STORIES


DER FLUCH DER EULEN


von Susanne Stahr



Rigunthis

Der Regen strömte wie ein grauer Schleier vom ebenfalls grauen Himmel und verbarg fast die triefende Gestalt, die sich, ihr Pferd am Zügel hinter sich her ziehend, durch den Matsch quälte. Bei Sonnenschein mochten die sanften Hügel Tervonens einen gewissen Reiz ausüben. Doch davon sah der einsame Wanderer nichts. Den Blick starr auf den Boden gerichtet, stapfte er mechanisch dahin.
Ein grauer Wollumhang mit Kapuze umhüllte einen sehnigen Körper. Nur die schwarzen Stiefel wurden bei jedem Schritt sichtbar. So schritt er still dahin und verlangsamte sein Tempo auch nicht als das Gelände merklich anstieg.
Ein dunkler Schatten krönte die kleine Anhöhe. Als der Wanderer näher kam, erkannte er eine riesige Platane, die ihr dichtes Geäst schützend nach allen Seiten ausstreckte. Drei Meter im Umkreis des gewaltigen Stammes war die Erde trocken. Ein weicher Teppich aus abgefallenen Blättern vom Vorjahr lud zum Rasten ein.
Der Wanderer schälte sich aus dem nassen Umhang und breitete diesen über einen waagrechten Ast. Dann schüttelte er sich wie ein nasser Hund. Erst jetzt konnte man erkennen, dass es sich um eine Frau handelte. Ihr goldbraunes Gesicht mit den schräg gestellten, schwarzen Augen hätte hübsch wirken können, wäre es nicht von einer Hasenscharte verunstaltet gewesen. Ein schwarzer Zopf hing fast bis zu ihrer Mitte, wo an einem breiten Gurt ein Schwert und ein Dolch hingen. Eine schwarze Lederrüstung und graue Wollhosen komplettierten die Kleidung der Kriegerin.
Nachdem sie ihr Pferd versorgt hatte, ließ sie sich mit einem Seufzer nieder und lehnte den Rücken gegen den mächtigen Stamm. Lange saß sie schweigend da und lauschte dem Trommeln des Regens auf dem Blätterdach. Endlich hörte es auf und die untergehende Sonne schickte der einsamen Kriegerin noch ein paar wärmende Strahlen.
Erst jetzt legte sie ihren Lederpanzer und die kurze, graue Tunika, die sie darunter trug, ab. Ein Zischen kam über ihre gespaltenen Lippen als sie den linken Arm aus dem Ärmel zog. Ein etwas verschmuddelter Verband lag um ihren linken Unterarm. Vorsichtig tastete sie den Arm ab und nickte dann zufrieden.
Aus einer Satteltasche holte sie ein Stück Brot, Trockenfleisch und einen Wassersack und begann zu essen. In Gedanken ging sie dabei eine Liste durch. Seit gestern war diese um einen Namen kürzer. Ja, er war ein starker Gegner gewesen, wendig und sehr erfahren. Dennoch hatte sie ihn besiegt. Es war immer dasselbe. Zuerst die Überraschung, dann das Erkennen, als Nächstes der Triumph, wenn er ihr Blut fließen sah und zum Schluss die Angst, wenn ihr Opfer die Unausweichlichkeit des Todes erkannte. Ihr Preis war eine kleine Wunde am linken Arm. Ein wenig Blut für die Rachegöttin, damit sie ihr das nächste Opfer offenbarte.
Sie schlüpfte wieder in ihre Kleidung und rollte sich zwischen den Wurzeln der Platane zusammen. Bald fielen ihre Augen zu.

