STORIES


DER FLUCH DER EULEN

Teil 2

von Susanne Stahr



Die Legende

"Hast du es endlich?"
Araxo schreckte von dem Pergament, das er übersetzen sollte, hoch und umklammerte die Scheibe, mit der er während des Übersetzens gespielt hatte. Neben ihm stand Mullinas und trommelte mit den Fingern ungeduldig auf den Tisch. Er trug die weiße Schürze, die er sich immer umband, wenn er die Verbände der Kriegerin wechselte.
"Es tut mir Leid", antwortete Araxo seufzend. "So ein Gemisch aus Alt-Gromora und Kajomi habe ich noch nie gesehen. An manchen Stellen ist die Schrift auch so verblasst, dass ich sie fast nicht lesen kann. Außerdem habe ich ja auch noch andere Pflichten." Den letzten Satz fügte er in scharfem Ton hinzu. Der Alte sollte doch endlich einsehen, dass eine Arbeit, die er selbst nicht schaffte, kein Kinderspiel war. Als er aber die Enttäuschung auf dem Gesicht des Gelehrten sah, taten ihm seine scharfen Worte wieder Leid.
Er wohnte nun schon seit zwei Wochen bei Mullinas und in dieser Zeit war in Araxo eine gewisse Sympathie für Mullinas gewachsen. Er konnte es sich selbst nicht erklären, wie das kam. War es die unermüdliche Fürsorge, die der Alte bei der Pflege der Kriegerin an den Tag legte? Beeindruckte ihn das umfassende Wissen Mullinas'? Oder verband sie der tief im Innern sitzende Schmerz, den er auch bei seinem Arbeitgeber gefühlt hatte?
So wie Araxo von dem Makel eines Hurensohns überschattet war, schwebte auch über Mullinas' Seele eine dunkle Wolke. Araxo war es gewohnt, mit seiner unbekümmerten Art, seiner Akrobatik und kleinen Späßen, die Leute zum Lachen zu bringen. Er öffnete damit nicht nur ihre Herzen, sondern auch ihr Geldbeutel. Mullinas hatte er noch nie ein Lächeln abringen können, ganz gleich ob er Rad schlagend durch den Garten wirbelte um Gemüse zu ernten oder ob er mit Radieschen jonglierte. Er bekam dafür keine Schelte, seine Akrobatik wurde einfach ignoriert und das machte ihn nachdenklich. Ach was, schalt er sich selbst, trug nicht jeder Mensch seine ganz persönliche Wolke mit sich herum?
"Ich habe den ersten Teil fertig", meinte er mit entschuldigendem Schulterzucken. "Wie es zu dem Fluch kam. Die Eulen ..."
"Lies es mir vor", unterbrach ihn Muilinas und ließ sich in einen Stuhl gegenüber Araxo sinken.
"Woher hast du diese alte Rolle?", forschte er, den Befehl missachtend. "In Owosso haben sie ein paar Schriftrollen in Kajonn, aber so ein Mischmasch ... Das muss aus der Zeit der Herrschaft der Kajom über Gromore stammen."
"Aus dem Beginn ihrer Herrschaft. Das ist etwa tausend Jahre her", korrigierte Mullinas milde. "Würdest du mir jetzt endlich den Text vorlesen?"
Araxo räusperte sich. "Als der edle Uligisal, Emir aller Kajoni, König über die fruchtbaren Grom-Ebenen und die Stadt Gromore war, lebte ein mächtiger Magier am Fuß des Boginki-Berges, eine halbe Wegstunde von der Stadtmauer entfernt. - Damals war die Stadt wohl noch nicht so groß wie jetzt"
"Fahre fort! Soweit bin ich selbst schon gekommen."
Schulter zuckend beugte sich der junge Mann wieder über seine Abschrift. "Lange Zeit lebte er allein in seinem Haus und braute Kräutertränke für die Kranken. Er hatte Macht über Dämonen und sprach mit den Drei Schwestern, den Hüterinnen Gromores, wenn sie von ihrem allabendlichen Rundflug über die Stadt zurückkehrten. Manchmal sangen sie für ihn eines ihrer betörenden Lieder. Der König war ihm wohlgesinnt, denn der Magier hatte der Königin bei einer schweren Geburt beigestanden und ihr Leben gerettet.
Eines Tages wurde Gromore von einer schrecklichen Seuche heimgesucht. Die Menschen welkten dahin wie das Laub im Herbst. Zuerst starben die Armen, dann die Alten, dann die Kinder. Auch der kleine Sohn des Emirs erkrankte. Da ließ der Herrscher den Magier holen und befahl ihm, den Prinzen zu heilen.
Der Magier gab dem Kinde seine besten Tränke, doch sie halfen nicht. Der Prinz wurde immer schwächer und schwächer. Da besann sich der Weise auf ein Heilmittel, das ihm die Drei Schwestern verraten hatten, die Frucht der Heiligen Bäume. Der Junge aß die Frucht und sein Zustand besserte sich ein wenig. Da schickte der Emir seine Diener mit dem Befehl, die Heiligen Bäume abzuernten, Der Magier warnte den Herrscher, wenigstens eine Frucht hängen zu lassen, doch der lachte nur.
