SCHWERPUNKTTHEMA


ZWERGE


MINDERWUCHS

von Fred H. Schütz



Es gab und es gibt Kleinwüchsige überall auf dieser Welt. Nach meinem besten Wissen sind das Leute die als Erwachsene nicht größer als 140 cm werden, bzw. sind. Nach unten scheint die Grenze bei etwa 70 cm oder etwas darunter zu liegen - so genau weiß ich das nicht.
Es gibt ganze Gesellschaften Kleinwüchsiger, zum Beispiel die Pygmäen in den Regenwäldern Westafrikas und die San (Busch-männer, die zusammen mit einem anderen Kleinvolk als Khoi-San-Gruppe bekannt sind) in der Kalahari. In Meso-Amerika südlich von Mexiko existiert ein als San Carlos bezeichneter Indiotyp, der aber nicht als geschlossene Gruppe auftritt. Der Name San Carlos geht auf eine Ortschaft dieses Namens zurück in der vorwiegend Minderwüchsige dieses Typs leben. Hiervon deutlich abzugrenzen sind die durchweg kleinwüchsigen Indios der Regenwälder Amazoniens.
Daneben gibt es klein geratene Menschenschläge in Südostasien - besonders in der dortigen Inselwelt, zum Beispiel Neu-Guinea; hierzu gehören auch die Inseln im Golf von Bengalen - und in Mikronesien (Guam).
Letztendlich waren auch die Eskimos und einige Indianerstämme des hohen Nordens von Amerika ursprünglich eher kleine Leute.
Soweit Kleinwüchsigkeit nicht krankhaft bedingt ist - es gibt durchaus auch Zwerge in unserer wohlgenährten westlichen Gesellschaft - ist sie das Resultat von Mangelernährung. Das heißt, auch wenn sie sich satt essen fehlen bestimmte Nährstoffe in der Diät der Betroffenen und gesundes Wachstum findet nicht statt. Dies trifft auf alle oben genannten Mikrogruppen zu.
Wo Individuen aus kleinwüchsigen Gesellschaften bei Normalwüchsigen unterkommen - bekannt sind Fälle von Negern die Pygmäenmädchen zur Frau nahmen - sind deren Kinder stets normalwüchsig. Daraus folgt, daß Kleinwuchs-Gene, sofern es die geben sollte, nicht dominant sind.
So. Was ich mit dieser atemberaubend langen Vorrede eigentlich sagen wollte ist, daß ein ziemlich großer Haufen kleiner Leute auf der Welt herumläuft und wahrscheinlich schon immer dagewesen ist (ganz abgesehen von der Tatsache, daß alle Menschenkinder früherer Zeiten bis weit in die Vorzeit zurück ziemlich mickrige Gestalten gewesen sind - selbst ein Recke wie der hürnen Siegfried hätte sich ganz schön recken müssen um einem Vierzehnjährigen von heute in die Augen zu blicken.)
Und hier - endlich! - bin ich zum Kern der Angelegenheit vorgestoßen, dem Krotzen (siehe Fußnote) im Apfel der Geschichte von der