"Rigunthis!" Widerstrebend erhob sie sich von dem Blumenbeet, das sie gerade gejätet hat und ging gehorsam in die Hütte. Der Duft zahlloser Kräuter hüllte sie ein.
Inmitten von zahllosen Töpfen und Tiegeln saß Garelis, die alte Kräuterfrau. Ihre runzligen Hände hielten einen bronzenen Mörser. "Bring mir eine Handvoll Birkenblätter, eine kleine Staude Brennnessel und drei Schafgarbenstängel."
Die junge Frau nickte und lief in den Kräutergarten. Ohne zu zögern sammelte sie das Gewünschte und brachte es der Alten. Ihre Hände fragten: "Darf ich wieder zu meinen Blumen?" Rigunthis konnte nicht sprechen. Eine Hasenscharte, die sich am Gaumen als Wolfsrachen fortsetzte, verhinderte dies.
Ihre Mutter wollte sie töten als sie die Entstellung sah. Aber Garelis nahm das Neugeborene zu sich und zog es auf. Die alte Kräuterfrau lehrte das Mädchen alles, was sie über Kräuter und Heilkunde wusste. So war sie ihr Mutter und Lehrerin zugleich.
Rigunthis war nicht magisch begabt, aber sie würde dem Dorf trotzdem gute Dienste leisten können, wenn Garelis einst heimging zur Großen Mutter.
"Geh nur", nickte die Alte lächelnd. "Achte aber auf Staubwolken", mahnte sie dann ernst. "Die Wächter haben Reiter gesehen."
"Ich werde aufpassen", sagten Rigunthis Finger, aber ihr Sinn war schon wieder bei ihren Stiefmütterchen und Ringelblumen.
Sie kamen in der Abenddämmerung. Zwei Dutzend wilde Männer, die nach Schweiß und Blut stanken. Ihre Gier nach Gold und Frauen trieb sie an. Sie waren vom Festland übergesetzt, denn keiner von ihnen besaß die dunklen Mandelaugen der Inselbewohner. Einige hatte sogar helles Haar.
Während die Hauptmacht das Dorf überfiel, fanden fünf von ihnen die etwas abseits stehende Hütte der Kräuterfrau. Die zwei Frauen saßen gerade beim Abendbrot als die Räuber johlend herein stürmten. Die Alte warf einen Todeszauber auf sie, der den ersten Mann fällte, dann fuhr ihr ein Dolch in die Brust.
Rigunthis stach zwei Räuber nieder, bevor sie überwältigt werden konnte. Ein Faustschlag betäubte sie für eine Weile. Als sie wieder zu sich kam, war sie nackt und mit gespreizten Armen und Beinen auf den Boden gefesselt Ein stinkender Kerl lag auf ihr während er von seinen Kameraden angefeuert wurde. Als er fertig war, bestieg sie der Nächste und dann noch einer und noch einer. Irgendwann wurde sie bewusstlos.
"Wach auf, mein Kind", drang eine vertraute Stimme durch das Meer von Schmerzen, in dem sie schier ertrank. Mühsam richtete sie sich auf und öffnete ein geschwollenes Auge. Die Hütte war ein rauchender Trümmerhaufen, der Garten verwüstet.
Die alte Garelis kauerte neben ihr und setzte eine Schale an ihre Lippen. "Trink das. Es wird dich stark machen."
Gehorsam schluckte sie den süßen Trank. Fast augenblicklich schwanden die Schmerzen. Die Wunden an ihrem Körper schlossen sich, eingeschlagene Zähne fügten sich wieder zusammen, blaue Flecken verschwanden. "Das Dorf'?", deutete sie ängstlich.
Garelis schüttelte den Kopf. "Alle tot. Auch ich werde bald sterben. Du musst ..."
Die junge Frau schüttelte heftig den Kopf und griff nach der Schale. Sie war leer. "Mach noch mehr davon", baten ihre Finger.
"Nein, Rigunthis, meine Zeit ist gekommen. Du musst auf die Hauptinsel zum Grafen gehen und ihm den Überfall melden."
Die geschmeidigen Hände protestierten. "Ich werde dich gesund pflegen", sagten sie.
Da richtete sich die Alte ein wenig auf und Rigunthis sah den Dolch in ihrer Brust stecken. Entsetzt begriff sie, dass nur Magie die alte Frau am Leben hielt.
"Ich werde gehen", signalisierte sie.
Da sank die Greisin in sich zusammen. Unter Tränen begrub Rigunthis den einzigen Menschen, der sie je geliebt hatte. Es waren die letzten Tränen, die sie seither geweint hatte.
Dann ging sie, innerlich versteinert, ins Dorf. Ja, das Dorf, das jetzt nur noch aus rauchenden Trümmern bestand. Zielsicher ging sie zum Waffenkeller, der Toten nicht achtend, die auf ihrem Weg lagen. Die Räuber hatten ihn nicht entdeckt. Dort nahm sie Waffen und Rüstung an sich, auch den kleinen Schatz an Münzen, der dort für den Steuereintreiber des Grafen bereitlag.
Mit einem kleinen Boot überquerte sie die Meerenge zur Hauptinsel und ging zur Burg des Grafen. Als sie im Burghof die ganze Bande eine Orgie feiern sah, floh sie in den Tempel der Namenlosen Rachegöttin. Lange stand sie vor der schlangenhaarigen Statue mit den acht Armen. Acht Arme und in jeder Hand eine Form des Todes: Schwert, Dolch, Stock, Beil, Speer, Schlagring, Würgeschnur und Giftflasche. Wie sollte sie ihre Bitte vortragen? Mit den Händen?
Da senkte sich das marmorne Haupt und eine Schlange biss in ihr Handgelenk. "ich werde dich führen", dröhnte eine unmenschliche Stimme in ihrem Kopf. "Du wirst mir für jeden Mann etwas von deinem Blut geben." Gleichzeitig erschienen Gesichter in ihrem Geist und eine Liste mit fünfzehn Namen auf. Schon in der nächsten Nacht schnitt sie sechs Männern die Kehlen durch und ritzte ihnen die Rune der Ehrlosigkeit auf die Stirn, bevor eine Wache sie entdeckte. Im darauffolgenden Durcheinander gelang ihr die Flucht. Damit war Rigunthis gestorben. Ab jetzt gab es nur noch die Wölfin. Sie wurde zur gefürchteten Kriegerin, die ihr Schwert für Gold schwang. Daneben suchte sie nach ihren Schändern. Mit Erfolg. Nur noch vier Namen standen auf der Liste.
Unwillig knurrend schlug die Kriegerin die Augen auf und rollte sich herum. Mitternacht war kaum vorüber. Dieser Traum suchte sie jedes Mal heim, nachdem sie einen ihrer Peiniger getötet hatte. Auch das war ein Preis ihrer Rache.
Was nicht zu ihrer Abmachung mit der Rachegöttin gehörte, war etwas Spitzes unter ihrer Hüfte. Ärgerlich tastete sie danach. Ihre Hand fand einen flachen, runden Gegenstand von der Größe ihrer Handfläche aus Metall. Ohne zu denken steckte sie die Scheibe in ihre Satteltasche und schlief weiter.