Die Drei Schwestern ließen die Lakaien gewähren. Als sie jedoch auch noch die letzte Frucht nahmen, stießen sie ein schreckliches Geheul aus, wie es Gromore noch nie erlebt hatte. Dunkle Wolken zogen auf. Die Drei Schwestern flogen ein letztes Mal über die Stadt, dabei sangen sie: ‚Tausend Jahre wird die Sonne ihr Antlitz verbergen. Tausend Jahre und mehr, erst wenn die Frucht zum Baum zurückkehrt, wenn der Weise zum Narren wird, wenn der Tod das Leben hegt, erst dann werden die Seelen der Drei Schwestern zurück kehren, werden die Bäume wieder grünen, wird die Wolke fliehen und Gromore wieder die Sonne sehen.'
Das ist der Fluch und zugleich ein Rätsel. Ich habe mir schon Gedanken gemacht ..."
"Das Denken kannst du mir überlassen", unterbrach ihn Mullinas harsch und deutete auf eine Schriftrolle, die am Tisch lag. "Hier sind Berichte über die Drei Schwestern. Die brauche ich als Nächstes. Es gibt so viele Legenden, die sich untereinander widersprechen. Vielleicht bringt dieser Text Ordnung in das Durcheinander."
"Welche Widersprüche?", forschte Araxo.
"Nun, einmal sind es drei Frauen, dann wieder drei Eulen. Die Früchte werden einmal als das ultimative Heilmittel bezeichnet, dann wieder als Gift. Die Rolle des Magiers ist auch nicht ganz klar. Also, mach dich an die Arbeit."
"In Preoria, meiner Geburtsstadt, erzählt man sich die Geschichte ..."
"Du stammst aus Preoria?", fuhr ihm der Gelehrte dazwischen.
"Ja, hast du etwas dagegen? Preoria ist eine schöne Stadt."
"Ich kannte vor langer Zeit jemanden in Preoria", murmelte Mullinas mehr zu sich als zu Araxo.
"Ich kenne dich nicht", gab Araxo ein wenig grob zurück, weil er sich über Mullinas' ständige Unterbrechungen ärgerte. "In unserer Geschichte heißt es, dass die Drei Schwestern Baumgeister waren, die jeden Abend in Gestalt von Eulen über die Stadt flogen um böse Geister zu verjagen. Sie konnten sich auch in wunderschöne Frauen verwandeln. In dieser Gestalt sangen sie betörende Lieder für die, denen sie wohlgesinnt waren. Die Früchte, die auf ihren Bäumen wuchsen, heilten jede Krankheit. Jedermann durfte sich eine davon holen. Es musste aber zumindest eine davon am Baum bleiben, denn wer die letzte Frucht aß starb eines schrecklichen Todes. So steht es ja auch in diesem Kajonn-Text.
‚Der Prinz aß die Früchte und die Krankheit schwand aus seinen Gliedern. Als er jedoch die letzte gegessen hatte, schrie er laut auf und stürzte zu Boden. Sein Fleisch wurde schwarz und fiel von den Knochen. Wenig später hatte ihn der Tod ereilt. Da befahl der Emir, die Bäume zu fällen und die Eulen zu töten. Als seine Diener aber auf den Boginki-Berg stiegen, sahen sie schon von weitem, dass die Bäume alle Blätter abgeworfen hatten. Die Drei Schwestern standen in menschlicher Gestalt vor den Stämmen. Da schossen die Männer des Emirs auf die Frauen. Augenblicklich verschwanden die Schwestern und drei Blitze stiegen in den Himmel. Einer schlug neben der Hütte des Magiers ein, der zweite zerstörte den Palast des Emirs und der dritte flog weit in die Grom-Ebene hinein. Die Heiligen Stämme aber wiesen seit dieser Zeit Löcher von der Größe einer Männerfaust auf.'
Man sagt, die Blitze seien die Essenz der Magie der Drei Schwestern gewesen. Wo ist da der Widerspruch?"
"Ist das nun der vollständige Text?", ignorierte der Gelehrte Araxos Frage.
"Nein, es fehlt noch ein Stück. Etwas über den Magier. Daran habe ich gerade gearbeitet als ihr mich unterbracht. Soll ich es nun vollenden oder wollt ihr zuerst den Text der anderen Schriftrolle übersetzt haben? Falls Ihr beides wollt, müsstet Ihr Euch heute selbst um das Mittagessen kümmern."
Eine tiefe Falte erschien zwischen Mullinas hellen Brauen. Etwas an diesem jungen Mann, der aus Preoria stammte und denselben Namen wie sein verstorbener Vater trug, irritierte den Weisen. Gleichzeitig gelang es ihm nicht, böse zu werden. Was dieser Bursche sich manchmal heraus nahm... Von keinem anderen Diener hätte er sich das bieten lassen.
"Kümmere dich zuerst um den Kajonn-Text. Dann mach Essen. Das Alt-Gromora kannst du dir am Nachmittag vornehmen", brummelte er. Dann gab er sich einen Ruck. "Ich bin bis jetzt sehr zufrieden mit dir", sagte er und verließ schnell das Zimmer. Es war lange her, dass er jemandem Lob gespendet hatte. Warum hatte er das nur getan?
Preoria! Der Stachel in seiner Seele brannte. Nein, er wollte nicht daran denken. Es gab so viel zu tun. Die Kriegerin musste versorgt werden. War noch genügend Heilsalbe da für einen Verbandwechsel?

