STORIES


ST. MARTIN DU BOIS

Folge 5

von Fred H. Schütz



Fünfter Teil

Auf den Tag eine Woche später - es war der siebenundzwanzigste des Monats - fand Solí frühmorgens den Kolumbianer tot in seinem Zimmer. Er war der letzte der Neue-Welt-Drachen gewesen. Auch er war mit Arsen vergiftet worden.
Wieder stand Rupert am Fuß der Liege und starrte auf einen Drachen hinunter. Vorige Woche war es Sleipnir gewesen und heute Pericuo. Irgend jemand hatte ihm die Kleidung ausgezogen und Rupert erkannte, daß alle Farbe aus dem Leichnam gewichen war - wie ausgewaschen, dachte Rupert, so schmutzigweiß … Warum sind Leichen nur so schrecklich häßlich - nichts von der lebendigen Person war übrig geblieben …
Er wandte sich ab und Mona schmiegte sich an ihn. "Ist es nicht schrecklich?" flüsterte sie.
Er nickte und senkte seinen Kopf auf ihr Haupt, schmiegte seine Wange an ihre. Ihr Duft umschmeichelte ihn. "Ja," gab er zurück, "dein Vater, hat er schon einen Hinweis?"
Seine Arme umfingen sie, ohne daß er wusste, daß er es tat. Sie fand sich wohl darin und auch sie wußte nicht, daß es so war. Hätte man sie darauf aufmerksam gemacht wären beide überrascht gewesen. Es war eben so.
Sie blickten hinüber zu Dr. Saebius, der wieder auf dem Fußboden saß. Er blickte zurück und schüttelte bedauernd den riesigen Kopf. "Nein, kein Hinweis," entgegnete sie und in ihrer Stimme, leise wie sie sprach, schwang unendliche Trauer.
Rupert wusste, was sie fühlte, fühlte die Trauer mit ihr. Er war in der kurzen Zeit, seit er hergekommen war, vertraut mit den Drachen geworden und fühlte sich ihnen gleich. Hätte man ihn darauf aufmerksam gemacht, daß sie keine Menschen waren, er hätte sich sammeln müssen um zu verstehen, warum ihn die Bemerkung befremdete.
Von Menschen unterschied sie - zumindest auf den ersten Blick - nur ihre riesige Größe. Vielleicht ein gewisser Ausdruck im Gesicht, der etwas anders war, als man es bei Menschen gewöhnt ist, aber wem fällt sowas schon auf … Ihre kollabierten Flügel waren unter der Kleidung verborgen, und wer wie Rupert, tagtäglich mit ihnen umging, gewöhnte sich rasch an ihre bucklig scheinenden Silhouetten. Ein Dutzend Leute mit Buckel - nun, dafür war man ja auch in einem Krankenhaus …
Und nun, ganz plötzlich, von einer Woche zur anderen, waren es nicht mehr vierzehn. Zwei Drachen waren auf unheilvolle mysteriöse Weise ums Leben gekommen. Und weil das mit Arsen bewerkstelligt wurde, war ihr Tod qualvoll gewesen.
Wer war der Urheber und warum hatte er die beiden Drachen ermordet? Würde er wieder zuschlagen und wen würde es dann treffen? Würde er mit dem Morden fortfahren bis alle Drachen vernichtet waren?
Ruperts Gedanken wurden unterbrochen als die anderen Drachen in den Raum zurückkehrten. Nun sah er, warum sie Pericuo entkleidet hatten: sie brachten das Ornat für seine Bestattung.
Pericuos Bestattung … Rupert mußte zurückbleiben, denn den Toten zu transportieren würde eine mörderische Reise werden für die alle Kräfte gebraucht wurden; auch Wieland und Eckhart mußten zugreifen, konnten sich also nicht um ihn kümmern. In den Hochgipfeln der Anden - in Peru, wo nur gelegentlich Indios sich Eis für ihr Geisterfest holten, und um die wenigen Inkagräber hoch oben machten auch sie einen weiten Bogen - nur dort würde Pericuos Grabesruhe ungestört bleiben.