Araxo

Wie durch Butter glitt das kleine Messer durch die Lederriemen und schon fiel der Beutel in Araxos Hand. Im nächsten Moment verschwand er auch schon im Wams des drahtigen, jungen Mannes. Ein unauffälliger Rundblick zeigte ihm, dass der Diebstahl niemandem aufgefallen war. Das Gedränge auf dem Marktplatz von Gromore war für Beutelschneider geradezu ideal. Frech stellte er sich neben den ältlichen Gecken, den er gerade um seine Barschaft erleichtert hatte. Der bewunderte gerade ein bunt besticktes Seidenjäcken.
"Es ist wie für Euch gemacht, Euer Gnaden", beteuerte der Händler. "Für ein Goldstück gehört es Euch."
"Ich weiß nicht recht", meinte der Geck zögernd und zupfte an seinem gezwirbelten Schnurrbart. Suchend sah er sich um und wandte sich dann Araxo zu. "Was meinst du? Passt es zu mir?" Seine manikürte Hand spielte dabei auf unmissverständliche Art mit Araxos Locken.
Der junge Mann räusperte sich und tat überrascht. "Oh, Euer Gnaden! Ich bin nur ein armer, dummer Junge." Sanft befreite er sein Haar. Wenn ich mir aber ein Urteil erlauben darf..., das Jäckchen passt ganz ausgezeichnet zu Euch. Nur der Preis ist ein wenig hoch."
Missmutig zog der Händler die Brauen zusammen und murmelte undeutlich: "Tunte!"
Grinsend fuhr Araxo fort: "Hängt da nicht ein Faden weg? Und diese Naht. Ist die nicht ein wenig schief?"
"Das kann ich ganz schnell in Ordnung bringen", beeilte sich der Händler zu beteuern, während er Araxo wütende Blicke zuwarf. "Darf ich Euer Gnaden in mein Zelt einladen. Dort könnt Ihr das Jäckchen anprobieren und ich kann gleich die Änderungen vornehmen." Eine einladende Geste bugsierte den Gecken in das Zelt. In Araxos Richtung zischte er: "Verschwinde, du Hurensohn!"
Der junge Mann erstarrte. Sein plötzlich bleich gewordenes Gesicht verzerrte sich vor Wut. "Niemand nennt mich ‚Hurensohn'", quetschte er zwischen den gefletschten Zähnen durch. Sein Messer fuhr blitzschnell über die Wange des Händlers.
"Hilfe! Mörder", brüllte dieser und drückte ein weißes Leinentuch gegen die Wunde.
Da stürzte der Geck aus dem Zelt und kreischte: "Mein Beutel! Haltet den Dieb! Hilfe Wachen!"
Araxo tauchte unter dem Tisch eines Waffenhändlers durch, stieß einen Wasserträger beiseite und rannte auf die Häuser am Rande des Marktplatzes zu. Tausend Hände wollten ihn aufhalten. Doch er wich geschickt aus, verpasste einem dicken Fischhändler einen Nasenstüber, griff einer Matrone an den mächtigen Busen und zog einem Kauflustigen den Hut übers Gesicht. Zu guter Letzt warf er einer Wache, die auf das Geschrei der Leute aufgetaucht war, einen überreifen Pfirsich ins Gesicht. Damit stiftete er ausreichend Verwirrung um eine schmale Gasse zu erreichen.
Hier waren viel weniger Menschen unterwegs. Araxo sprintete los. Seine weichen Halbstiefel verursachten fast kein Geräusch auf dem Pflaster. Auch der gefältelte Kilt und das lockere Wams eigneten sich gut zum Laufen. Sein schulterlanges, blondes Lockenhaar flatterte hinter ihm her.
Die schweren Stiefel der Wachen trampelten trotzdem unangenehm nahe hinter ihm. Da! Eine Abzweigung! Araxo flitzte hinein und musste gleich über zwei kleine Kinder springen, die mitten auf der Straße saßen und eine Melone aßen. Hier zeugten abgefallener Putz und gesprungene Fensterscheiben von der Armut der Bewohner.
Araxo warf einen schnellen Blick hinter sich. Die Wachen bogen gerade um die Ecke. Eine Frau leerte einen Eimer Schmutzwasser aus dem Fenster und verfehlte die Wachen nur knapp. Wütend verfluchten sie die Frau. Araxo grinste und rannte um die nächste Ecke, tiefer hinein in das Armenviertel Gromores. Die Häuser wirkten immer verwahrloster. Manche waren nicht mehr als Ruinen. Schnell schlüpfte er durch ein Tor, das nur noch an einer Angel hing.
Eine Kammer voll Unrat lag vor ihm. Leere Fensterhöhlen gaben den Blick auf einen verwilderten Garten frei. Das war aber nicht Araxos Ziel. In einer Ecke gab es ein altes Bettgestell, das am Kopfteil zusammen gebrochen war. In der aufgeplatzten Matratze nisteten Mäuse.
Der junge Dieb hob ein loses Brett am Fußende des Bettes hoch. Modergeruch schlug ihm aus einem Erdloch entgegen, das etwas tiefer als er groß war. Von der Straße klangen die Rufe der Wachen.
"Du musst mir helfen, Rungor", flüsterte er und sprang in das Loch. "Ich brenne eine Kerze für dich ab." Das Brett schob er nur unzureichend über die Öffnung.
