STORIES


ST. MARTIN DU BOIS

Folge 6

von Fred H. Schόtz



Sechster Teil

Ein großer Kriegsrat war fällig. Fhafhrd war auf Spitzbergen begraben worden, seiner Heimat. Rupert war dabei gewesen und hatte den ergreifenden Moment miterlebt. Nur war er sicher, daß er die Stelle niemals wieder würde finden können, selbst wenn er sich noch soviel Mühe gab. Dr. Saebius - Seibeiuns - hatte wieder das magische Wort gesprochen und das Grab war für immer und unauffindbar verschlossen.
Fhafhrds Ruhe würde nicht gestört werden.
Die Halle war der einzige Raum im ganzen Gebäude wo Dr. Saebius aufrecht stehen konnte, also wurde der Rat dort abgehalten zumal sich Jeans Frühstücksmöbel noch dort befanden. Dr. Fraiser hatte das gesamte Personal zur Versammlung rufen lassen und Rupert, der alle mit der Zeit kennengelernt hatte, war doch von der Zahl der Menschen beeindruckt die sich jetzt hier zusammendrängten.
Es waren nicht genügend Stühle vorhanden gewesen und Jean ging zusammen mit Albert, dem Hausknecht, noch mehr Stühle - Gott allein wußte von woher - zu holen.
Endlich hatte jeder einen Stuhl auf dem er oder sie sitzen konnte. Das Hauspersonal hatte sich schüchtern am unteren Ende auf einen Haufen zusammengedrängt, nur Clementine, sich ihrer Stellung als Köchin wohlbewußt, saß Dr. Fraiser gegenüber. Sie hatte der Küchenhilfe befohlen neben ihr Platz zu nehmen und Hilde, die französisch nur schlecht sprach und englisch überhaupt nicht verstand, kauerte ängstlich auf ihrem Stuhl. Man sah ihr deutlich an, wie unwohl ihr war, sich in der Mitte des Geschehens zu wissen.
Aber niemand beachtete sie.
Dr. Saebius hatte wohl ursprünglich gedacht an der Stirnseite Platz zu nehmen. Er mußte jedoch einsehen, daß hier kein Möbelstück groß genug war und so tat er, was er bisher stets getan hatte, wenn er mit Menschen zusammenkam: Er setzte sich auf den Fußboden.
Dennoch überragte er alle, selbst die Drachen die am oberen Tischende standen; lediglich Tiamat war stehend ein kleines Stückchen größer.
Er wartete geduldig bis alle Platz genommen hatten und sich zurechtfanden, aber als das Tuscheln, Hüsteln und Füßescharren kein Ende nehmen wollte klopfte er energisch auf den Tisch.
Das klang wie ein Kanonenschuß.
Alle, selbst Dr. Fraiser, die nicht für Nervosität bekannt war, zuckten erschrocken zusammen und eines der Zimmermädchen, Marie, stieß einen spitzen Schrei aus. Woimmer ein Dutzend Franzosen zusammenkommt ist auch eine Marie dabei. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.
Diese Marie machte allerdings ihrem Namen keine Ehre, das heißt, wenn man dabei an die Mutter Gottes denkt. Von ihr erwartet man Geduld, Liebe und die Fähigkeit großes Leid zu ertragen. Unsere Marie trug als äußeres Zeichen ihrer Anschauung, nämlich Gleichbevorrechtigung der Frau, die sie auch gerne und oft mit großer Vehemenz verkündete, einen Bürstenschnitt.
Um so erstaunlicher war der Umstand, daß sie sich so leicht erschreckte.
Dr. Saebius sah in die Runde, einen nach dem anderen ansehend als wollte er sich ihre Gesichter einprägen. "Wenn ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte," sagte dann ruhig.