Rigunthis und die Namenlose Rachegöttin

Rigunthis sank durch einen dichten Nebel. Dabei zog sie etwas wie eine Schnur hinter sich her. Es war ihr einerlei. Sie sehnte sich nur nach Ruhe.
Da erschien ein Licht in dem Nebel. Kam es näher oder glitt sie selbst auf den hellen Schein zu? Auch das weckte kein Interesse bei der Kriegerin. Und plötzlich stand sie vor ihr, der schlangenhaarigen Namenlosen Rachegöttin. Etwas seitlich standen fünfzehn Männer gefangen in einem wirbelnden Kreis von Farben. Die meisten trugen stolze, trotzige Mienen. Einige blickten sie wütend, ja rachedurstig an. Etwas, das alle gemeinsam hatten, war der Ausdruck ihrer Augen. Tot, ohne jegliches Gefühl waren sie. Rigunthis empfand bei ihrem Anblick nur Ekel.
"Unser Pakt ist erfüllt, Wölfin", erklang die schreckliche Stimme der Göttin in Rigunthis Kopf. "Nun werden wir über sie richten." Die Schlangen zischten und wanden sich, verschlangen sich zu Knoten und entwirrten sich wieder. "Wisst ihr, warum ihr getötet wurdet?", richtete sich die Göttin an die Krieger.
"Nein! Wir wissen es nicht!", riefen einige.
"Es war ungerecht!", antworteten andere.
"So seht euch diese Frau an", befahl die Göttin. "Wisst ihr es nun?"
Fünfzehn Gesichter wandten sich Rigunthis zu. "Ja, wir wissen es!"
"Bereut Ihr eure Tat?", wollte die Göttin wissen.
Nun riefen alle durcheinander. "Sie wollte es doch!"
"Eigentlich sollte sie uns dankbar sein. Mit so einem Gesicht hätte sie doch nie einen Mann bekommen."
"Sie ist doch gar kein richtiger Mensch!"
"Es war doch Krieg! Da ist alles erlaubt!"
"Sie hat meinen Bruder erstochen!"
"Sie hat nichts anderes verdient!"
"Der Graf wollte uns unseren Sold nicht bezahlen. Da haben wir ihn uns eben geholt!"
"Ja! Der Graf ist Schuld! Er hatte nichts dagegen!"
"Das ist richtig! Nach dem Kampf hat er uns sogar bewirtet!"
"So was passiert eben in der Hitze des Gefechts!"
Stumm hatte Rigunthis die Rechtfertigungen ihrer Peiniger angehört. Sie fühlte nichts dabei. Dieses schreckliche Erlebnis und all die Kämpfe danach schienen zu einer anderen Rigunthis zu gehören. Sie selbst fühlte sich leer und müde.
"Ihr alle fühlt euch im Recht?", fragte die Göttin noch einmal
Da trat einer der Männer vor. Rigunthis erkannte, dass in seinen Augen noch ein winziger Funke Leben glomm. "Es war unrecht", gestand er. "Wir waren so wütend auf den Grafen, weil er uns betrogen hatte. Ich ließ mich mitreißen, aber jetzt sehe ich, dass es falsch war."
Er senkte den Kopf und die Kriegerin wusste instinktiv, dass er echte Reue empfand, dass er sich schämte, dass er das Ausmaß des Leides, das er und seine Kameraden Rigunthis zugefügt hatten, erahnte und es nicht wagte, um Verzeihung zu bitten.
"Verzeihst du ihm?", fragte die Göttin und Rigunthis nickte.
"So soll ihm Gnade widerfahren." Der Reumütige schwebte aus dem Kreis der Krieger. Ein goldenes Licht umfing ihn und trug ihn davon.
"Euch aber", wandte sich die Göttin an die Vierzehn. "verdamme ich dazu, all die Schmerzen und das Leid zu fühlen, das ihr dieser Frau zugefügt habt, bis die Allmutter euch zu einem neuen Leben ruft." Sie hob die Hand mit dem Schwert und vollführte eine elegante Geste.
Der Farbwirbel, in dem die Männer gefangen waren, wurde kleiner und kleiner, bis er endlich verschwand. Es dauerte eine Weile und die ganze Zeit ertönten die Schreie der Uneinsichtigen und das Gewinsel um Gnade derer, die nun erst begriffen.
"Reut es dich, dass du sie getötet hast?", fragte die Göttin nun Rigunthis.
"Nein", dachte diese.
"Erfüllt es dich mit Genugtuung?"
"Nein, ich fühle gar nichts", antwortete die Kriegerin. "Ich bin nur müde."
"Willst du in den Schoß der Allmutter zurück kehren?"
"Ja, das will ich." Plötzlich fühlte Rigunthis eine große Sehnsucht nach Geborgenheit und Frieden. Das konnte sie nur bei der Alimutter finden.
"Sie darf noch nicht gehen", erhob sich da eine weiche Stimme, die fast wie ein Singen klang.
Überrascht sah sich die Kriegerin um. Neben ihr war eine wunderschöne Frau erschienen. Ihr Gewand erschien duftig und leicht, fast wie ein Gefieder.
"Sie hat meine Seele gefunden", erklärte die geheimnisvolle Frau. "Die Zeit ist erfüllt. Der Fluch kann gelöst werden. Sie ist eine der drei Auserwählten."
"Nein, ich will nicht!", rief Rigunthis. "Alle, die ich geliebt habe, sind tot. Meine Rache ist erfüllt. Es gibt nichts mehr, das ich in diesem Leben tun könnte."
"Hast du alles vergessen, was ich dich gelehrt habe?", fragte da eine Stimme, die in Rigunthis eine Saite zum Schwingen brachte. Da stand Garelis und sah sie traurig an.
Rigunthis konnte diesem Blick nicht stand halten. Erinnerungen überfielen sie. Die Namen von Kräutern und ihre Wirkungen zogen ungebeten durch ihren Geist. "Aber ich bin doch so müde!", seufzte sie.
"Du wirst dich erholen", versprach die Kräuterfrau und nahm sie in die Arme. "Deine Seele sehnt sich nach Ausgleich."
"Mein Leben ist erfüllt. Es gibt nichts, das mir die Welt der Menschen noch bieten kann."
"Es gibt noch eine letzte Pflicht", erklärte die schöne Frau. "Danach wirst du im Licht der Sonne wandeln."
Diese Worte drangen in Rigunthis' Herz und weckten eine unstillbare Sehnsucht. "So sei es", ergab sie sich.
Die Göttin, Garelis und die schöne Frau verschwammen. In ihrer Seite tobte ein höllischer Schmerz. Fremde Hände taten etwas mit ihr, das sie nicht verstand. Doch sie fühlte sich zu schwach, um sich zu wehren. Mit unendlicher Mühe gelang es ihr, die Augen ein wenig zu öffnen. Ein alter Mann stand über sie gebeugt und reinigte eine hässliche Wunde an ihrer Seite. Schrecklicher Durst überfiel sie. Wie konnte sie sich nur verständlich machen? Ob der Mann ihre Zeichensprache verstand? Verzweiflung überfiel sie als sie erkannte, dass sie zu schwach war um die Hand zu heben.
Inzwischen legte der Fremde geschickt einen Verband an. Das musste ein Arzt sein. Als er fertig war, sah er sie prüfend an.
"Ah! Du bist endlich wach", brummte er. "Sicher hast du Durst." Vorsichtig stützte er ihren Kopf und hielt einen Becher an ihre Lippen. Rigunthis roch ein Gemisch aus Heilkräutern. Dankbar trank sie.
"Das war die Medizin", erklärte der Arzt. "Jetzt bekommst du etwas gegen den Durst." Ein anderer Becher wurde gegen ihre Lippen gedrückt und Rigunthis trank den Saft der Schwarzen Johannisbeere.
Nun konnte sie auch ihre Hand heben und das Zeichen für Dank formen.
"Hm. das hat wohl irgendeine Bedeutung", meinte der Mann und rieb sich das Kinn.
"Nun, das hat Zeit. Ich bin Mullinas. Du hast mir einen großen Dienst erwiesen, als du die Einbrecher getötet hast, die mein Heim überfielen. Ich würde nur gern wissen, warum du das getan hast. Nun ja, wenn du wieder gesund bist, wird sich auch dieses Rätsel lösen."
Rigunthis' Augen fielen zu und sie fiel in einen traumlosen Schlummer. Eine Weile betrachtet der Gelehrte das stille Gesicht, dann holte er eine goldene Scheibe aus ihrer Satteltasche und sah sie sinnend an. Konnte es ein Zufall sein, dass er, die Kriegerin und der Schreiber so eine Scheibe besaßen?