Aus einer Nische zog er den vertrockneten Leichnam eines alten Mannes und legte ihn auf den Grund des Schachts. Der Tote, in ein fadenscheiniges Hemd gekleidet, hatte die Knie an die Brust gezogen und die Arme darum geschlungen. Das schillernde Mal auf seiner Stirn deutete darauf hin, dass er durch Magie gestorben war oder deshalb nicht verweste. Araxo rechtfertigte sein Tun damit, dass er der Seele des Toten durch eine Kerzenspende Ruhe erkaufte.
Jetzt drückte er sich in die Nische und versuchte möglichst flach zu atmen. Uber ihm ächzten die alten Bretter unter den Schritten der Wachen.
"Er ist in diesem Haus verschwunden", hörte er einen der Männer sagen. "Ich hab's genau gesehen."
"Ich auch", stimmte ihm ein anderer zu.
"Hier ist ein Loch im Boden." Das war eine neue Stimme. Fahler Lichtschein fiel in den Schacht und verdunkelte sich gleich wieder als sich drei Köpfe über die Öffnung beugten.
"Igitt!"
Die Köpfe verschwanden wieder.
"Er muss durchs Fenster geflohen sein", vermutete einer.
"Ach, der ist längst über alle Berge", meinte ein anderer. "Gehen wir."
Das Getrampel der Stiefel entfernte sich.
Araxo rührte sich nicht. Die Wachen würden sicher noch einige Zeit in der Gegend bleiben. Seufzend machte er sich auf einen längeren Aufenthalt in dem Erdloch gefasst.
Gelangweilt, aber innerlich immer noch angespannt, blickte Araxo auf den Toten. Er nannte ihn Rungor, weil dieser Name auf den Unterarm der Leiche tätowiert war. Viermal schon hatte ihn der Tote schon vor einer Verhaftung bewahrt.
Araxos Gedanken schweiften zurück auf den Markt. Seine Finger tasteten den gestohlenen Beutel ab. Besonders dick war er nicht, aber für einige Mahlzeiten und vielleicht eine Nacht mit der kleinen Harpa müssten schon drin sein.
Dieser vermaledeite Händler! Er hatte Schuld an Araxos derzeitigen Problemen, denn er hatte ihn mit dem einzigen Schimpfwort belegt, das ihn zum Ausrasten brachte.
Hurensohn. Diese Schande begleitete ihn seit seiner frühesten Jugend. Seine Mutter versicherte ihm, dass sie sehr genau wüsste, wer sein Vater war, verriet ihm aber niemals seinen Namen. Sie schwärmte nur, dass er als einziger den Tanz der jungen Krieger tanzen konnte, obwohl sein Vater doch ein Seidenhändler war. Es war Araxos Ehrgeiz gewesen, diesen Tanz ebenfalls zu lernen, das einzige Vermächtnis seines unbekannten Vaters.
Das kümmerte aber die anderen Jungen in Preoria nicht. Sie verspotteten den Vaterlosen gnadenlos. Als er noch klein war, konnte er nur weinend zu seiner Mutter laufen. Dort holte er sich aber oft nur Schelte, wenn er sie bei ihrer Arbeit störte. Araxos Mutter war keine Hure. Sie war einfach eine schwache Frau, die zu keinem Mann ‚Nein' sagen konnte. Ihren Lebensunterhalt bestritt sie mit kunstvollen Stickereien.
Als Araxo größer wurde kämpfte er. Bald war er Meister mit dem Messer. Als immer mehr Jungen mit seinem Schmiss auf der Wange herum liefen, verstummten die Spötter. Man respektierte ihn als Kämpfer, aber hinter vorgehaltener Hand wurde er immer noch Hurensohn genannt. So verließ er seine Heimatstadt Preoria und tauchte in der Metropole Gromore unter.
Aus allen Ländern, ja sogar von entfernten Inseln kamen die Menschen um hierher um Handel zu treiben. Seine schnelle Auffassungsgabe ermöglichte es ihm, dass er schon nach kurzer Zeit genug von den wichtigsten Sprachen aufgeschnappt hatte, dass er als Dolmetscher fungieren konnte. Es erwies sich auch als äußerst nützlich, dass ihn seine Mutter in ihren knappen freien Stunden das Schreiben und Lesen gelehrt hatte. Gab es nichts zu übersetzen, führte er akrobatische Kunststücke vor. Fiel auch diese Möglichkeit weg, stahl er.
Wenn ihm der Boden zu heiß unter den Füßen wurde, fuhr er den Grom-Fluss hinunter in das kleine Dorf Owosso. Dort gab es einen Tempel der Heiligen Allmacht, wo jeder Pilger ohne Fragen aufgenommen wurde und bis zu dreiunddreißig Tage bleiben durfte, bei Gebet, Meditation und dem Studium der Heiligen Schriften. Eine gute Gelegenheit, Sprachkenntnisse zu erweitern. Araxo schätzte diese Aufenthalte auch, weil er dort endlich wieder einmal die Sonne sehen konnte. Denn über Gromore hing jahraus, jahrein eine Wolkendecke.
Araxo rutschte in dem Loch hin und her. Irgendetwas piekste in seine Seite. Eine Wurzel? Nein, zu hart. Ein Stein? Mit einer kleinen Verrenkung schaffte er es, eine Hand an die Stelle zu bringen. Ja, da war etwas, aber kein Stein, etwas Metallisches. Es war eine flache, runde Scheibe. Seine Finger ertasteten Schriftzeichen auf einer Seite. Später würde er sich die Sache genauer ansehen, entschied er und steckte die Scheibe zu dem Beutel in sein Wams. Sobald die Luft rein war, würde er ins Haus der Schreiber gehen. Vielleicht gab es ja ehrliche Arbeit für ihn