Woimmer Menschen beisammen sind hört man sie reden. Selbst wenn sie sich noch so sehr bemühen still zu sein, ein Getuschel und Geraune hört man immer.
In dem Moment, als Dr. Saebius um Aufmerksamkeit bat, hättest du eine Stecknadel zu Boden fallen hören können. Mancher Mund blieb offen stehen. Es herrschte wie man so sagt, Grabesruhe.
Die Stille des Grabes ist dem Menschen unerträglich. Dr. Saebius war klar, daß sie nicht lange anhalten konnte. Er mußte sich beeilen, wenn er was er sagen wollte, an den Mann bringen wollte.
"Wir alle wissen, um was es hier geht," hob er an. "Wir haben drei Todesfälle zu beklagen."
Die Augen aller Anwesenden klebten an ihm. Manche Münder klappten zu aber die Stille dauerte fort; keiner sprach.
Diese Stille war unheimlich und sogar Dr. Saebius rang um Selbstbeherrschung obwohl es ihm niemand ansah. Nur Mona sah mit gerunzelten Brauen zu ihm hoch; sie kannte ihren Vater.
"Bisher drei Tote," fuhr er fort und betonte dabei das Wort bisher, "aber wir müssen damit rechnen, daß noch mehr - " Er zögerte und Mona wußte wie schwer es ihm fiel das Wort auszusprechen "- noch mehr Drachen zu Tode kommen werden!"
Da war es, das Tabuwort, das man in diesem Hause nicht verwendete wenn von den Patienten sprach! Augenblicklich setzte das Geraune und Getuschel ein. In Ruperts Ohren klang es wie Meeresbrandung. Er blickte Mona an, sah ihre gerunzelten Brauen …
Dr. Saebius hob die Hand, Ruhe heischend, und als das nicht half klopfte er noch einmal auf den Tisch.
Augenblicklich kehrte wieder Ruhe ein.
"Wir müssen," sagte Dr. Saebius, "herausfinden, wer für die Morde verantwortlich ist, und - " er machte eine Pause, blickte in die Runde und jeder vermeinte zu spüren, daß er nur ihn ansah "- wir müssen vor allem verhindern, daß er noch mehr Unheil anrichtet!"
"Wir sollten die Polizei benachrichtigen," sagte Dr. Severance gelassen.
Dr. Saebius blickte ihn an. "Sie meinen, wir sollten zur Polizei gehen," sagte er. "Warum?"
Dr. Severance hob eine Schulter, ließ sie wieder sinken. "Die haben die notwendige Ausrüstung," erwiderte er, "und die Sachkenntnis um Morde aufzuklären." Er sprach kühl, wie immer. In genau dem gleichen Ton als sagte er, Heute ist Dienstag …
"Und Sie denken, die glauben uns," sagte Dr. Saebius. Er blickte den Arzt unverwandt an.
"Warum denn nicht?" erwiderte der prompt.
"Keine Leiche." In manchen Ländern, zum Beispiel den angelsächsischen, gilt der Grundsatz "Keine Leiche, kein Mord." Darauf spielte Dr. Saebius an.
"Ja, sehen Sie," erwiderte Dr. Severance kühl. Er hob eine blasierte Braue aber nicht die Stimme. "Sie hätten die Leichen nicht beseitigen dürfen!"
"Nicht beseitigen!" Dr. Saebius' sonst samtiger Bass wurde Tenor und seine Augen loderten. Mit offenkundiger Besorgnis blickte Mona zu ihrem Vater hoch …
… dem Drachen der selbst sitzend die anderen im Raum stehenden Drachen überragte …
Dr. Saebius erwies sich jedoch als Meister der Selbstbeherrschung. Seine Stimme, samtig wie zuvor, verriet keine Gemütsbewegung. "Ich hatte gehofft, Sie würden verstehen, Dr. Severance."