Mythologie der Kleinen Leute
Diese existiert in der ganzen Welt und in sämtlichen Gesellschaften. So gut wie immer handelt sie von kleinen fiesen Kerlchen, häufig mißgestaltet, die unter der Erde hausen und den Menschen selten wohl gesonnen sind.
So gut wie nie hörte man übrigens von Weibchen der Sippe - die hat erst in neuerer Zeit die Gleichberechtigung künstlich hinzugefügt. Wie künstlich (keineswegs künstlerisch) sie das zuwege gebracht hat, erkennt man aus der Bevorrechtigung die dem schönen Geschlecht die Hosen anzieht. In diesen neuen Geschichten hat immer die Frau das Sagen, und daß dies nicht gut geht - nicht gut gehen kann - liegt auf der Hand.
Nun ja - dort wo Männer das alleinige Sagen hatten, ist's ja auch nicht so gut gelaufen, nichtwahr …
Es scheint fast so, daß Männer immer der Frauen wegen Kriege vom Zaume brechen. Als Paris die schöne Helena entführte, mochte das Menelaos garnicht leiden und schon war der schönste Krieg im Gang. (Daß Helena vielleicht freiwillig mitging und überhaupt nicht daran dachte zurückzukehren, scheint Menelaos nicht in den Sinn gekommen zu sein.) Der Krieg dauerte zehn Jahre und wenn Odysseus nicht mit einer List die Eroberung Trojas eingefädelt hätte, wäre die Belagerung womöglich heute noch im Schwung und Schliemann hätte nichts auszugraben. Odysseus brauchte noch weitere zwanzig Jahre für den Weg nach Hause und diese ganze Zeit (insgesamt also dreißig Jahre!) blieb Penelope so schön und so treu wie am ersten Tag …
Wenn der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist, so ist der zum Paradies ein Fluß von Muttertränen …
Nun, wir wollten von der Mythologie der
kleinen Leute sprechen und sogleich erhebt sich die erste Frage: warum gibt es die?
Schau ihn dir an! Wenn die Arme so eines kleinen Mannes so kurz sind, daß er kaum an sein Ohr fassen kann; wenn er, um sich einen Teller aus dem Küchenschrank zu holen, erst eine Stellage bauen muß, um dranzukommen, dann ist er behindert!
Ein Bauer lädt sich einen Sack Kartoffeln auf die Schulter und pfeift ein Liedchen; ein Zwergwüchsiger bricht unter der Last zusammen. Und selbst wenn er die Kraft von hundert normalgroßen Kerlen hätte bliebe er darunter dennoch unsichtbar. Also ein Kartoffelsack als Tarnkappe?
Daß so ein kleines Kerlchen, das mit tausend Schwierigkeiten - die wir Normalwüchsige als solche überhaupt nicht wahrnehmen - kämpfen muß, nur um einigermaßen zurechtzukommen, daß der nicht glücklich ist, ist sonnenklar!
Das ist heute so und war früher nicht anders.
Und wenn du Augen und Ohren nicht hermetisch verschließt weißt du jetzt den Grund für seine schlechte Laune. Für seine früher ständig, heute seltener zur Schau getragene Feindseligkeit normal gebauten Menschen gegenüber auch. Was offen bleibt, ist die Frage nach den geheimnisvollen Schätzen, dem unterirdischen Gold und den Zauberkräften der Zwerge.
Sie haben natürlich weder das eine noch das andere, und hatten es auch nie. Wie sollte so ein kleiner Mann unter der Erde nach Gold schürfen, Juwelen aufklauben wie Kartoffeln aus dem Acker, unterirdische Schätze anhäufen? Weißt du wieviel das Zeug wiegt?
Gehaßt und verfolgt, weil er anders war, verkroch er sich, ließ sich so wenig wie möglich blicken, und das führte zu dem Irrglauben Zwerge wohnten unter der Erde wie Frodo. Das heißt, dies mochte sogar gelegentlich der Fall sein, nämlich immer dort, wo Menschen in Höhlen hausen - auch heute noch.
Heutzutage macht es keinen Unterschied, ob du groß bist oder klein, behindert oder gesund. Als Kind gehst du zur Schule, später studierst du oder ergreifst einen Beruf. Wer's kann, macht sein Glück und kommt zu Wohlstand. Das hat mit Gesundheit und Körpergröße wenig zu tun.
In früheren Zeiten war das nicht so. Schön, es gab den einen oder anderen behinderten König - Charles II. war bucklig, George III. wurde in seinen späteren Jahren schwachsinnig; zufällig fallen mir da gerade nur englische Könige ein - aber in aller Regel waren Behinderte und Kleinwüchsige, das heißt Zwerge, arme Schlucker.
Die Scharfsinnigen unter ihnen wurden Hofnarren - es gab seinerzeit zwar nicht jede Menge aber jede Menge mehr gekrönte Häupter als heute, und da Bildung damals Mangelware war mangelte es auch an Mitgefühl. Sie hielten sich Popanze - damit die als solche zu erkennen waren, mußten sie bunte Zatteltracht anlegen - und lachten über Witze die den Minister ihres Vertrauens den Kopf gekostet hätten; aber Eulenspiegel genoß Narrenfreiheit.
(Für den der's genau nimmt: der historische Eulenspiegel war kein Kleinwüchsiger. Der Name steht hier lediglich als Ikone der weisen Narrheit.)
Hier hatte wohl auch die Mär von den zauberischen Mächten und den sagenhaften Reichtümern der Zwerge ihren Ursprung. Das Kerlchen, das mit Körperkraft und Geschicklichkeit Normalwüchsiger nicht mithalten konnte, erfand als Ausgleich den Superzwerg. Hier entstand der Nachtelf Alberich - oder Oberon; Titanias Ehegatte war ein grotesker Zwerg - mit dem Siegfried sich anlegte, und der gute Gimli (oder wie auch immer Tolkiens Romanfigur ursprünglich geheißen haben mag.)
Nochmal zurück zu den körperlichen Aspekten: es gibt zwei Arten von Kleinwüchsigen. Da sind einmal die Normalgebauten - mit ihrer geringen Körpergröße entsprechenden, ebenmäßigen Gliedmaßen - sozusagen die Mini-Ausgabe der Gattung Mensch. Sie treten einzeln, als Grüppchen oder auch als ganze Zwergvölker auf.
Und dann sind da noch die stets einzeln auftretenden Zwerge: Menschen mit aufgrund von Gendefekten viel zu kurzen, fast stummelartigen Armen und Beinen. Wegen dieser kurzen Glieder wirkt bei ihnen der Kopf zu groß und der Rumpf zu lang. Sie können nicht normal gehen, sondern bewegen sich holpernd vorwärts und rudern dabei mit den Ärmchen um ihr Gleichgewicht zu halten. Das macht sie zur grotesken Erscheinung (was aber nichts über ihre geistigen Fähigkeiten aussagt.)
Sie verdienen unser Mitgefühl, aber zeig's ihnen um Himmelswillen nicht! Du solltest sie so normal ansprechen wie jeden anderen: kleine Leute haben auch ihren Stolz!
Und - wer weiß - vielleicht können sie ja doch zaubern …

Fußnote: Krotzen (rheinfränkisch) das Kerngehäuse einer Kernfrucht


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