Mullinas

Ungehalten schnaufend lehnte sich Mullinas zurück. Auf seinem Schreibtisch türmten sich Schriftrollen und Bücher in großer Zahl. Aber das, was er suchte, war nicht dabei.
Seit mehr als zwei Monaten arbeitete er an der Übersetzung eines Textes in Alt-Gromora. Die Wörter tanzten in seinem Kopf. Es gelang ihm einfach nicht, eine Ordnung in das Chaos zu bringen. Hieß es ‚Der Emir nahm die Macht der Eulen und bannte sie' oder ‚Die Macht der Eulen nahm den Emir in ihren Bann'? immer wieder stolperte er über solche Sätze, wo eine kleine Umstellung der Worte den Sinn des Satzes veränderte.
"Ich muss ins Haus der Schreiber?" murmelte er, ging zum Fenster und blickte sinnend auf die Stadt hinab. Gedankenverloren strich seine schmale Hand über das weiße Haar, dessen goldener Glanz noch von dem früheren Blond zeugte.
Mullinas war ein kaum mittelgroßer Mann. Seine hellen Augen schienen seine seltenen Gesprächspartner oft zu durchbohren und um seinen Mund lag immer ein strenger Zug mit einem Anflug von Trauer. Eine lange Gelehrtenrobe verhüllte seinen schlanken Körper bis zu den Knöcheln. An den Füßen trug er weiche Pantoffeln aus grauem Filz.
Sein Haus war an den Hang des Boginki-Berges gebaut und von einer hohen, weißen Mauer umgeben, die auch den Garten einschloss. Ursprünglich als Wochenendhaus gedacht, hatte es Mullinas zu seinem Domizil erkoren, nachdem sein Vater, ein erfolgreicher Seidenhändler, gestorben war. Gegen eine Gewinnbeteiligung überließ er seinem jüngeren Bruder Gauros das große, schöne Stadthaus und das Geschäft. So konnte er, fernab vom Getriebe der Stadt, seine Forschungen betreiben. Der Gelehrte schätzte Einsamkeit über alles. Warum, das war sein Geheimnis, ein Stachel, der in seiner Seele brannte und ihm noch immer ab und zu schlaflose Nächte bescherte. Vor allen Menschen, selbst vor seinen Verwandten verbarg er dieses Leid. Bald nannte man ihn einen Sonderling, doch das machte ihm nichts aus.
Ein einziger Diener, der alte Logren, kümmerte sich um Haus und Garten. Das war der einzige Mensch, den er mit einer Art freundlichem Grimm um sich duldete. Vor dem Tod seines Vaters hatte er unten in der Stadt gewohnt und den Menschen als Arzt gedient. Auch jetzt erinnerten sich noch viele an seine Heilkunst. Mullinas schickte jedoch alle weg, die mit unbedeutenden Wehwehchen zu ihm kamen. Interessierte ihn ein Fall, so behandelte er ihn, in den meisten Fällen mit Erfolg. Seine Liebe galt jedoch dem Studium der alten Schriften, die er gesammelt hatte.
Mullinas Blick wanderte zu der ewigen Wolkendecke. Es sah nicht nach Regen aus. Ein Spaziergang in der frischen Luft macht den Kopf frei, dachte er und schlüpfte in seine Schuhe.
Logren rief ihm einen freundlichen Gruß zu als er durch den Garten ging. Wie üblich, antwortete er nur mit einem Brummen. Gemessenen Schrittes strebte er der nahen Anhöhe mit den drei toten Bäumen zu. Hier würde ihn niemand stören, denn dieser Ort wurde von den Menschen aus Gromore gemieden. Irgendetwas Seltsames umgab die drei Baumleichen, denn Mullinas fühlte sich hier schon nach kurzer Zeit beklommen. Blieb er länger hier, so glaubte er ein drängendes Raunen zu hören.
Zahllose Legenden tankten sich um diese Bäume. In einer heiß es, dass vor tausend Jahren in diesen Bäumen drei Eulen lebten. Ein Jäger tötete sie und gleichzeitig zog die immerwährende Wolkendecke über Gromore. Eine andere erzählte von drei magischen Schwestern, die betörend schön singen konnten. Wieder eine andere behauptete, die Bäume hätten Früchte getragen, die jede Krankheit heilen konnten. Man durfte jedoch nic den Baum ganz abernten. Eine Frucht musste hängen bleiben. Ein gieriger Magier nahm aber auch die letzte Frucht. Da starben die Bäume und Gromore sah seitdem keinen Sonnenschein mehr.
Da die Stämme sich nicht veränderten und es außerdem nicht möglich war, auch nur das kleinste Ästchen abzubrechen, würden sich noch mehr Geschichten um sie ranken. Geschichtenerzähler und Wahrsager sprachen von einem Fluch, der auf Gromore lag und irgendetwas mit den Drei Schwestern und der Wolkendecke zu tun hätte. Wiewohl viele Gelehrte diesem Phänomen auf dem Grund zu gehen suchten, keiner konnte das Rätsel lösen. Mullinas wünschte sich aus der Tiefe seines Herzens, der zu sein, der das schier Unmögliche schaffte.
Wie immer, wenn er hier her kam, betrachtete er die Rinde der vertrockneten Stämme. Die Oberfläche war glatt, samtig und zeigte ein verschlungenes Linienmuster. Jeder Stamm hatte drei Fuß über dem Boden ein faustgroßes Loch. Vor langer Zeit hatte er versuchte, in eins dieser Löcher zu greifen. Eine unsichtbare Macht hielt ihn aber zurück. Diese Bäume waren ihm ein Rätsel.
Obwohl sein botanisches Wissen überdurchschnittlich war, konnte er sich über die Art der Bäume nicht klar werden. Nirgends in Gromore, auch nicht in der weiteren Umgebung, hatte er solche Bäume gesehen. Sie ließen sich einfach nicht einordnen.
Jetzt begann das Flüstern. Es kroch auf Spinnenbeinen in seinen Kopf und wollte sich dort einnisten. Entschlossen drehte sich der Gelehrte um und wanderte zurück zu seinem Haus.
Im Garten hockte Logren, am Stumpf einer Silberpappel gelehnt, über einer kleinen Grube. Ein Bäumchen, das er wohl hier einsetzen wollte, lag daneben. Guter Logren, dachte Mullinas, was täte ich ohne ihn?
Dann stockte sein Fuß. Etwas war falsch. Er brauchte eine Weile, bis er drauf kam. Der alte Diener hatte ihn nicht gegrüßt. Das war in den dreißig Jahren, die er Logren kannte, noch nie vorgekommen. Beunruhigt ging er auf die kauernde Gestalt zu.
"Logren?", rief er fragend. Es kam keine Antwort. "Logren!" Der Alte rührte sich nicht. Mullinas tastete nach dem Puls und fand keinen.
Unverzüglich nahm er den alten Mann auf die Arme und trug ihn ins Haus. Dort bettete er ihn auf einen Diwan und untersuchte ihn gründlich. Das Ergebnis war niederschmetternd. Logrens altes Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen.
"Vielleicht kann ich dich zurück holen", murmelte Mullinas und wendete all seine Kunst an, den Alten wieder zu beleben. Vergeblich.
Mullinas sank auf einen Hocker und betrachtete das stille Gesicht mit der großen Nase. Er konnte sich noch gut an den Tag erinnern als Logren in das Haus seines Vaters gekommen war. Ein barfüßiger, junger Mann mit einem riesigen Appetit. Sein Vater, ein Großbauer, hatte seinen Hof durch eine Wette verloren und aus Gram darüber Selbstmord begangen. So suchte Logren Arbeit um sich und seine Mutter durch zu bringen. Logren hatte nie geheiratet, doch in der Stadt gab es eine Frau, die er in jungen Jahren ab und zu besuchte.
"Du sollst unter der Tamariske ruhen", entschied er und machte sich daran, den Leichnam für das Begräbnis her zu richten.
Verwundert stellte er dabei fest, dass in dem Kittel des Alten eine metallene Scheibe von der Größe einer Handfläche verborgen war. Trockene Erdkrümel klebten noch daran. Der Alte musste sie beim Ausheben des Lochs gefunden haben. Neugierig wusch Mullinas die Scheibe ab. Die eine Seite war blank, aber auf der anderen fand er Schriftzeichen. Das sah Katenisch aus, aber er war sich nicht sicher. Schon wollte er zu seinen Büchern eilen, da erinnerte er sich an seine Pflicht. Logren hatte sich ein würdiges Begräbnis verdient. Die Scheibe musste warten.
Als der Alte endlich in seinem besten Anzug vor ihm lag, entzündete er eine Kerze neben der Totenbahre und stellte eine kleine Statue des Großen Alten dazu. "Herr des Himmels und der Erde", betete er, "schütze diesen meinen Diener, denn ich muss sein Grab ausheben und kann deshalb nicht bei ihm bleiben."
Er brauchte fast bis zum Abend um ein mannstiefes Loch auszuheben. Seine Robe war schließlich mit Schweiß getränkt und auf seinen Händen hatten sich durch die ungewohnte Arbeit Blasen gebildet. Dann holte er den Leichnam. Sorgsam bettete er ihn in das Grab. Brot und Wein legte er ihm in die Hände, damit er auf der Reise zu den Lichten Höhen nicht hungern müsste. Anschließend sprach er die vorgeschriebenen Gebete, zählte alle guten Eigenschaften seines Dieners auf und bat die Geister, die Seele unverzüglich zu den Lichten Höhen zu führen. Das Zuschütten des Grabes musste er schon im Dunkeln machen.
Erschöpft, traurig, mit einem Gefühl der Verlassenheit kehrte er in sein Haus zurück. Missmutig behandelte er seine Blasen mit Salbe und holte sich dann ein Stück Brot und Käse aus der Speisekammer. Nach ein paar Bissen brachte er die Reste zurück in die Küche. Er setzte sich ans Fenster und starrte zu den Drei Schwestern, die ihre kahlen Äste wie in stummer Anklage in den sternenlosen Nachthimmel reckten. Etwas tropfte auf seine Hand und er brauchte eine Weile, bis ihm klar wurde, dass es seine Tränen waren.
Die Scheibe lag vorerst vergessen auf Mullinas' Schreibtisch.

