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ZEITWEISE ZEITLOS - AUS JUNGEN ZEITEN


von Andreas Leder



Die Existenz der meisten Universen lässt sich grob in zwei Teilen betrachten. In der ersten halben Ewigkeit nehmen sie an Größe zu, in der zweiten Hälfte werden sie wieder kleiner. In den verschiedenen forschenden Zivilisationen wurden für alle diese Vorgänge Namen vergeben. Vom Urknall oder Big Bang über den Big Rip zum Big Crunch, von der Hitzegeburt bis zum Hitzetod.
Die Einen sehen göttliches Wirken, die Anderen astrophysikalische Vorgänge. Lebewesen, die an Planeten gebunden sind, sehen darin immer etwas Besonderes. Sie forschen und entdecken, stellen falsche und richtige Fragen, erhalten wahrscheinliche und mögliche Antworten und können doch niemals den Kreislauf von Entstehen und Vergehen durchschauen.
Nur Aeternus weiß, wie viele Universen es gibt. Als ich ihn bei einer Gelegenheit fragte, lachte er nur, sagte dann aber ganz ernst: "Es sind tatsächlich mehr, als du dir vorstellen kannst, Aequalis." Damit war ich nicht wirklich zufrieden und fragte noch einmal nach. Doch er sagte er nur: "Sei froh, dass dein Arbeitsgebiet hier ist. Draußen, am Rand, wo die Zeit noch jung ist, da hättest du viel mehr zu tun."
Tatsächlich konnte ich mich über zu viel Arbeit nicht beschweren. Ich hatte genug Zeit für mich. Hin und wieder griff ich ein um die eine oder andere Anomalie zu beseitigen. Überarbeitet war ich sicher nicht. Ein bisschen mehr Aufgaben hätte ich schon gerne.
"Könnte ich mich dort nützlich machen?" wollte ich von Aeternus wissen.
"Ja, schon", meinte er, "aber ich möchte einen guten Zeitwächter, wie dich, nicht verlieren."
"Wieso verlieren?"
"Dort draußen, am Rand der Zeit, hättest du mehr als genug Arbeit, deine Existenz wäre ein permanenter Überlebenskampf. Dort sind die Anomalien so stark, dass einer alleine mit ihnen nicht leicht fertig wird. Sie arbeiten dort in Gruppen, manchmal vier bis sechs Zeitwächter gemeinsam!"
Das stellte ich mir aber gut vor. Die Einsamkeit hätte dann ein Ende. Man könnte zwischendurch ein bisschen zusammensitzen und sich unterhalten, Geschichten und Erfahrungen austauschen.
"Glaube nicht, dass du dort Zeit für eine gemütliche Plauderstunde hättest. In dem Moment, in dem du nicht aufpasst, hat die ein Zeitloch verschluckt oder ein Gravitationsblitz in deine temporalen Teilchen zerlegt. Da draußen haben die Zeitwächter keine Namen. Es würde sich nicht auszahlen, sie zu benennen. Sie vergehen so schnell, wie ich sie hinschicke."
Die Gefahr konnte mich nicht schrecken. Ich war fasziniert, von dem Gedanken, endlich einmal mehr tun zu können. Und Aeternus sah es mir an. Zuerst lehnte er ab. Ich bedachte ihn mit einem Blick, der so viel hieß wie "das kann doch nicht dein letztes Wort sein". Er schüttelte den Kopf. Ich sah ihm fest in die Augen. "Ich kann das, Aeternus. Ich werde nicht vergehen. Und wenn es mir tatsächlich zu viel wird, dann holst du mich zurück."
Er lächelte mich schief an. "Hinschicken kann ich dich schon, zurückholen nicht." Jetzt war ich tatsächlich erstaunt. Es konnte doch nicht sein, dass Aeternus so etwas wie einen Transport quer über ein paar Universen hinweg nicht zusammenbrachte. Er sah die Verwunderung in meinem Gesicht. "Du kannst mich hinschicken, aber nicht zurückholen? Wieso nicht?"
"Weil sich die Zeit erst manifestieren muss, Aequalis. Mit der jungen Zeit kann man nicht so umgehen, wie hier, wo alles seinen angestammten Platz hat. Oftmals musst du den einzelnen Zeitströmen und Zeitflüssen erst die richtige Richtung geben. Sie müssen gelenkt und zusammengeführt werden, damit Raum und Zeit für ein neues Universum entstehen können." Die Pause, die er einlegte, diente nicht der Spannung - ich sah ihm an, dass er überlegte.
"Ich könnte doch einige unbrauchbare Zeitsplitter mitnehmen. Du weißt, auf der Müllhalde der Zeit liegt einiges herum, das am Rand der Zeit vielleicht nützlich sein könnte." Wieder lächelte er mich an, wie der Vater seinen einfältigen Sohn.
"Nein, du kannst nichts mitnehmen. Das einzige, worauf du dich dort verlassen kannst sind deine Sinne und deine Kräfte."
"Bitte, ich fühle mich hier" - ich suchte das richtige Wort - "unterfordert. Ich weiß, dass ich mehr kann. Aeternus, bitte!"
"Ich sehe schon, du lässt dich nicht abschrecken. Überlege trotzdem, vielleicht ist es das letzte Abenteuer deiner Existenz. Willst du das? Willst du das wirklich?" fragte mich Aeternus jetzt direkt.
Ich brauchte nicht lange zu überlegen. Wer wollte nicht das ultimative Abenteuer erleben, den letzten Kick verspüren.
"Ja, ich will das wirklich. Schicke mich bitte jetzt."
"Nein, jetzt kann ich dich noch nicht schicken. Wer würde denn die Arbeit in deinem Gebiet übernehmen. Ich muss deinen Bereich neu aufteilen. Du musst dich noch etwas gedulden."
Und weg war er.
Okay, ich hatte eine Zusage von ihm. Wortbrüchig war er sicher nicht - so weit kannte ich ihn schon. Nun wollte ich mich vorbereiten. Aeternus' Aussagen zu Folge würde ich viel Kraft brauchen. Nun, daran sollte es nicht scheitern.