Das Rätsel

Mullinas saß in seinem Studierzimmer und sah gedankenverloren zum Fenster hinaus. Seine Hand spielte mit der goldenen Scheibe, die er in Logrens Kittel gefunden hatte. Geheimnisvolle Zeichen zierten die eine Seite, die andere war glatt. Er hatte sie damals für einen alten Talisman gehalten. Jetzt dachte er anders. Drei identische goldene Scheiben. Das musste etwas zu bedeuten haben.
Nach dem vereitelten Überfall hatte er Araxo auf die Suche nach dem Pferd der Kriegerin geschickt. Der Junge hatte es auch am Weg zu den Drei Schwestern gefunden und in den kleinen Stall gebracht, der zu dem Anwesen gehörte. In ihrer Satteltasche hatte Mullinas die Scheibe gefunden.
Er musste nach der Kriegerin sehen, dachte er. In den letzten zwei Wochen hatte sie sich erstaunlich gut erholt. Ihre Wunde heilte schneller als er gedacht hätte. Araxo trug sie jeden Morgen in den Garten, da ihr die frische Luft gut zu tun schien.
Der Gelehrte hatte auch einen Weg gefunden, sich mit ihr zu verständigen, obwohl sie wegen ihrer Hasenscharte der Sprache nicht mächtig war. Rigunthis, so nannte sie sich, konnte ein wenig schreiben. Auf diesem Wege erklärte sie ihm ihre Zeichensprache. Dabei stellte sich heraus, dass sie ein erstaunlich großes Wissen über Heilpflanzen besaß.
Mullinas stand auf, nahm seine Scheibe und verließ sein Arbeitszimmer. Er fand Rigunthis im Garten. Auf Araxos Arm gestützt ging sie langsam zwischen den Gemüsebeeten auf und ab. Eine Weile sah der Gelehrte den Beiden zu. Die Kriegerin strauchelte und Araxo fing sie auf.
"Nun ist es genug", sagte er. "Wenn der Alte das erfährt, häutet er mich." Behutsam setzte er sie in einen weich gepolsterten Sessel.
"Ich werde dich beschützen", sagten Rigunthis Finger und beide lachten.
"Der Alte hat es gesehen und er wird dich häuten, wenn der Dame ein Leid geschehen ist", grollte Mullinas und trat zu ihnen.
Araxo warf ihm einen Blick zu, der diese Mischung aus Schuldbewusstsein, Berechnung und Spott enthielt, gegen die Mullinas einfach nichts tun konnte. "Darf ich dich um die Gnade bitten, oben zu beginnen?", fragte er unschuldig.
"Was?" Der Arzt kontrollierte bereits den Verband und fand, dass es Rigunthis den Umständen entsprechend recht gut ging.
"Na, die Sache mit dem Häuten."
"Ach!" Der Gelehrte machte eine wegwerfende Geste. "Ich habe ganz andere Sorgen. Hast du den Kajonn-Text endlich übersetzt? Ich kann mich nicht erinnern, dass ich dir frei gegeben hätte."
Sofort wurde Araxo ernst. "Ja, Meister. Er handelt von dem Magier. Soll ich...?"
"Bring mir einen Stuhl und lies mir den Text vor", befahl er und Araxo eilte dienstbeflissen davon.
Araxo kauerte sich neben Rigunthis' Stuhl und begann: "Das Dokument enthält eine genaue Ortsbeschreibung, wo sich das Haus des Magiers befand. Wenn ich es richtig verstanden habe, müsste das nicht weit von hier sein."
"Als mein Großvater dieses Haus bauen ließ, fand man die Fundamente eines kleinen Gebäudes", warf Mullinas aufgeregt ein. "Das könnte die Hütte des Magiers gewesen sein! Weiter!"
"Die Seelen der Drei Schwestern flogen als Blitze in drei verschiedene Richtungen. Eine bohrte sich neben dem Haus des Magiers in die Erde. Im nächsten Jahr wuchs dort eine Silberpappel ..."
"Die alte Silberpappel!", rief der Gelehrte nun aus.
"Die zweite Seele schlug im Palast des
Emirs ein. Der Palast stand nahe des Grom. Meiner Schätzung nach müsste das dort sein, wo jetzt das Armenviertel ist. Die dritte Seele flog am weitesten und verbarg sich zwischen den Wurzeln einer jungen Platane. Wenn die Zeit erfüllt ist, werden die Seelen ans Tageslicht kommen. Kleinen Sonnen gleich werden sie sein und jede wird sich einen Menschen wählen, der sie in den verdorrten Leib einfügt, auf dass der Fluch gebrochen werde."
"Wir sind die Auserwählten!", rief Mullinas nun. "Kleine Sonnen!" Aufgeregt holte er seine Scheibe hervor. Mein Diener fand sie neben dem Stumpf der Silberpappel in meinem Garten."
"Ich habe auch so eine Scheibe", signalisierte Rigunthis. "Sie steckte zwischen den Wurzeln einer Platane einen Tagesritt westlich von Gromore."
"Und was ist mit dir?" Mullinas fixierte seinen Schreiber. "Du hast doch auch so ein Ding."
"Jaaaa", gab Araxo zögernd zu. "Ich fand sie in einem halb verfallenen Haus nahe des Grom."
"Es sind die Seelen der Drei Schwestern!", jubelte der Gelehrte nun und sprang auf. "Wir werden den Fluch brechen!" Hingerissen vor Begeisterung tanzte er durch seinen Garten. Unbewusst fanden seine Füße in den Tanz der jungen Krieger. Um mehr Bewegungsfreiheit zu haben, hob er seine Gelehrtenrobe. Dadurch wurden seine dürren Beine sichtbar, was einigermaßen grotesk aussah.
Rigunthis und Araxo sahen ihm mit großen Augen zu. Nie hätten sie geglaubt, dass dieser in sich gekehrte, stets würdevolle Mann sich zu einem solchen Gefühlsausbruch hinreißen ließe.
Da fiel es dem jungen Mann wie Schuppen von den Augen. Diesen Tanz kannte er doch! Zögernd stand er auf. Zaghaft zuerst, dann immer sicherer werdend, imitierte er die Tanzschritte des Alten. Mullinas fiel es zuerst nicht auf, doch dann stutzte er.
"Was tust du da?", fragte er verlegen innehaltend. Verwirrt schüttelte er den Kopf.
"Das wollte ich gerade Euch fragen", konterte Araxo. "Das ist doch der Tanz der jungen Krieger. Wart Ihr früher in der Armee?"
"Nein", gab Mullinas kurz zurück. "Wer hat dir diesen Tanz beigebracht? Du bist doch ganz sicher kein Krieger."
"Ich habe ihn den Kriegern abgeschaut und solange geübt, bis ich ihn konnte", erklärte Araxo trotzig. Er mochte den sezierenden Blick nicht, mit dem ihn der Alte bedachte.