Araxo und Mullinas

"Allvater, ich bitte dich, nimm die Seele des armen Rungor an dich", betete Araxo während er eine Kerze entzündete. Vorsichtig steckte er sie auf einen freien Dorn am Fuß der Statue. Minutenlang verharrte er vor der Gottheit. Sein Blick lag auf der Kerzenflamme und sein Sinn ruhte in seiner Mitte. So hatte er es bei den Priestern in Owosso gelernt. Alle Angst fiel von ihm ab und tiefe Ruhe breitete sich in ihm aus.
So gestärkt begab er sich ins Haus der Schreiber. Beim diensthabenden Koordinator entrichtete er die Gebühr, die ihm erlaubte sich auf die Wartebank zu setzen. Hier kannten ihn alle Koordinatoren, deshalb brauchte er seine Sprachkenntnisse nicht mehr aufzuzählen.
Sechzehn Schreiber saßen bereits auf der Bank und warteten auf Arbeitgeber. Zu viele Mitbewerber für seinen Geschmack. Araxo schnitt eine Grimasse und setzte sich ans untere Ende der Bank. Der Gang zum Tempel hatte Zeit gekostet. Trotzdem hoffte er, in den nächsten Stunden Arbeit zu bekommen. Seine scharfen Augen hatten auf dem Weg zum Tempel eine Karawane aus Kor-Selaine erspäht, die den Boginki-Berg herunter kam. Selain sprach und schrieb er fast perfekt.
Er brauchte nicht lange zu warten, da kam ein hagerer Mann mit der typischen Hakennase der Kor-Saine. "Ich brrauche vierrr Überrrsätzerrr", erklärte er mit gutturaler Stimme. "Worrrt unt Schrrrieft."
Der zweite, dritte, fünfte und neunte Mann auf der Wartebank sprangen nacheinander auf. Die anderen Schreiber rückten nach um die Lücken zu schließen.
Araxo musterte ungeniert seine Konkurrenten. Bis auf zwei kannte er alle. Sieben von den Männern, die er kannte, sprachen Selain, aber nur fünf schrieben sie auch. Er war wohl nicht der Einzige gewesen, der den Zug der Maultiere gesehen hatte. Mindestens zwanzig Kaufleute brachte die Karawane nach Gromore, schätzte er. Zumeist schlossen sich drei oder vier Händler zusammen und engagierten gemeinsam Übersetzer. Nein, seine Chancen standen nicht schlecht.
Die Schreiber vor ihm scharrten mit den Füßen. Keiner wagte auf zu stehen, da er damit seinen Platz aufgab und sich wieder hinten einreihen musste. Manche saßen sicher schon mehr als eine Stunde hier.
Araxo begann Geräusche wie tropfendes Wasser von sich zu geben. Lange hatte er geübt, um das zu vollbringen. Er musste ein Grinsen unterdrücken als er sah, dass drei Mann am vorderen Ende der Reihe unruhig hin und her zu rutschen begannen. Der Dritte in der Reihe stieß endlich ein Keuchen aus und rannte aus dem Haus. Die Anderen rutschten nach. Nach wenigen Minuten kam er wieder und setzte sich neben Araxo.
"Das zahle ich dir heim, du Mistkerl!", knurrte er.
Araxo hob mit Unschuldsmiene die Schultern und ließ sie wieder fallen. "Was kann ich dafür, wenn du eine schwache Blase hast?" Sogleich fuhr er fort, seine anregenden Geräusche zu produzieren.
"Ruhe! Coharz und Araxo", schnauzte der Koordinator. "Ein Laut noch und ihr könnt beide gehen."
Die so Zurechtgewiesenen senkten die Köpfe. Araxo grinste nun offen, verhielt sich aber still.
Wieder ging die Tür auf. Nun kamen gleich fünf Männer herein. Vier von ihnen waren eindeutig Händler. Der Erste, ein dunkelhäutiger Nolaner, brauchte drei Mann. Der erste, sechste und siebente in der Reihe sprangen auf. Die drei anderen Händler suchten einen Mann, der Agrianisch konnte. Das war eine der selteneren Sprachen, doch er beherrschte sie leidlich. Schon dachte Araxo, er hätte es geschafft, da sprang ein anderer auf
Der letzte Mann war ein Gromorer. Suchte er vielleicht einen Schreiber für seine Briefe?
Das war der am wenigsten lukrative Job, der hier vergeben werden konnte. Gromora konnten
sie alle. Gelangweilt zupfte er sein Wams zu Recht. Da spürte er etwas Hartes. Die Metallscheibe, die er in Rungors Schacht gefunden hatte! Schon wollte er sie heraus holen.
Doch dann ließ er es doch sein. Er hatte sich die Scheibe noch gar nicht richtig angesehen.
Vielleicht war sie ja aus Gold. Das wollte er aber nicht vor soviel Publikum zeigen. Der Gromorer wurde vom Koordinator mit ausgesuchter Höflichkeit begrüßt. "Welchen Wunsch kann ich Euch erfüllen, edler Mullinas?", fragte er unterwürfig.
Mullinas? War das nicht dieser verrückte Alte, der am Hang des Boginki-Berges wohnte und fast nie in die Stadt kam? Araxo hatte schon von ihm gehört, ihn aber noch nie gesehen. Man erzählte sich wilde Geschichten über das, das der Alte in seinem einsamen Haus angeblich trieb.
"Mein Wunsch ist ein wenig ungewöhnlich", begann Mullinas. "Ich bin auch bereit, einige Tage zu warten, bis Ihr einen geeigneten Schreiber für mich ausfindig gemacht habt."
"Welche Sprachen schweben Euch denn vor?", forschte der Koordinator.
"Alt-Gromora und Kajonn." Mullinas legte abwartend den Kopf schief. "Ich bin auch bereit, den doppelten Satz zu bezahlen."
Die Schreiber machten betretene Gesichter. Das alte Gromora ging ja noch an, aber Kajonn war praktisch eine tote Sprache. Araxo musste an seinen letzten Aufenthalt in Owosso denken. Aus reiner Neugierde hatte er in den Schriften gewühlt und tatsächlich eine auf Kajonn gefunden. Ein geduldiger Priester hatte ihm die Grundbegriffe der alten Sprache beigebracht.
Araxo erhob sich und fühlte schier, wie alle wartenden Schreiber den Atem anhielten. Wer Kenntnisse vortäuschte, die er nicht besaß, wurde mit zwanzig Peitschenhieben und dem Ausschluss aus dem Haus der Schreiber bestraft.