Einige Zeit verging. Ich steckte ein, was ich meinte, brauchen zu können. Einen Zeitsplitter da, einen Zeitkiesel dort, eine Hand voll Ankerpunkte, ein paar Zeitvektoren. Ich hätte ja noch gerne einen dieser legendären Zeitschilde mitgenommen, aber in all den Ewigkeiten und Universen, in denen ich gesucht hatte, war es mir nicht vergönnt gewesen, mehr als nur ein paar Gerüchte darüber zu erfahren. Schwamm drüber - ich musste mich eben auf mich selbst verlassen.

Es dauerte geraume Zeit, dann hörte ich Aeternus fragen: "Bist du bereit, Aequalis, für deinen Einsatz am Rand der Zeit?"
"Ja, ich bin bereit", antwortete ich enthusiastisch. Schnell nahm ich noch den Beutel mit den Zeitsplittern an mich, dann spürte ich, wie ich davon geschleudert wurde. Während des Transports verlor ich total den Zeitbegriff - und das will bei einem gut ausgebildeten und erfahrenen Zeitwächter, wie mir, etwas heißen.
Kaum spürte ich, dass der Transfer vorbei war, geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Der Beutel mit den Zeitsplittern in meiner Hand explodierte wie eine Bombe. Die Zeitvektoren, die ich eingesteckt hatte machten sich selbständig, bohrten sich durch meine Taschen und flogen wie Pfeile in alle Richtungen davon. Auch die Ankerpunkte, die mit hätten helfen sollen, die Zeitvektoren zu befestigen, zischten in alle Richtungen fort und zerstoben in einem wahren Feuerwerk.
"Mist", schimpfte ich in Gedanken. Ich hätte doch auf Aeternus hören und nichts mitnehmen sollen.
Schon spürte ich den Zeitfluss rund um mich, doch nicht so, wie ich es gewöhnt war. Alles lief irgendwie kreuz und quer. Da waren keine geordneten Bahnen. Löcher, Senken, Hügel und Wirbel waren in stetiger Bewegung. Sie lösten sich gegenseitig auf oder schaukelten sich hoch und schon spürte ich in meiner unmittelbaren Umgebung einen Zeitschlund entstehen. Mit aller Kraft griff ich zu und verhinderte ihn. Kaum aber hatte ich ihn gebändigt, spürte ich eine große Welle, fast wie eine Mauer auf mich zu kommen. Gleichzeitig spürte ich auch, dass die Welle beeinflusst wurde. Ohne mein Zutun teilte sie sich vor mir und lief hinter mir aus. Es war richtig angenehm, sie in Ruhe davon fließen zu spüren.
Jetzt standen sie vor mir. Zwei Zeitwächter, ein Mann und eine Frau. Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah mich strafend an. "Na, Frischling, du hast ja ein schönes Feuerwerk veranstaltet, bei deiner Ankunft. Hat dir Aeternus nicht gesagt, dass du nichts mitbringen darfst?"
Ich war so verwundert von ihrem Anblick, dass ich einen Moment nicht auf unsere Umgebung achtete. Da war es auch schon geschehen. Eine Zeitfalte stülpte sich über uns und schloss uns ein. Ich suchte zuerst den Ausgang, aber da war keiner.
"Warte", mischte sich nun der andere Zeitwächter ein. Er gab ihr die Hand und schon hatten sie ein Loch in die Wand aus Zeit getrieben, durch das wir hinausstiegen. Mit einer lässigen Handbewegung glätte ich die Anomalie und wir standen wieder in dieser urwüchsigen und wilden Zeitlandschaft.
Diesmal passte ich besser auf. Ich lud sie zu einem kurzen Erfahrungsaustausch ein, nebenbei glättete ich den Zeitstrom in unserer Nähe, sodass wir Zeit hatten, ein paar Sätze auszutauschen.
"Ich bin Aequalis. Aeternus hat mich hergeschickt, weil ich es so wollte."
"Ah, du bist einer von den Alten. Na ja, vielleicht schaffen wir es auch in eine ruhigere Zeit, so wie du. Wie machst du das übrigens?" wollte sie wissen und meinte damit, wie ich den Zeitstrom glättete.
Ich reichte ihr die Hand und jetzt konnte sie es auch.
"He, das ist toll - wo hast du das gelernt?"