"Warum?", bohrte der Gelehrte.
"Mein Vater tanzte diesen Tanz, obwohl er ein Seidenhändler war", behauptete Araxo kühn.
"Ein Seidenhändler?", wiederholte Mullinas verwundert. "Wie war sein Name? Meine Familie handelt seit mehreren Generationen mit Seide. Ich kenne alle Seidenhändler in Gromore und den größeren Städten des Gromlandes. In Preoria gibt es nur einen Tuchhändler, der uns ab und zu einen Ballen Seide abnahm."
"Mein Vater stammte nicht aus Preoria. Ich habe ihn nie gekannt."
Araxo hatte nicht die Absicht, seine Schande vor Mullinas und Rigunthis einzugestehen. "Warum willst Ihr das wissen? Es ist meine Privatsache."
Ein Brennen wuchs in Mullinas' Brust. Die alte Wunde bekann zu schmerzen. Konnte es sein...? Nein, das wäre doch ... unmöglich! Aber, vielleicht doch? "Wie heißt deine Mutter?", fragte er fast ängstlich.
"Verina", antwortete Araxo verwirrt.
"Warum ...?"
Ein Ächzen entrang sich Mullinas' Brust. "Verina! Meine schöne, wilde Verina!"
"Na und?" Was war nur mit dem Alten los? Araxo konnte sich dieses Verhalten nicht erklären. Dann wuchs ein wilder Gedanke in seinem Kopf. Konnte es sein, dass Mullinas...?
Der Alte ließ sich wieder auf den Stuhl fallen. "Ich habe sie geliebt. Für sie habe ich den Tanz der jungen Krieger getanzt. Sie mochte das so sehr. Aber sie konnte nicht treu sein. Wir hatten deswegen oft Streit, bis ich sie verließ. Vor 23 Jahren. Zu dieser Zeit erwartete sie ein Kind. Ich war nicht sicher, ob es mein Kind war, aber nun ... Wie alt bist du?"
"Äh, zweiundzwanzig ... aber ...?" Tiefe Verwirrung bemächtigte sich Araxos. Als kleines Kind hatte er sich oft seinen Vater als strahlenden Helden vorgestellt, der kam und die Jungen, die ihn quälten, verprügelte. Aber später hatte er diese Phantasien als Kinderkram aufgegeben. Nun sah er den Gelehrten genauer an. Das sollte sein Vater sein? Der Gedanke weckte in ihm Hoffnung, aber auch Furcht.
"Das Alter stimmt auch!", rief Mullinas aus. "Die Mutter, der Geburtsort, und dein Name ist der meines Vaters ... noch eine Prüfung, dann bin ich sicher. Zieh dein Hemd aus!"
"Was?"
"Alle männlichen Mitglieder meiner Familie haben ein Mal auf ihrer linken Schulter. Drei blaurote Tropfen in einer schrägen Linie. Hast du so ein Mal?" Mullinas Hände zitterten ebenso wie seine Stimme.
Wortlos öffnete Araxo sein Hemd und schob es von seiner linken Schulter. Das Mal war deutlich zu sehen. "Meine Mutter sagte, mein Vater hätte auch so ein Mal gehabt", meinte er langsam.
Da entblößte auch Mullinas seine linke Schulter. Die Haut war fahl und dünn vom Alter. Doch das Mal konnte jeder sehen.
"Das Rätsel! Die Prophezeiung!", rief Mullinas nun. "Wenn der Weise sich zum Narren macht .... Nun, das habe ich mit meinem Tanz zur Genüge getan, oder etwa nicht? Wenn die Frucht zum Baum zurückkehrt. Das kann doch nur heißen, wenn der Sohn zum Vater kommt. Oh, ich Esel! Warum habe ich ihr nicht geglaubt!"
Mit zitternden Knien kam er auf die Füße. Dann lagen sich die beiden in den Armen. Mullinas seufzte und schnäuzte sich schließlich in einen Zipfel seiner Robe. Nun fehlten ihm die Worte. Überglücklich tätschelte er Araxos Schulter.
Dem jungen Mann schossen tausend Gedanken gleichzeitig durch den Kopf. Nie wieder hungern! Nie wieder für ein paar Kupfermünzen den Narren spielen! Er war der Sohn eines wohlhabenden Mannes. Aber was sollte er tun? Weiterhin alte Schriften übersetzen? Ja, das wäre reizvoll. Aber zuerst war noch etwas zu erledigen.
"Da ist aber noch ein Teil", erinnerte ihn nun Araxo. "Wenn der Tod das Leben hegt." Ihm ging das alles viel zu schnell. Seine ganze Welt hatte sich innerhalb weniger Minuten auf den Kopf gestellt. So versuchte er, durch Sachlichkeit die Füße auf den Boden zu bekommen.
"Das muss sich auf Rigunthis beziehen", erklärte Mullinas trocken, auch wieder nüchtern werdend.
Vier Augen starrten die Kriegerin an. Ihre Hand gestikulierte so schnell, dass die Beiden nicht folgen konnten. Ungeduldig wiederholte sie die Gebärden langsamer.
"Bis ich zu deinem Haus kam, war ich eine Kriegerin, der Tod. Um Rache zu nehmen an denen, die mein Dorf vernichtet, meine Familie und Freunde getötet und mich geschändet haben, habe ich mein Leben der Namenlosen Rachegöttin gewidmet. Durch den Tod der vier Männer in deinem Haus ist meine Rache vollendet und die Namenlose Rachegöttin hat ihre Hand von mir genommen."
"Menschen, die sich der Namenlosen Rachegöttin weihen, sterben gewöhnlich, wenn sie ihre Rache vollendet haben", meinte nun Mullinas stirnrunzelnd.
"Es gab eine schöne Frau, die die Göttin umstimmte", sagten Rigunthis' Gebärden schlicht. ‚Meine Pflegemutter hat mich zur Heilerin ausgebildet und das möchte ich für den Rest meines Lebens sein."
"Dann ist die Prophezeiung erfüllt", rief Mullinas aus. "Du, die du den Tod gabst, wirst in Zukunft Leben hegen. Wir müssen nur die Scheiben in die Stämme einsetzen und Gromore wird wieder die Sonne sehen." Er sah Rigunthis an. "Du kannst nicht bis zu den Drei Schwestern gehen."
"Ich könnte eine Tragschlinge knüpfen", schlug Araxo vor. Er hatte eine solche Vorrichtung im Tempel der Heiligen Allmacht in Owosso gesehen. Alte oder Kranke wurden damit zu den Ritualen getragen.
"Dann mach dich an die Arbeit!" Mullinas wollte keine Zeit verlieren.
"Ich brauche breite Bänder und Stricke", meinte der junge Mann.
"Komm mit!" Eilig lief Mullinas in sein Arbeitszimmer und holte einige Münzen aus einer Schatulle. "Geh auf den Markt und kaufe, was du brauchst."