"Mein Name ist Araxo", stellte er sich vor.
"Araxo?", fragte Mullinas und musterte ihn durchdringend.
"Ja, Araxo", bestätigte der junge Mann und fuhr fort: "Ich habe die alten Schriften im Tempel der Heiligen Allmacht in Owosso studiert. Dabei habe ich auch geringe Kenntnisse in Kajonn erworben. Ihr könnt mich prüfen und wenn ich nicht entspreche, trete ich gern für einen Kundigeren zurück."
Der Koordinator starrte ihn mit gerunzelten Brauen an. "Warte!" Er verschwand hinter einer Tür und kam bald wieder, zwei kleine Schriftrollen in der Hand. "Zuerst Alt-Gromora", erklärte er und reichte Araxo eine Rolle.
Der studierte sie kurz. "Das ist eine Aufstellung der Schätze, die König Pelagro III. von seinem Kriegszug gegen die Kor-Selaine heim brachte. Eine goldene Schüssel voll Rubine, eine Halskette aus Silber mit einem faustgroßen Smaragd, eine ... eine junge Frau mit ... äh, grünem Haar, zwanzig starke Jünglinge, hundert Scheffel Weizen, sechzehn Ballen Seide ..."
"Das reicht", stoppte der Koordinator die Aufzählung. "Du hast deine Sprachkenntnisse bewiesen. Nun Kajonn."
Araxo leckte sich die Lippen und schluckte. Doch dann nahm er die Schriftrolle. Sie war brüchig vom Alter und teilweise war die Schrift unleserlich. Der junge Schreiber nahm sich Zeit. Er wusste, dass aller Augen auf ihm ruhten. Das machte ihn nervös. Endlich glaubte er, den Sinn erkannt zu haben und räusperte sich.
"Hier steht: Als der edle Atiky ... das kann ein Name oder ein Titel sein ... die Herrschaft über die trübe ... dunkle ... nein, Wolken verhangene Stadt übernommen hatte, erhob er Cebalia, die schönste Frau Kramuurs ... das ist der Name Gromores auf Kajonn ... zu seiner Hauptfrau. Sie gab Leben einem Wesen dessen Vater ein Dämon war. Sein ganzer Körper war mit dichtem, schwarzem Fell bedeckt. Er hatte keine Nase, nur zwei Löcher. Augen besaß dieses Geschöpf nicht. So tötete Cebalia den Missgestalteten, indem sie mit ihm vom höchsten Turm der Burg sprang. Da erhob sich ein Sturm in Kramuur ..."
"Ich sehe, du verstehst Kajonn sehr gut", unterbrach ihn der Koordinator.
"Vortrefflich!" Freute sich Mullinas. "Bist du bereit, einige Zeit bei mir zu wohnen?" Er ging schon zur Tür und Araxo folgte ihm.
Auf dem Weg zu Mullinas' Haus, besprachen sie geschäftliche Einzelheiten. Araxo bekam umfangreiche Verhaltensregeln. Zu seinen Diensten als Übersetzer musste er sich auch um den Haushalt kümmern. Es war ihm streng untersagt, Mullinas' Privaträume zu betreten. Ansonsten konnte er sich frei bewegen. Dafür wurde ihm der doppelte Stundensatz geboten. Obwohl Araxo sich nicht gern band und Hausarbeit sicher nicht zu seinen bevorzugten Tätigkeiten gehörte, sagte er doch zu. Er war schlicht neugierig, woran der alte Sonderling arbeitete. Zusätzlich würde ihn dieser Job aus der Schusslinie der Wachen bringen. So wanderten die Beiden den Berg hoch als Mulimas plötzlich stutzte.
"Da stimmt etwas nicht", murmelte er und beschleunigte seinen Schritt.
Zornige Stimmen waren zu hören, daneben Waffengeklirr. Araxo hastete hinter dem Gelehrten den gewundenen Pfad hinauf Bevor aber das Haus in Sicht kam, verstummte der Lärm. Mullinas begann zu laufen. Für Araxo war dieses Tempo kein Problem, doch er wunderte sich, wie viel Kraft in dem Alten steckte. Dennoch, Mullinas war völlig außer Atem als er sein Haus erreichte.
Das Tor in der Umfriedung stand offen und auf der Schwelle lag eine kopflose Leiche. Daneben lag ein Sack, aus dem der Fuß eines silbernen Leuchters ragte. Mullinas stieß einen erstickten Schrei aus und lehnte sich gegen den Torbogen.
"Ein Dieb", stellte Araxo lakonisch fest. Neugierig lugte er in den Sack und fand darin einen zweiten Leuchter, einige silberne Teller und Becher und ein paar kleine, goldene Figuren. Als er Mullinas' Blick auf sich ruhen fühlte, gab er dem Gelehrten den Sack und stieg über den Toten.
Der dazu gehörige Kopf lag zwei Fuß weiter im Gras des Vorgartens. Dort fand er den zweiten Leichnam, diesmal mit aufgeschlitztem Bauch. Auf dem Gras und dem gepflegten Kies lagen weitere Wertgegenstände. Vor der offenen Haustür lagen drei weitere, reglose Körper. Zwei von ihnen waren Männer und ebenfalls tot. Der dritte gehörte einer Frau mit einer Hasenscharte. Blut sickerte aus mehreren Wunden. Ihre rechte Hand umklammerte ein blutbeflecktes Schwert. Araxo beugte sich über sie und hielt ein dünnes Büschel seiner Haare vor ihre Nase. Es bewegte sich sacht. Ein kleiner Lebensfunke war noch in ihr, aber er flackerte bedrohlich.
"Sie hat die Einbrecher getötet", murmelte Mullinas, der ihm gefolgt war. "Warum nur? Ich kenne diese Frau nicht."
"Das ist die Wölfin", erklärte Araxo, verwundert, dass Mullinas sie nicht erkannt hatte. "Sie tötet manchmal scheinbar ohne Grund irgendwelche Männer."
"Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sie meinen Besitz verteidigt hat, auch wenn das nicht ihre Absicht war", meinte Mullinas ernst. "Ich stehe in ihrer Schuld. Hilf mir, sie ins Haus tragen."
"Vielleicht sollte ich zuerst einmal nachsehen, ob nicht vielleicht noch ein Einbrecher drin ist." Fragend legte Araxo den Kopf schief
"Nein, keine Zeit", entschied der Gelehrte und schob vorsichtig die Arme unter die Schultern der Wölfin. "Nimm ihre Beine."