Zu Sleipnirs Bestattung hatte Rupert mitkommen dürfen, da hatte er nicht einmal fragen müssen. Die beiden Jungdrachen hatten seine Arme gepackt - und diesmal hatte er auch zugegriffen, hatte seine Arme mit den ihren verschränkt, und so war die Reise lange nicht so schmerzhaft und ermüdend für die drei gewesen.
Sie waren nachts geflogen - so wurden sie von Menschen nicht bemerkt - und Rupert hatte den Grund, der tief unter ihm vorüberglitt, lediglich als einen vagen Schatten wahrgenommen; so war ihm Höhenangst erspart geblieben. Die riesigen Schwingen der Drachen waren nahezu geräuschlos durch die Luft gerudert …
In einer Höhle, die sich als kaum mehr als ein enger Spalt in der felsigen Einöde jenseits des Nordkaps auftat - nicht weit von der Stelle wo Sleipnir einst das Licht der Welt erblickt hatte, so versicherte man Rupert - wurde er zur letzten Ruhe gebettet. Die Grabesstätte war so schmucklos wie die Zeremonie einfach. Die Drachen hatten sich einer nach dem anderen über den Toten gebeugt, ihm einen Kuß auf die Wange gegeben und etwas gemurmelt was Rupert nicht verstand.
Dann hatte Mona ihm vorgesprochen was er sagen sollte: "Ne mehau q'sté!" Rupert fand, daß dies genau ausdrückte, was er empfand - Sleipnir lebte in seinem Herzen fort. Lediglich den Kuß auf die eisige Wange verkniff er sich. Sleipnir würde verstehen - falls es dort, wo er jetzt war, Bedeutung hatte.
Schließlich sprach Dr. Saebius ein knappes Wort: "Kr'ng!" der Fels knirschte und der Spalt verschwand; das Grab war verschlossen.
Das war vor einer Woche gewesen.
Bei Einbruch der Dunkelheit machten sich die Drachen auf den Weg. Rupert sah ihnen zu, wie sie den riesigen Körper des Toten in die Höhe wuchteten, und dann verschluckte sie die Nacht. Rupert starrte hinter ihnen drein, sah aber nichts mehr. Die Drachen waren verschwunden.
Und mit ihnen Mona.
Als kleinste der Drachen trugen Mona, Eckhart und Wieland Pericuos Kopf, flogen also vorneweg. Dahinter die anderen Drachen zu beiden Seiten des Körpers des Toten, und den Schluß machte Dr. Saebius.
Er flog als Letzter weil seine riesigen Schwingen die stärksten Luftwirbel erzeugten, und er flog am höchsten von allen; so behielt er den nötigen Überblick. Pericuos Körper ruhte auf einem Netz von langen Seilen deren Enden zu Schlingen geknüpft sich die Drachen um die Schultern gelegt hatten. Die Seile mußten lang sein damit sich die Drachen nicht gegenseitig im Flug behinderten.
Auf dieselbe Weise hatten sie Sleipnir zu seiner letzten Ruhestätte transportiert. Nur war ihr Flug zu den Anden um ein Vielfaches weiter und deshalb würden sie nicht schon am Morgen zurückkehren. Dr. Saebius meinte, sie würden eine Woche fort sein weil sie auch mindestens einen Tag der Ruhe brauchten, um Kraft für den Rückflug zu sammeln.
