelt der Romantik herstellte.
Und damit ist nicht das herkömmliche Bild von Romantik gemeint, welches in verzerrter Form die Inhalte der romantischen Strömung falsch wiedergibt.

Es gibt Liebesgedichte in Poes Schaffenswerk, doch diesen mangelt es an jeder Trivialität, mit der heute der Begriff "Romantik" besetzt ist. Mit ihnen geht stets auch eine schwarze Melancholie einher.
Es geht auch nicht um das Aufzeigen von romantischen Motiven, Versatzstücken und dergleichen in Poes Geschichten. Zugegeben - dort finden sich die meisten Elemente der Romantik, und insbesondere der Schwarzen Romantik, wieder - das verfallene Herrenhaus, die Ruine, die mysteriöse Geliebte, nekrophile Tendenzen, die Sehnsucht nach einem goldenen Zeitalter, die Liebe über den Tod hinaus, die Betonung der Nacht und der menschlichen Nachtseite. Aber Poe benutzt all diese Elemente auf eine andere Weise als die europäische Romantik.
Die Motive und Szenen sind für ihn Chiffren und Metaphern eines Seelenzustands, wodurch er dem Romantiker E.T.A Hoffmann - ebenfalls ein Ausnahmefall - nahe steht. Als bestes Beispiel mag hierfür gelten, dass das verfallene Herrenhaus in Poes "Der Untergang des Hauses Usher" mit dem körperlich-geistigen Verfall seiner Bewohner korrespondiert.

Poes Geist lebt weiter

Wie schon erwähnt setzte eine allumfassende Poe-Rezeption erst durch die Wiederentdeckung des Amerikaners Poe durch den Franzosen Charles Baudelaire ein, der das Werk Poes ins Französische übersetzte. Die Poe-Rezeption ist seitdem fast ungebrochen.
Im BLITZ-Verlag erschien im Jahr 2002 eine Anthologie mit Kurzgeschichten deutscher und internationaler Autoren, welche dem Meister des literarischen Grauens Respekt zollten, indem sie Geschichten schrieben, die poesche Motive und Themen aufgriffen und im eigenen Stil weiterführten, um dabei nicht zum Plagiat zu werden. Durch den Erfolg der Anthologie "Jenseits des Hauses Usher" angespornt, wurde im BLITZ-Verlag eine neue Buchreihe konzipiert, welche dem literarischen Andenken von Poe gewidmet ist und ihn als Paten für anspruchsvolle Phantastik junger und alter deutscher, sowie internationaler Autoren sieht.
"Edgar Allan Poes Phantastische Bibliothek" soll nicht dem Epigonentum Vorschub leisten, sondern vielmehr innovativer anspruchsvoller Phantastik-Literatur eine Chance zur Veröffentlichung bieten, welche abseits des Mainstreams eines Stephen Kings oder Dean Koontz existiert.

Die Zukunft?

Sir Arthur Conan Doyle schrieb einmal sinngemäß, dass, wenn jeder Autor, der von Poe beeinflusst ist, einen Zehnten für ein Denkmal von Poe hergeben müsste, das ein Monument von der Höhe der Cheops-Pyramide ergäbe.
Dem kann ich nur zustimmen. Meiner Ansicht nach lebt der Geist von Poe mittlerweile nicht nur in der Literatur fort, sondern belebt auch auf moribunde Weise - welch Paradoxie - andere Kunstformen, wie z.B. die bildenden Künste oder den dramatischen Bereich. Sogar die relativ neue Kunstform des "Comic" erbietet dem Altmeister des literarischen Schreckens ihre Referenz, indem beispielsweise Richard Corben ein Album gestaltete, in dem er Kurzgeschichten von Edgar Allan Poe umsetzte.
Ich bin mir sicher, dass jede Zeit ihre eigene Form der Poe-Rezeption findet und könnte deshalb als ein Poe-Enthusiast beruhigt einschlafen, wären da nicht diese Träume, in denen ich in einer länglichen Kiste unter der Erde liege, unbeweglich und starr, aber dennoch nicht tot...



Markus K. Korb
Lebenslauf und Veröffentlichungen

Markus K. Korb wurde 1971 in Werneck bei Schweinfurt (Unterfranken/Bayern) geboren. Er veröffentlichte seine Erzählungen zunächst in zahlreichen Literaturmagazinen und Anthologien. Im Jahr 2002 betätigte er sich als Herausgeber der Anthologie "Jenseits des Hauses Usher" (Blitz-Verlag), wo er Storybeiträge zusammentrug, geschrieben von deutschen Autoren als Hommage an Edgar Allan Poe.
Von 2003 - 2006 betätigte er sich als Redakteur der Buchreihe "Edgar Allan Poes Phantastische Bibliothek" (Blitz-Verlag), wo er u.a. für die Textauswahl zuständig war.
Sein erstes eigenständiges Buch erschien im Jahr 2003. Es ist die Konzeptanthologie "GRAUSAME STAEDTE" (Blitz-Verlag). In zwei Zyklen vereinen sich Kurzgeschichten zu einem Gewebe aus unheimlichen Städtebildern (Venedig und Berlin), welche durch die Jahrhunderte bis in archaische Zeiten hinabreichen. Mehr dazu unter: www.blitz-verlag.de
Im Mai 2005 erschien im Eldur-Verlag (www.eldur-verlag.de) die Kurzgeschichten-Sammlung mit dem Titel "NACHTS...". Die darin enthaltene Erzählung "Joanna" erhielt den Ersten Preis des Marburg Awards 2004.
Dem folgte im April 2006 das Buch "INSEL DES TODES" im Verlag Eloy Edictions. Es enthält elf Gespenstergeschichten, darunter zwei längere Novellen. Mehr dazu unter: www.eloyed.com
Im Mai 2007 erschien mit "WASSERSCHEU" im Atlantis-Verlag eine Sammlung, in welcher ausschließlich Sommer-Horror-Storys präsentiert werden. www.atlantis-verlag.de
Diesem zog ein Episodenroman in Zusammenarbeit mit Tobias Bachmann nach, sein Titel: "Das Arkham-Sanatorium" (Oktober 2007; Atlantis-Verlag).
Anfang 2008 folgte die Veröffentlichung der Konzeptanthologie: "Grausame Staedte 2" im Blitz-Verlag.
Für die Erzählung "Der Schlafgänger" (aus: "GRAUSAME STAEDTE") erhielt Markus K. Korb den DEUTSCHEN PHANTASTIK PREIS 2004 in der Kategorie "Beste Kurzgeschichte".

     


zurück