Schatten der Vergangenheit

So unbeschwert war Araxo noch nie über den Markt gegangen. Ohne Hast suchte er die besten Bänder aus, feilschte mit den Händlern und war auch sonst guter Dinge. Ich bin der Sohn eines großen Gelehrten, dachte er. Wir werden Gromore von der ewigen Wolkendecke befreien. Welch ein Ruhm würde ihnen dadurch zuteil! Araxo war am Ziel seiner Wünsche. Nun würde es niemand mehr wagen, ihn Hurensohn zu nennen.
Eben hatte er alles beisammen, da erklang hinter ihm eine quäkende Stimme: "Das ist er!"
Araxo fühlte sich nicht betroffen. Er schulterte seinen Einkauf und wollte sich auf den Weg zu Mullinas machen. Da fiel eine schwere Hand auf seine Schulter.
"Meint Ihr diesen Burschen?", fragte ein Wächter und drehte den jungen Mann herum.
"Ja, das ist er! Er wollte mich ermorden!" Ein feister Finger wies auf eine halb verheilte Wunde auf seiner Wange. "Und ich bin sicher, dass er auch den edlen Herrn bestohlen hat, der sich für meine Ware interessierte." Triumphierend grinste ihn der Händler an.
Nun sah Araxo noch zwei Wachen, die sich nun neben ihm aufstellten. An Flucht war da nicht zu denken.
"Das muss ein Irrtum sein, meine Herren", sagte er so ruhig er nur konnte. "Mein Herr, der edle Meister Mullinas schickte mich mit einem Auftrag auf den Markt." Zum Beweis hielt er den Wachen die Bänder und Stricke hin, die er gekauft hatte.
"Der lügt doch!", schrie der Händler erbost. "Er will sich doch nur heraus reden. Jeder weiß, dass der alte Mullinas ganz allein dort oben am Boginki-Berg wohnt. Nur einen alten Diener duldet er."
"Ich habe keinen Diener gesehen", erklärte Araxo ruhig. "Meine Aufgabe ist es, alte Schriften zu übersetzen. Ich bin im Haus der Schreiber ordnungsgemäß gemeldet."
"Wie heißt du, Bursche?", fragte endlich der Wachter, der noch immer seine Schulter fest hielt.
"Araxo, Herr", antwortete dieser schlicht. "Es muss sich um eine Verwechslung handeln." Wenn er sich so würdevoll als möglich verhielt, rechnete Araxo, konnte er sich vielleicht aus dieser Misere heraus winden.
"Du kommst erst einmal mit", bestimmte der Wächter. "Wenn sich herausstellt, dass du unschuldig bist, kannst du wieder gehen."
"Meister Mullinas wartet aber auf mich", wandte Araxo ein. "Er ist ein strenger Herr und wird sehr ungehalten sein, wenn ich mich zu sehr verspäte." Es hätte keinen Sinn gehabt, sich als Mullinas' verlorener Sohn auszugeben. Niemand hätte ihm geglaubt.
"Das wird sich schon noch zeigen", konterte der Wächter barsch und führte Araxo an dem hämisch grinsenden Händler vorbei.
Dieser konnte es sieh nicht verkneifen, hinter ihm her zu rufen: "Jetzt bekommst du deine gerechte Strafe, du Hurensohn"
Araxo fuhr wütend herum, aber der Wächter hielt ihn fest. Wenige Minuten später fand er sich in einer großen, mit Stroh ausgelegten Zelle, zusammen mit gut zwei Dutzend Leidensgenossen. Die Stricke und Bänder hatte man ihm abgenommen.
Da saß er nun. Der Traum von einem Leben mit seinem Vater kam ins Wanken. Er wusste genau, die Wachen hatten keine Eile, seinen Fall vor den Richter zu bringen. Er kannte einige der Insassen. Alle waren schon wochenlang inhaftiert.
Ein kleiner, grauhaariger Mann mit nur einem Auge kam auf ihn zu. "Araxo!", sagte er leise und bedauernd. "Haben sie dich nun doch erwischt? Wo denn?"
"Ach, Warne, es war am Markt", seufzte dieser mit gedämpfter Stimme. "Ich hatte einen ehrlichen Job und dann hat mich dieser fette Schneider verpfiffen."
Warne war ein geschickter Taschendieb, trotz des fehlenden Auges. Er und Araxo waren schon lange Freunde.
"Und du?", fragte nun auch Araxo.
"Auch auf dem Markt." Warne hob resignierend die Schultern. "Eine Wache im toten Winkel. Und meine Beine sind nicht mehr so flink - wie früher. Diesmal wird es der Kragen." Traurig ließ er den Kopf sinken. Der Kragen bedeutete Sklaverei.
"Vielleicht bekommst du ja einen freundlichen Herrn", versuchte ihn Araxo auf zu muntern.
Warne legte kurz seine schmale Hand auf Araxos Arm. "Ich danke dir, Bruder, aber ich bin auf alles gefasst."
Schweigend saßen sie nebeneinander. Der junge Mann fühlte sich ein kleines Bisschen besser, obwohl sich seine Situation nicht geändert hatte. Die Nähe des Freundes, geteiltes Leid, nahm ein wenig Druck von ihm.
Stunden später öffnete sieh die Tür und ein Wächter brüllte: "Baulas, Sittan, Karsin!"
Hinter ihm konnte Araxo einen weiteren Wächter erkennen, der Ketten in den Händen hielt.
Drei drahtige Männer in Lumpen erhoben sich und schlurften zum Ausgang. Dort wurden ihre Hände mit Ketten hinter dem Rücken gefesselt. Auf ein gebelltes Kommando marschierten sie hinaus und die Tür schlug zu.
"Die waren schon da als ich kam", murmelte Warne. "Vier Wochen, sagten sie."
"Mein Meister wird mich früher herausholen", gab Araxo zurück. "Ich habe einen Job zu erledigen, einen sehr wichtigen." Sekundenlang überlegte er, ob er Wame von der goldenen Scheibe erzählen sollte und entschied sich dann dagegen.
Schon am nächsten Tag, irgendwann gegen Mittag, öffnete sich wieder die Tür und der Wächter brüllte: "Araxo!"
Überrascht sprang der junge Schreiber auf. "Ich?" Sein Blick suchte Mullinas. Aber hinter dem Wächter stand nur ein zweiter Mann mit Ketten in den Händen.
"Wenn au Araxo bist!" schnauzte der Wächter ungeduldig und wedelte mit der Hand.
Mit einem leisen Zittern in der Brust machte sich Araxo auf den Weg. Er wurde, flankiert von den Wächtern, in einen hohen Raum geführt, der von einem großen Tisch, auf dem ein Haufen Papiere und Symbole der wichtigsten Gottheiten Gromores lagen, dominiert wurde. Dahinter saß der Richter in einer schwarzen Robe. Links neben dem Tisch saß der Schneider auf einem niedrigen Hocker, ein selbstgefälliges Grinsen im Gesicht. Der Schnitt war noch immer nicht vollständig verheilt. Neben ihm saß der Geck.