Eine ganze Woche ohne Mona! Rupert fühlte sich wie ein Mann mit Asthma, dem man gerade gesagt hat, er würde eine Woche lang nicht atmen können …
Am Morgen war das Gebäude irgendwie leer. Geräusche die sonst im Alltag untergegangen waren hallten laut: Schritte knallten, Türen knarrten, im unterdrückten Ton gehaltene Gespräche klangen wie Geschrei. Irgendwo strich der Wind leise wimmernd um eine Ecke, und ein Fenster, das nicht richtig geschlossen war, knallte auf und zu. Altes Gebälk knackte. Das Haus brachte seine Einsamkeit zu Gehör.
Jean Rappeneau hatte seine Tüchtigkeit wieder einmal unter Beweis gestellt und von irgendwoher - Gott allein wußte von wo - einen jener langen Falttische für Festzelte besorgt, den er mit Hilfe von Jean Didier dem Gärtner in der Halle aufstellte und irgendwelche Stühle dazu. Niemand schien besonderen Appetit gehabt zu haben, wie Clementine mit einem schiefen Blick auf halb ausgetrunkene Schalen Milchkaffee und halbgegessene Croissants feststellte.
Clementine war eine in die Jahre gekommene Frau, der man ihre Liebe für gutes Essen ansah. Sie war bei allen ebenso beliebt, wie man ihre scharfe Zunge fürchtete. Eben jetzt riß sie Solí den Croissant aus der Hand, den er zwischen seinen Fingern zerpflückte. "Verschwendung!" rief sie so laut, daß die im Gespräch mit ihren Kollegen vertiefte Dr. Fraiser erschrocken hochblickte. "So geht man mit Essen nicht um!"
Ihre Meinung kundgetan, rauschte die Köchin in Richtung Küche, gefolgt von der eifrig hinter ihr drein tapsenden Küchenhilfe.
Solí blickte ihr nach, ohne wirklich zu sehen. Krümel des zerpflückten Croissant rieselten von seinen Fingern. "Wo sie jetzt wohl sind?"
"Über dem Atlantik!" entgegnete Jean von der anderen Seite des Tisches. "Sehr hoch über dem Atlantik!" Er sprach aus was alle dachten.
"Das gibt wieder Meldungen von UFO-Sichtungen," sagte Auguste. Auguste war der fünfte Pfleger und Rupert sah ihn heute zum ersten Mal.
"He?" Antoine riß die Augen auf und starrte ihn an. "Wieso?" Antoine war immer etwas langsam.
Auguste grinste zurück. "Linienmaschinen fliegen auch sehr hoch!"
"He?" wiederholte Antoine, "wieso?" Sein Mund blieb offen.
"Wo bist du eigentlich die ganze Zeit gewesen?" fragte Jean. Er blickte Auguste angelegentlich an.
"Ja!" sagte Antoine sofort. "Was hast du …?" Sein Mund klappte zu.
Der stille Felix hielt inne, die Kaffeeschale vor dem Mund, und blickte neugierig. Er war der einzige, der dem Frühstück mit Appetit zugesprochen hatte.
Auguste schlug die Augen nieder. "Ich habe versucht meine Ehe zu retten," sagte er leise.
"Und?" Nur Jean verstand es Fragen zu stellen, ohne zu beleidigen.
Auguste machte nur eine sachte Bewegung mit dem Kopf. Seine Augen blieben gesenkt.
"Sacrebleu!" sagte Felix. Verdammt.
In diesem Moment erhob sich Dr. Fraiser. "Meine Herren …"
Meine Herren sprangen dienstbeflissen auf die Füße. Es klang wie auf dem Exerzierplatz. Sie war die kleinste von allen, die dennoch alle beherrschte. Hier war niemand, der ihr seinen Respekt verweigert hätte. Sogar Dr. Severance, blasiert wie er sich gab, neigte vor ihr den Kopf.
Sie blickte kurz reihum, ohne jemanden besonders anzuschauen, und dennoch spürte jeder ihre Augen auf sich ruhen; sie besaß diese Gabe. "Ich möchte Sie alle hier um zehn Uhr sehen," sagte sie ruhig.