Rigunthis und die Drei Schwestern

Rigunthis ritt im Schritt durch den hellen Laubwald, der den Boginki-Berg bedeckte. Sie folgte dem Pfad der Karawanen aus Kor-Selaine. Ein unsichtbarer Faden zog sie nach Gromore, ein Zeichen, dass sich einer ihrer Peiniger in dieser Stadt aufhielt.
Die Strahlen der Morgensonne malten verschlungene Muster auf den Waldboden. Rigunthis fragte sich, wie lange noch. Schon jetzt hingen einige Wolken am Himmel und je mehr sie sich der Stadt näherte, umso dichter wurden sie. Solange es bergauf ging, konnte sie sich noch an einigen Sonnenstrahlen erfreuen.
Der Weg wurde breiter und das Gelände senkte sich langsam. Mit einem Mal war die Sonne verschwunden. Rigunthis hielt ihr Pferd an und sah hinunter auf Gromore, die Stadt unter der ewigen Wolkendecke. Am Marktplatz drängte sich eine bunte Menge von Menschen. Mehrstöckige Häuser umgaben dieses Zentrum des Handels. Dieser Platz teilte aber auch die Stadt in gewisser Weise. Zum Boginki-Berg hin sah man die Villen der Reichen, während die Behausungen zum Grom-Fluss hin immer ärmlicher wurden.
Direkt unter ihr standen auf einem Hügel drei tote Bäume. Der Pfad führte an ihnen vorbei.
So trieb Rigunthis ihr Pferd an und ließ es den Berg hinunter gehen. Sie hatte es nicht eilig.
Der Grenzkonflikt zwischen Kor-Selaine und Nolama hatte ihren Beutel gut gefüllt. Hier konnte sie sich einige angenehme Tage gönnen, bevor sie nach einer neuen Aufgabe suchte.
Natürlich würde sie auch dem Hinweis der Namenlosen Rachegöttin folgen.
Sie fragte sich, was geschehen würde, wenn sie alle Vergewaltiger zur Strecke gebracht hatte. Die Göttin hatte ihr Kampfkraft verliehen. Würde sie diese dann verlieren?
Ihr Pferd blieb plötzlich stehen. Rigunthis schreckte auf. Durch ihr Grübeln hatte sie nicht auf den Weg geachtet. Vor ihr reckten die toten Bäume ihre kahlen Äste in den Wolken verhangenen Himmel. Eine unnatürliche Stille herrschte an diesem Ort. Wie in Trance saß die Kriegerin ab und ging auf die Bäume zu. Ihr Blick glitt über die seltsam gemusterte Rinde, die Löcher in den Stämmen, die wie tiefe Wunden wirkten.
Rigunthis fühlte ein Ziehen in der Brust und ging näher an die Stämme heran. Ihre Hand glitt über die samtige Rinde, vermied es aber sorgsam, in die Nähe der Löcher zu kommen. Eine unsichtbare Hand hielt sie davon fern. Ein feines Wispern schlich sich in ihren Kopf.
Beunruhigt sah sich die Kriegerin um. Doch der Wald lag still hinter ihr. Kein Vogel sang, nichts rührte sich im Unterholz. Wenige Wegminuten unter ihr schmiegte sich ein schmuckes Haus an den Hang des Boginki-Berges. Ihr geschulter Blick erkannte auch einen gut gepflegten Garten. Das Anwesen war von einer übermannshohen, weißen Mauer umgeben. Obwohl keine Menschenseele zu sehen war, war sie sicher, dass das Haus bewohnt war.
Das Wispern wurde zu einem drängenden Raunen. Die Luft um die toten Stämme schien sich zu bewegen, obwohl kein Wind ging. Wie in Trance holte sie die Metallscheibe, die sie unter der Platane gefunden hatte, aus ihrer Satteltasche. Das Ding glänzte wie Gold und schien sich in ihrer Hand zu winden. Nun jagte eine Gänsehaut Rigunthis' Rücken hinunter. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf
Ich muss hier weg, dachte sie. Dieser Ort ist verflucht. Entschlossen warf sie die Scheibe wieder in die Satteltasche.
Es kostete sie einige Überwindung, ihr Pferd zu besteigen, denn die Bäume wollten sie nicht los lassen. Mit zusammen gebissenen Zähnen lenkte sie ihren Gaul den Berg hinunter. Je weiter sie sich von dem Plateau entfernte, umso leiser wurde das Raunen, bis es endlich verstummte. Sie fühlte sich, als hätte man eine erstickende Decke von ihr genommen. Tief sog sie die würzige Waldluft in sich ein.
Jetzt spürte sie ein Zupfen in ihrem Geist. Das war die Göttin. Nacheinander erschienen die Gesichter der vier letzten Räuber vor ihrem inneren Auge. Alle vier auf einmal? Nun, dann war es endlich ausgestanden. Ein grimmiger Zug legte sich um ihren entstellten Mund.
Sie hatte die weiße Mauer erreicht. Eine kleine Gittertür, die jetzt aber verschlossen war, führte in den Garten. Rigunthis konnte durch das Gitter Männer sehen, die die Haustür aufbrachen. Blitzschnell sah sie sich um.
Der Weg lief an der Mauer entlang hinunter in die Stadt. Links und rechts wuchsen einige Haselsträucher und Zwergeichen. Dazwischen standen saftige Grasbüschel. Schnell saß sie ab, band die Zügel um einen Eichenast und schlich an der Mauer entlang zum Haupttor. Wie erwartet stand es weit offen und einer der Räuber lehnte am Torrahmen. In einer Hand hielt er den Rand eines Sackes, der vor ihm am Boden stand. Seine andere Hand wühlte in dem Sack.
So war er vollkommen überrascht als Rigunthis mit dem Schwert in der Hand auf ihn zu stürmte. Zuerst ließ ihn nur Erschrecken den Mund aufreißen, aber dann kamen das Erkennen und die Todesangst. Er ließ den Sack fahren und griff nach seinem Dolch. Die Kriegerin führte einen waagrechten Hieb, der dem Räuber den Kopf sauber vom Rumpf trennte. Noch im Tod führte der Arm die geplante Bewegung fort und die Spitze des Dolchs schnitt durch Rigunthis Ärmel, ritzte ihren Arm. Blut für die Göttin.
Ein Wutschrei ertönte vom Haus her und ein zweiter Mann erschien. Ein kurzes Schwert drohte in seiner Rechten. Rigunthis sprang über die Leiche und schlitzte ihm den Bauch auf. Schon im Fallen bohrte sich die Spitze seines Schwertes knapp über dem Knie in ihren Schenkel. Auch in seinem Gesicht hatte Rigunthis das Erkennen, gefolgt von dem Entsetzen bemerkt. So war es jedes Mal.
Nun stürzten die restlichen zwei Räuber aus dem Haus. Beide hatten Säcke mit Raubgut in den Händen, die sie nun wegwarfen und ihre Waffen zogen. Gemeinsam drangen sie auf die Kriegerin ein. Ihre Gesichter zeigten dieselben Emotionen wie die ihrer nun toten Kumpane.
Erst jetzt fühlte sich Rigunthis gefordert. Sie zog ihren Dolch und wehrte damit einen Angriff ab. Gleichzeitig schnitt ihr Schwert in die Hüfte des anderen Mannes, leider nicht tief genug. Die Wunde machte ihn wütend, aber nicht unvorsichtig.
Eine unsichtbare Hand schien sich auf Rigunthis Schwertarm zu legen. Plötzlich fühlte sie sich stark und unverwundbar. Behände sprang sie vor und zurück, täuschte, schlug und stach, wich Angriffen aus, wurde aber trotzdem auch getroffen. Sie fühlte keine Schmerzen. Die Namenlose Rachegöttin führte ihr die Hand mit nie gekannter Meisterschaft. Der kleine Platz vor der Haustür war bereits mit Blut bespritzt, dem der Räuber, aber auch ihrem eigenen. Rigunthis beachtete es nicht.
Da ging einer der Räuber zu Boden. Mit einem schnellen Dolchstoß gab sie ihm den Rest.
Nicht schnell genug, denn das Schwert des letzten Räubers fuhr in ihre Seite. Mit einer letzten Anstrengung bohrte sie ihr Schwert in seinen Brustkorb und brach zusammen. Die unirdische Kraft verließ sie. Ehre Hand glitt vom Schwertgriff, der nun wie ein riesiger, mahnender Finger empor ragte.
Mit einem Mal fühlte sie sich schwach und zerschlagen. Aus der Wunde an ihrer Seite strömte Blut mit jedem Schlag ihres Herzens. War das das Ende? fragte sie sich und sank zu Boden. Eilige Schritte näherten sich vom Tor.
Garelis, die Kräuterfrau aus ihrem Dorf, saß neben ihr und streichelte zart ihre Wange. "Wirst du jetzt Frieden finden?", fragte sie.
Rigunthis wollte antworten, aber ihre Hand gehorchte ihr nicht. Sie war sogar zu schwach um auch nur zu nicken. Die Dunkelheit kam auf sie zu und sie ließ sich willig von ihr umfangen.

wird fortgesetzt…


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