Auf der anderen Seite stand Mullinas und sah seinen Sohn forschend an. Es gelang Araxo nicht, diesem blick stand zu halten und er hasste sich dafür.
"Der edle Schneidermeister Abnoba beschuldigt dich, ihn grundlos mit einem Messer attackiert zu haben, Araxo", begann der Richter. "Was sagst du zu dieser Anschuldigung?"
Araxo sah Muilinas an, in dessen Blick sich Sorge, aber auch die Angst vor einer Enttäuschung spiegelte. Würde ihn Mullinas fortjagen, wenn er erfuhr, welches Leben er in Gromore geführt hatte? Ein kleiner Teufel flüsterte in seinem Hinterkopf: "Du Kannst dich heraus reden. Was ist schon eine kleine Notlüge?" Ja, das war die Lösung! Nein, diese Lüge würde immer zwischen ihnen stehen und wenn sie aufflog? Er musste es riskieren.
"Ja, ich habe dem Schneider das Messer durchs Gesicht gezogen, aber nicht grundlos, sagte er mit fester Stimme.
"Er lügt!", schrie Abnoba erbost.
"Weichen Grund gab er dir für diesen Angriff?", fragte der Richter, den Schneider ignorierend.
"Er nannte mich einen Hurensohn. Ich habe meine Ehre verteidigt."
Nun warf der Richter dem Schneider einen scharfen Blick zu, unter dem dieser zu schrumpfen schien. "Kannst du die Namen deiner Eltern nennen?"
"Meine Mutter ist Verina, die Stickerin aus Peoria und mein Vater..." Er warf Mullinas einen fragenden Blick zu. Als dieser nickte, fuhr er fort: "Mein Vater ist Meister Mullinas von Gromore. Das wusste ich aber damals noch nicht, nur dass mein Vater ein ehrenwerter Mann Ist..."
Das Gesicht des Schneiders wurde blass, sodass die halb verheilte Wunde rot hervor trat. Der Geck riss die Augen auf und starrte Mullinas unverhohlen an.
Auch der Richter zog überrascht die Augenbrauen hoch. "Könnt Ihr das bestätigen, Meister Mullinas?", fragte er.
"Das habe ich Euch doch schon gesagt", antwortete dieser ungehalten.
Diese Aussage wurde mit einem "Hrrrm!" quittiert. Der Richter blätterte in seinen Papieren. "Hast du den Angeklagten beleidigt, Meister Abnoba'"
"Also, das ... daran kann ich mich nicht mehr erinnern", stotterte dieser. "Er sprang auf mich zu und ..."
"Das heißt also‚ du hast." Nun wandte sich der Richter Araxo zu. "Weichen Grund hatte er, dich zu beleidigen?
"Er wollte dem feinen Herrn ein schlampig genähtes Jäckchen zu einem überhöhten Preis verkaufen. Die Nähte bogen sich wie Regenwürmer und an der Seite ..."
"Das ist eine infame Verleumdung!", brüllte nun der Schneider. "Meine Arbeiten sind alle tadellos!"
"Die Nähte waren krumm", meldete sich zum ersten Mal der Geck zu Wort und was er sagte, sagte er mit Nachdruck.
"Der Edle Ovilion bestätigt die Worte des Angeklagten", erklärte der Richter trocken. "Was sagt Ihr nun, Meister Abnoba?"
"Ähem, also ... nun ..." Verlegen verstummte der Schneider.
"Du kannst gehen!" Eine Handbewegung des Richters und eine Wache führte Abnoba hinaus.
"Nun gibt es noch eine weitere Anklage von dem Edlen Ovilion", fuhr der Richter ungerührt fort. "Es betrifft seinen Geldbeutel. Hast du ihn gestohlen?"
Araxo sah Mullinas an und las in seinem Blick die Suche nach der Wahrheit und den Schmerz, den sie hervor rufen könnte. Er holte tief Luft. "Ja", antwortete er mit gesenktem Kopf. "Ich hatte Hunger. Aber ich könnte dem Edlen Ovilion den Verlust ersetzen. Meister Mullinas zahlt mir jede Woche ein Silberstück für Übersetzungen." Vorsichtig hob er den Blick und spähte zu dem Geck.
Dieser strich nachdenklich über sein Kinn. "Damit wäre ich einverstanden. In dem Beutel waren sechs Silberstücke und ein wenig Kupfer."
Wortlos zählte Mullinas sieben Silberstücke in die Hand des Gecken, worauf sich dieser mit einer gezierten Verbeugung verabschiedete.
"Hrrrm", hob der Richter wieder an. "Du hast einen Diebstahl begangen. Dafür musst du bestraft werden. Da du dich reuig und geständig gezeigt hast, bin ich geneigt, das Strafmaß geringer anzusetzen als üblich. Zwanzig Peitschenhiebe."
Zwei Wächter packten Araxo an den Armen und schoben ihn aus dem Raum. Dass Mullinas ihnen folgte, sah er nicht. Sein Magen krampfte sich vor Angst zusammen.
Eine halbe Stunde später schleppte er sich neben Mullinas den Berg hinauf. Sein Rücken war eine Oase des Schmerzes. Immer wieder biss er sich auf die Lippen um nicht laut zu stöhnen. Sein Blick war starr auf seine Füße gerichtet, denen er stumm jeden Schritt befehlen musste. Zweimal war er schon vor Schwäche auf die Knie gesunken. Mullinas hatte dies nur mit einem strengen: "Steh auf!" quittiert. So hatte er sich wieder auf die Füße gequält und betete, dass der Weg doch endlich zu Ende wäre.
Nach einer schieren Ewigkeit erreichten sie endlich Mullinas' Haus. Dort führte ihn sein Vater in sein Arbeitszimmer. Dort zog er ihm das Hemd aus. Dies entfachte neuen Schmerz.
Die Peitsche hatte seine Haut aufspringen lassen. Auf dem Weg zu Mullinas' Haus war sein Hemd an den Striemen festgeklebt. Araxo sog heftig die Luft durch die Zähne. Mit geübten Fingern trug der Gelehrte nun Salbe auf.
"Es tut mir so Leid", sagte Araxo leise. "Ich bin nicht wert, Euer Sohn zu sein."
"Du bist mein Sohn, weil ich dich gezeugt habe", gab Mullinas grob zurück, "Aus keinem anderem Grund. Und du wirst das Geld abarbeiten. Das sind noch drei Wochen Dienst. Nun mach dich an die Arbeit! Ich will in einer Stunde essen."
"Und die Drei Schwestern?", wagte Araxo einzuwenden.
"Das Werk kann nicht mit Groll im Herzen getan werden. Das habe aus den Schriften gelesen. Geh jetzt!"
Auf wackeligen Knien ging Araxo in die Küche. Es war ihm nicht ganz klar, ob er erleichtert oder besorgt sein sollte. Bedeuteten diese drei Wochen, die Mullinas erwähnt hatte, dass er dann aus dem Haus gejagt wurde?