Dann wandte sie sich zu gehen, warf kurz über die Schulter zurück. "Mr. Conreid …?"
Rupert eilte ihr nach und dank seiner langen Beine hatte er sie eingeholt, ehe sie ihr Zimmer betrat.
Sie blickte zu ihm hoch und er sah Sorge in ihren Zügen. "Monsieur Rimbaud hat seinen Besuch angekündigt …" Ihre Stimme klang belegt, aber dann sah sie sein Grinsen - wie Tom der Kater, wenn er eine Maus am Schlafittchen hat - und gab unwillkürlich einen Laut von sich der beinahe wie Lachen klang.
Monsieur traf am Nachmittag ein und brachte Verstärkung mit: zwei stämmige Männer aus der Gegend, die aufgrund ihrer Ähnlichkeit miteinander wohl Vater und Sohn waren. Sie kamen großspurig hereingepoltert, Monsieur Rimbaud geduckt hinter ihnen. Sein Ausdruck ließ keinen Zweifel offen: Herr der Lage war er!
In der Halle stand Rupert, die Hände lässig in den Hosentaschen, und blickte ihnen entgegen. Er war allein.
Die Gruppe kam zu einem abrupten Halt und die Gesichter der beiden Bauern wurden kreidebleich. Sie wandten sich um. "Wir warten draußen auf Sie," murmelte der Ältere.
Monsieur Rimbaud fand sich ohne die erhoffte Deckung. Sein Besuch währte kurz und war für ihn alles andere als zufriedenstellend. Als er sich hinter das Steuer seines Autos warf, knurrte er, "Feine Kerle seid ihr! Sich vor einem Bürschlein wie dem da zu fürchten …"
"Monsieur, haben Sie seine Augen gesehen?" fragte der Ältere. Seine Stimme bebte.
"Gelb, na und?" gab der Beamte zurück. Er war wütend.
"Er hat geschlitzte Pupillen!" sagte der Mann.
"Quergeschlitzte!" fügte sein Sohn hinzu.
"Ach was! Das bildet ihr euch ein!" Monsieur Rimbaud legte den Gang ein und das Getriebe protestierte schrill. "Kein Mensch hat Ziegenaugen!"
"Der Leibhaftige schon," sagte der Jüngere.
Monsieur Rimbauds Fahrstil war sehr unsicher. Er fuhr viel zu schnell und daß er Unfälle vermied, war nicht sein Verdienst.
Am Abend war im Bistro mehr los als sonst und der Wirt war mit dem Umsatz sehr zufrieden. Was kümmerten ihn Geistergeschichten …
Nur der Taxifahrer, der am hinteren Ende des Tresens stand, hob den Roten mit zitternder Hand an seine Lippen. "Ich hab's schon immer gesagt: St. Martin ist verflucht!"
Dr. Fraiser war hingegen mehr als zufrieden. Die sonst so verschlossene Frau wurde sogar gesprächig. Nur Drachenaugen erwähnte sie mit keinem Wort.
Bereits am Morgen um zehn Uhr hatte sie zu ihren Leuten gesprochen. "Wir haben eine Woche Pause. Sie können in der Zeit tun, was Ihnen beliebt und auch das Haus verlassen. Aber wenn unsere Patienten zurückkehren, erwarte ich von Ihnen - von jedem von Ihnen - vollen Einsatz!"
Um zwei Uhr, noch vor Monsieur Rimbauds Besuch, klopfte Auguste an ihre Tür. Dann stand er mit gesenktem Kopf vor ihr, ein Bild der Verlegenheit. "Kann ich Sie um einen Vorschuß bitten?" fragte er und das klang womöglich noch verlegener.
"Wieviel?" fragte sie kurz.
"Ich - ich brauchte eine größere Summe …"
Ihre Brauen zogen sich zusammen. "Wieviel?" fragte sie noch einmal.
"Zwei - zweitausend?"