Was sollte ich jetzt sagen. Ich habe es schon immer gekonnt, so weit ich mich zurückerinnerte. In meinem alten Gebiet hatte ich das fast nie tun müssen, dort floss die Zeit sowieso ziemlich ruhig und gleichmäßig dahin.
Ich sagte also nichts und gab dem anderen Zeitwächter ebenfalls die Hand. Er spürte jetzt auch, wie ich es machte und tat es mir nach.
Nun war es auch für mich leichter und wir konnten unsere Unterhaltung fortsetzen. Sie hatten tatsächlich keine Namen und so beschloss ich die Zeitwächterin Ginger und ihren Begleiter Fred zu nennen. Diese Namen hatte ich in einem der Universen, das in meinem früheren Gebiet lag, zufällig aufgeschnappt.
Zu dritt hatten wir tatsächlich leichtes Spiel mit den ganzen Anomalien und zeitlosen Zonen in unserer Umgebung. Meine Sinne reichten hier allerdings nicht so weit, wie ich es von früher her gewöhnt war. Nun, darauf konnte ich mich einstellen.
Da ich der ältere und erfahrenere Zeitwächter war, wurde ich quasi automatisch zum Anführer unserer kleinen Gruppe, dabei betrachtete ich mich aber eher als Erster unter Gleichen und nicht als Anführer, der das Sagen hatte.
Die Zeit war wild und schön und wir konnten uns immer wieder austauschen. Ich war nicht mehr Einsam, und das beflügelte mich. Wir schafften es tatsächlich, die zeitlosen Bereiche aufzufüllen, den Zeitstrom in einem großen Gebiet zu beruhigen und in vernünftige Bahnen zu lenken. Ich spürte, dass sich alles weiter entwickelte und schon bald würde hier ein neues Universum entstehen. Das würde die Krönung unserer erfolgreichen Arbeit sein.
"Musst du alles übertreiben, was du anfasst, Aequalis?" hörte ich eine wohl bekannte Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und schaute in die unergründlichen Augen von Aeternus.
"Oh, Aeternus!" ich war tatsächlich überrascht. "Willst du damit jetzt sagen, dass ich nicht anständig gearbeitet habe?"
"Du hast leider mehr getan, als notwendig gewesen wäre."
"Das verstehe ich aber jetzt nicht."
Da berührte er mich mit einem Finger an der Schulter und für den Bruchteil eines Moments nahm ich an seinen Wahrnehmungen teil. Es war, als würde ein urgewaltiger Blitz voller Eindrücke in meinem Kopf einschlagen und mich mit seiner Wucht zu Boden schleudern. Nach dem ich diese Flut an Wahrnehmungen verdaut und in meinen Gedanken geordnet hatte, verstand ich auch, was er meinte.
Ginger, Fred und ich hatten tatsächlich zu gute Arbeit geleistet. Wir hatten den jungen Zeitstrom so weit und leider viel zu schnell in die unbekannten Bereiche hinaus geführt, dass er jetzt drohte, instabil zu werden, denn die anderen Zeitwächter, rund um uns, waren natürlich nicht so gut gewesen, wie wir drei. Weil der Zeitstrom da draußen sich aber nicht halten konnte, begann er sich zurückzubewegen, zurück in bekannte Bereiche. Dadurch drohte aber eine Zeitschleife ungeahnten Ausmaßes. Und wenn es einmal um mehr als ein Universum ging, konnte wirklich nur mehr Aeternus helfen.
Ich musste in qualvollen Augenblicken miterleben, wie er den von uns mühsam gebändigten Zeitstrom wieder auflöste, die verlorenen Zeitquanten in seine Taschen steckte und meinen zwei jungen Partnern viel von ihrem neu erworbenen Wissen nahm.
Dann spürte ich, wie er mit seinen Sinnen nach mir griff und wir uns nach einer Zeitspanne, die ich nicht bestimmen konnte, in einem Bereich wiederfanden, wo der Zeitstrom langsam und gemächlich dahin floss.
"Hier bist du besser aufgehoben", sagte er noch, dann war er wieder fort.
"Verdammt", dachte ich bei mir, "das hast du ja toll verbockt."
Jetzt hatte ich tatsächlich wieder mehr Zeit, als mir gefiel.


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