Die Heilung der Drei Schwestern

Die nächsten Tage verbrachte Araxo in bedrückter Stimmung. Er vergrub sich in seine Arbeit. Vorbei war es mit seinen Plauderstunden mit Rigunthis. Bis in die Nacht hinein saß er über den Schriftrollen, die ihm Mullinas gegeben hatte. Dabei missachtete er den Schmerz in seinem Rücken bis er von selbst verging.
Wenn sie gemeinsam zu Tisch saßen, verhielt er sich schweigsam und antwortete nur, wenn er gefragt wurde. Rigunthis versuchte von Zeit zu Zeit mit ihm ins Gespräch zu kommen, doch er winkte nur ab. "Ich habe zu tun", sagte er und beugte sich wieder über seine Übersetzungen. So entging ihm auch, dass sich der Gesundheitszustand der ehemaligen Kriegerin immer mehr besserte.
Sie macht nun jeden Tag Spaziergänge in den Garten, die sie immer mehr ausdehnte. Nach drei Wochen öffnete sie die kleine Tür im hinteren Teil des Gartens und ging den Pfad zu den Drei Schwestern. Sie erinnerte sich noch genau, was sie damals, als sie den Berg herunter gekommen war, empfunden hatte und war neugierig, wie es nun sein würde.
Die drei toten Bäume standen da wie immer und streckten ihre kahlen Äste in den wolkenverhangenen Himmel. Rigunthis ging langsam näher. Es war absolut windstill. Dennoch glaubte sie ein Wispern wie das Rascheln von Laub zu hören. Ein Rascheln? Nein, es waren Stimmen. Sie waren nur so leise, dass sie sie nicht verstehen konnte. Sie baten, drängten. Wie in Trance nahm die junge Frau die goldene Scheibe aus ihrer Gürteltasche. Angestrengt lauschend legte sie den Kopf schief. Was sagten die Stimmen? Wenn die Sonne am höchsten steht...? Nun wurde das Raunen und Wispern bedrückend.
Rigunthis holte tief Luft und wandte sich wieder ab. Schritt für Schritt ging sie zurück zu Mullinas' Haus.
"Ich kann selbst zu den Drei Schwestern gehen", signalisierte sie dem Arzt, als sie wieder im Haus war.
Mullinas winkte sie in sein Behandlungszimmer und untersuchte sie genau. Die Wunden hatten sich geschlossen. Es würden Narben bleiben, die sie aber nicht behindern würden.
"Ja, du hast dich gut erholt. So können wir das Werk beginnen", meinte er nachdenklich. "Zürne deinem Sohn nicht mehr", deuteten ihre Finger. "Er bereut zutiefst." "Das sehe ich", nickte er.
"Ich war bei den toten Bäumen", fuhr sie fort. "Dort habe ich eine Botschaft empfangen." "Was?" Seine Augenbrauen fuhren hoch. "Sie haben zu dir gesprochen?"
"Ja. Wenn die Sonne am höchsten steht..."
"Bist du sicher? Bisher hat niemand die Stimmen der Drei Schwestern verstehen können."
Sie richtete sich stolz auf. "Ich bin ganz sicher. Aber, wie kannst du den Stand der Sonne erkennen, wenn sie stets von Wolken verdeckt ist?"
"Man kann es an den Schatten erkennen", erklärte Mullinas kurz und rannte aus dem Raum. Eilig begab er sich in Araxos Zimmer. Der junge Mann saß wie immer über eine Schriftrolle gebeugt.
"Lass das sein!", rief Mullinas. "Wir müssen zu den Drei Schwestern!"
"Herr!", entgegnete Araxo. "Hier habe ich einen wichtigen Hinweis gefunden."
"Später. Dafür ist jetzt keine Zeit!"
"Aber, Herr! Hier steht, dass die Seelen der Drei Schwestern zurückkehren werden, wenn die Sonne am höchsten steht", rief der junge Mann verzweifelt. "Das ist doch ..."
"Das weiß ich schon!", schnauzte Mullinas. "Deshalb musst du eilen. Es ist gleich Mittag! Komm endlich!"
Kurze Zeit später standen sie vor den Drei Schwestern. Jeder hielt seine Scheibe in der Hand. Fast gleichzeitig drückten sie die Scheiben in die schwarzen Löcher in den Stämmen. Araxo in den linken, Rigunthis in den mittleren und Mullinas in den rechten Baum.
Ein Zittern lief durch die Stämme und erschütterte auch das Plateau, auf dem sie standen. Mit einem goldenen Leuchten verschmolzen die Scheiben mit den Bäumen. Plötzlich erfüllte die Luft ein fernes Singen. Die Äste schwangen durch die Luft als würden sie von einem Sturm gepeitscht, obwohl sich nicht einmal ein Lüftchen regte.
Die drei standen wie erstarrt und beobachteten, wie kleine, herzförmige Blätter aus den kahlen Zweigen sprossen. Das Singen wurde lauter und als die Bäume in der vollen Pracht ihres Laubwerks dastanden, erschienen plötzlich drei wunderschöne Frauen.
Ihr Haar war so grün wie das Laub der Bäume und ihre Augen hatten dasselbe hellblau wie die Blüten, die jetzt überall zwischen den Blättern aufsprangen. Gekleidet waren sie in lange, grünblaue Kleider. Jede von ihnen pflückte eine Blüte und gab sie einem der drei.
"Habt Dank!", sagten sie schlicht und waren verschwunden.
Araxo spürte plötzlich etwas Warmes auf seinem Kopf und seinen Schultern. Vorsichtig hob er den Kopf und kniff sofort die Augen zusammen. "Die Sonne!", rief er.
"Wie haben es geschafft!", freute sich nun auch Mullinas, legte je einen Arm um Rigunthis und seinen Sohn und drückte die Beiden an sich. "Seht!" Er deutete mit dem Kinn in Richtung Stadt, wo die jubelnden Menschen die Straßen füllten.
"Lasst uns feiern!", rief Mullinas und eilte den Pfad hinunter. Araxo folgte mit Rigunthis langsamer.
Da kam ihnen eine Gruppe kostbar gekleideter Männer entgegen. Araxo erkannte den Stadtkönig und seine Berater. Dahinter marschierte die Garde. Nun hatte Mullinas die Gruppe erreicht und die beiden blieben stehen. Diesen Augenblick des Triumphes wollten sie Mullinas allein genießen lassen. Sie konnten förmlich sehen, wie er wuchs.
Da drehte sich der Gelehrte um und winkte den beiden. "Das ist mein Sohn Araxo und die Dame Rigunthis, eine Kriegerin, die mein Haus vor Dieben beschützt hat, mein König. Gemeinsam haben wir die Seelen der Drei Schwestern zurück gebracht."
Der König lächelte den beiden huldvoll zu. "Nun will ich aber die Bäume sehen", erklärte er und ging den Berg hinauf. Er hielt es wohl für selbstverständlich, dass auch Mullinas, Araxo und Rigunthis ihm folgten.
Mullinas sah aber die Zeichen der Erschöpfung auf Rigunthis' Gesicht und bat: "Mein König, die Dame Rigunthis wurde bei der Verteidigung des Hauses schwer verletzt und ist noch nicht ganz genesen. Gestattet, dass wir sie ins Haus zurück bringen."
Der König warf der Frau einen scharfen Blick zu und nickte dann. "Ich gebe ein Fest zu Ehren der Drei Schwestern", sprach er. "Du, Mullinas, sollst zu meiner Rechten sitzen und dein Haus gleich daneben. Für die Dame Rigunthis werde ich eine Sänfte schicken."
Als sie das Haus erreichten, ging Araxo in sein Zimmer und packte seine wenigen Habseligkeiten. Plötzlich stand Mullinas in der Tür.
"Was machst du da?", fragte er.
"Ich packe meine Sachen", antwortete Araxo. "Ich habe meine Schuld abgearbeitet und ..." Die Stimme versagte ihm, weil er plötzlich einen dicken Knoten in seinem Hals spürte.
"Lass das sein", sagte Mullinas weich. "Hier ist dein Zuhause. Wenn du mir aber noch einmal Ärger machst, versohle ich dir eigenhändig den Hintern."

ENDE


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