Das ließ ihre Augen groß werden. Sie griff in eine Schublade ihres Schreibtisches und nahm ein Scheckheft heraus. Im Begriff zu schreiben hielt sie inne und sah hoch. "Wozu brauchen Sie soviel Geld?"
"Ich - " sagte er und stockte. Dann sagte er rasch: "Meine Frau will sich von mir scheiden lassen!"
"Und das verlangt sie von Ihnen? Als Abfindung?"
Die Verzweiflung stand deutlich in seinem Gesicht. "Der Brilli," stieß er hervor, "sie hatte einen Brillantring in der Auslage gesehen der ihr gefiel, und …" Er würgte, mußte schlucken.
Sie musterte ihn mit strengem Blick. "Und mit dem Geschenk wollen Sie sie halten?"
"Ich kann sie doch nicht gehen lassen!" Der Aufschrei kam aus zutiefst zerrissener Seele. Wie ein waidwundes Tier, dachte sie.
Sie musterte ihn noch einen Augenblick, dann sah sie nieder und stellte den Scheck aus. Sie reichte ihm das Papier. "Viel Glück, Auguste!"
Sie blickte ihm nach und als sich die Tür hinter ihm schloß murmelte sie, "So ein Trottel …"
Rupert kam herein. "Wer? Auguste?"
Sie nickte. "Seine Frau läßt sich von ihm scheiden."
"Armer Kerl!" Was würde er an Augustes Stelle tun, falls zum Beispiel Mona ihn verließ? Würde er sich dann auch so verhalten, daß man einen Trottel in ihm sah?
Die Sorge war unnötig. Mona flog an der Spitze des weit auseinandergezogenen Pulks - "als Leitkuh," wie Tiamat hämisch bemerkte, und unter anderen Umständen wäre Mona ihr dafür an die Gurgel gesprungen - aber heute hatte sie für Anzüglichkeiten kein Ohr. Während ihre Augen alle Veränderungen in der Umgebung registrierten und sie automatisch Kursänderungen einleitete irgendwelche Hindernisse zu umfliegen, waren ihre Gedanken unablässig und ausschließlich bei einer einzigen Sache. Die hatte unschuldige Augen, die sie so unendlich lieb anblicken konnten, einen wirren Wuschelkopf - Haare die, sooft sie sie auch glatt strich im Moment wieder wild um seinen Kopf wehten, wie von einem Windstoß aufgewirbelt - und Hände, die sie ebenso zärtlich berühren wie hart zupacken konnten, wenn es darum ging, ein Problem aus der Welt zu schaffen.
Die Sache hatte einen Namen den sie unablässig vor sich hin sprach, wie um sich zu vergewissern, daß es ihn noch gab. Sie vermißte ihn; sie vermißte ihn so sehr, daß ihr das Herz weh tat …
Es war eine helle Mondnacht und vielleicht deshalb gelang es dem Reporter an Bord der Linienmaschine unter der sie gerade wegtauchten ein Foto der Geister zu schießen die er zu sehen glaubte. Das Foto wäre um die Welt gegangen und hätte ihm sicher ein Vermögen eingebracht, wenn er es veröffentlicht hätte.
Aber solange lebte er nicht mehr.
Als der Morgen graute erreichten sie die Kapverdischen Inseln. Normalerweise kann ein Drache - Mona auch - um die ganze Welt fliegen, ohne daß er ermüdet. Aber fliege mal mit einer vom Wind gebremsten toten Last am Hals, noch dazu in einer Höhe für die jeder Mensch ein Atemgerät brauchte!
Einige der kleineren Inseln sind unbewohnt und auf der am weitesten von allem Verkehr entfernten ließen sie sich nieder. Sie waren völlig erschöpft; dennoch ließen sie Vorsicht walten und suchten in der an einem steilen Berghang wuchernden Vegetation Deckung ehe sie sich dem Schlaf ergaben.
In tropischen Gefilden wird es früher Nacht und auch die Dämmerung währt nur Minuten. Als es völlig dunkel war, flogen sie los und stiegen in unermeßliche Höhe auf, ehe der Mond in den Himmel kletterte und das Meer tief unter ihnen in einen silbern glitzernden Spiegel verwandelte.
Ihr nächster Rastplatz lag tief im Innern des Matto Grosso, dicht an der brasilianisch-paraguayischen Grenze. Was sie nicht vorhersehen konnten war, daß ein kleines Dorf ganz in der Nähe - außer Sichtweite zwar, aber nicht außer Hörweite - gerade ein Volksfest feierte. Es war der dritte Tag dieses Festes zu dem alle Welt von nah und fern herbeiströmte, und als bei Einbruch der Nacht ein Feuerwerk abgebrannt wurde stieg mit den Raketen ein Dutzend übermüdeter Drachen in den Himmel.
Mit ihnen eine Leiche die bereits zu riechen begann …
Zeit ist relativ. Wenn's dir wohl ist, wenn du, wie man so sagt, "eine gute Zeit" hast, fliegen Stunden wie Sekunden vorüber. Aber wenn du auf etwas wartest - auf die nächste Bahn, auf das Ende der Fastenzeit, auf das Wiedersehen mit der Geliebten - ist jede Minute ein schneckengleich dahin schleichendes Jahr. Du schaust jede Stunde auf die Uhr und stellst fest, daß gerademal eine knappe Minute vergangen ist, seit du zum letzten Mal auf die Uhr sahst …
Es soll nicht verschwiegen werden, daß Jean, Solí, Felix und sogar Antoine sich eine Woche lang vergnügten, während Auguste einen Schicksalsschlag erlitt der ihn an den Rand des Selbstmords trieb (seine Frau nahm den Brillantring "als Abschiedsgeschenk" gerne an und ließ ihm gleichzeitig von ihrem Anwalt die Scheidungspapiere überreichen).
Für Rupert war die Woche ohne Mona eine grausam langsam verrinnende Ewigkeit, in der sich Sekunden zu Stunden dehnten (wenn du wissen willst, was ich meine, betrachte mal einen Wasserhahn an dem ein Wassertropfen zittert und warte darauf, daß er fällt) während ihn die Sorge um ihr Wohlergehen schier den Verstand raubte.
Als sich endlich, endlich, endlich! in der Frühe des achten Tages ein undeutlich umrissener Schatten aus dem erbleichenden Nachtdunkel löste und eine Horde zu Tode erschöpfter Drachen in den Hof hinter dem Krankenhaus einfiel, kam alles was Beine hatte - bis auf Dr. Beaumont der das "Theater" wie er sich ausdrückte selig verschlief - herausgerannt und nahm sie in Empfang.
Während das Blut an ihren Beinen herablief und Flügel schrumpften, begannen Dr. Fraiser und Dr. Severance mit ihren Untersuchungen (obwohl sich dieses angesichts der immensen Größe der Drachen als sehr schwierig gestaltete und deshalb verschoben werden mußte bis sie es sich auf ihren Liegen bequem gemacht und "eine Runde" geschlafen hatten. Und dann ergaben die Untersuchungen doch nur, daß ihnen nichts fehlte als ein ausgiebiger Schlaf und anschließend eine reichhaltige Mahlzeit).
Monas Füße hatten noch nicht einmal richtig den Boden berührt als Rupert sich schon mit einem Laut, von dem selbst er nicht sagen konnte ob es Lachen, Weinen oder doch nur ein orgelndes Stöhnen war auf sie stürzte, sie mit seinen langen Armen umschlang und so fest an sich drückte, daß ihr schier der Atem verging. So suchte sie sich auch sogleich matt protestierend von ihm zu lösen.
Dann sah er sie taumeln, weil sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Er nahm sie auf seine Arme und während das Überdruckblut aus ihren Flügeln strömte trug er sie rasch und auf nichts anderes achtend die vier Treppen hinauf in ihr Zimmer, hörte auch nicht Wielands ihm lachend nachgerufenen Protest, er sei doch auch müde und wer trüge ihn?
Was er normalerweise mit einem Lachen beantwortet hätte …
Als er Mona ins Bett legte war das Blut verströmt und ihre Flügel zwei kleine faltige Hügel auf ihrem Rücken. Sie schlief bereits fest.
Sie schlief vierundzwanzig Stunden (wie er später hörte, schliefen die anderen Drachen auch so lange).
In der ganzen Zeit wich Rupert nicht von ihrer Seite - besser gesagt, er lief gelegentlich, immer nur mal kurz, hinaus um irgendwelche Nahrung, die nach nichts schmeckte, in sich hineinzustopfen. Am Abend, selber todmüde, legte er sich zu ihr. Sie gab einen wollüstigen Laut von sich, wie es manche Menschen wohl gern im Schlaf tun, drehte sich um und schmiegte sich an ihn.
Rupert wagte nicht sich zu rühren, nicht einmal laut zu atmen, um sie ja nicht zu stören. Und so verging die Nacht.
Als sie am Morgen ausgeruht erwachte, hatte er schon ihr Frühstück bereitet und stellte das reichhaltig bestückte Tablett neben sie auf's Bett …
Danach machten sie sich auf die Suche nach Gesellschaft, was sich als garnicht schwierig erwies: lebhafte Stimmen wiesen ihnen den Weg.
Dr. Fraiser räumte gerade ihr Arztbesteck weg als sie eintraten. "Keine Sorge, Ihr Vater ist kerngesund," sagte sie und tätschelte Monas Arm. Dann verließ sie den Raum.
Dr. Saebius saß auf seiner Liege. Er hielt etwas in der Hand das wohl Gegenstand der lebhaften Unterhaltung gewesen war. Nun standen die Drachen stumm im Raum und blickten dem eintretenden Paar erwartungsvoll entgegen.
Der Gegenstand in Dr. Saebius' Hand war kugelrund und schimmerte matt wie eine Perle. Aber er hatte die Größe von Monas geschlossener Faust und konnte deswegen eine Perle nicht sein; keine Perle ist so groß.
Dr. Saebius blickte Rupert in die Augen. "Dies ist der Drachenstein," sagte er. "Du mußt ihn fortan ständig bei dir tragen!"
Mona stieß einen Laut aus, den Rupert nicht zu deuten wußte. Verwirrt ließ er es geschehen, daß sie ihm das Hemd aufknöpfte. Dann nahm sie den Drachenstein aus ihres Vaters Hand und steckte ihn Rupert ins Hemd - genau gesagt, unter seine linke Achsel.
"Mach mal so!" sagte sie und bewegte ihren Arm mit abgewinkeltem Ellbogen als wollte sie rudern. Rupert gehorchte, nach wie vor völlig verwirrt.
Der Stein klebte unter seinem Arm als sei er dort festgewachsen, und sie nickte befriedigt. "Spürst du was?"
Er bewegte seinen Arm ein paarmal auf und ab. "Nein, garnichts."
"Er stört dich nicht?"
"Nein, überhaupt nicht!"
"Gut." Wieder nickte sie, und während die herumstehenden Drachen seine Verwirrung durch ihr laut glucksendes Lachen vergrößerten sagte sie: "Du kannst dein Hemd wieder zumachen."
Ihr Vater grinste wie der Leibhaftige, der sich gerade eine Seele geholt hat, und Rupert fiel ein, wie Tiamat ihn angesprochen hatte: "Seibeiuns …"
Am nächsten Morgen fand Solí (der arme Teufel: immer traf es ihn!) Fharid tot in seiner Liege. Fharid war der Drache mit den Nasenschlitzen …

Fortsetzung folgt


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