"Ich verstehe nur zu gut!" Die Stimme des Arztes klang wie das Scharren seines Stuhles als er aufstand. "Ich werde diese Farce jedenfalls nicht länger mitmachen!" Mit einer gerade nur angedeuteten Kopfneigung wandte er sich an die Chefärztin, "Dr. Fraiser, bitte akzeptieren Sie meine sofortige Kündigung!"
Das wirkte wie eine Bombe. In dem augenblicklich einsetzenden allgemeinen Stimmengewirr war Dr. Fraisers Stimme gerade noch vernehmbar. Schreck und Verblüffung machten sie heiser, ebenso wie ihre Augen rund mit denen sie den Arzt ansah. "Es - es gibt Kündigungsfristen, Dr. Severance!"
"Die Sie außer Kraft setzen wollen!" erwiderte er barsch. "Ich halte mein Konto noch vier Wochen off - "
"Ist Ihnen klar, daß Sie sich damit verdächtig machen, Doktor?" Dr. Saebius' Stimme klang mild und Mona sah erstaunt zu ihm hoch. Rupert wiederum blickte Mona an; er überlegte, ob dies ein Moment war, an dem er sie bitten konnte, seinen Rücken zu kratzen.
Seinen Rücken, der seit Tagen so heftig juckte, daß er nicht wußte …
"Das ist mir scheißegal!" schnarrte Dr. Severance. Der Arzt der sich bisher immer so
überlegen kühl verhalten hatte, begann die Beherrschung zu verlieren. "Meines Bleibens ist hier nicht länger!"
Seine Augen bohrten sich in die seiner bisherigen Vorgesetzten. "Doktor, Sie erreichen mich vorläufig im l'ours!"
"L'ours in St. Hilaire?" fragte sie vorsichtig. St. Hilaire de Sevigny war die nächste Ortschaft und der einzige Gasthof eines Dorfes in den Vogesen hieß sinnigerweise zum Bären …
Der Arzt nickte kurz, machte dann brüsk kehrt und ging mit raschen Schritten zur Treppe, die nach oben führte. Seine Absätze knallten auf den Fliesen.
Dr. Fraiser blickte ihm nach wie er die Treppe hochkletterte, immer zwei Stufen auf einmal. Sie hatte ihre Arme um sich selbst geschlungen und ihre Finger kneteten ihre Schultern. "Was habe ich dem Mann nur getan?"
"Sie nichts, Doktor," sagte Dr. Saebius mild. Von seiner immensen Höhe blickte er auf die kleine Ärztin herab. Seine Lippen umspielte ein sanftes Lächeln …
Mitleidig, fand Rupert. Nie war ihm sein
übermenschlicher Schwiegervater mensch-licher erschienen als eben jetzt …
Er begann seinen Rücken an der Stuhllehne zu reiben. Der Juckreiz war unerträglich. Mona merkte es und fuhr ihm mit der Hand über den Rücken, aber das machte das Übel nur schlimmer.
"Das ist Dr. Severances Tragik," fuhr Dr. Saebius fort, "Er kann sich nicht überlegen fühlen - besonders nicht Ihnen gegenüber, Doktor."
"Aber wo nehme ich jetzt einen zweiten Arzt her," sagte Dr. Fraiser weinerlich. "Das geht nicht von heute auf morgen. Ich - "
"Vielleicht kann ich helfen," warf Dr. Beaumont ein. Er hatte bisher geschwiegen. Seine Schweinsäuglein glitzerten.
"Sie, Doktor?" fragte die Ärztin und sah ihn erstaunt an. "Wollen Sie etwa Doppelschichten fahren?"
Dr. Beaumont war nicht gerade für besondere Arbeitsfreudigkeit bekannt.
"Nein, nein!" Der Arzt lächelte verlegen. Sich im Mittelpunkt allgemeiner Aufmerksamkeit zu wissen verursachte ihm Unbehagen. "Ich kenne da jemanden der vielleicht abkömmlich ist."
"Ach?" Dr. Fraiser blickte skeptisch. Ärzte die bereit waren auf dem Land zu arbeiten mußten nicht die besten sein. Vielleicht ein Jungarzt ohne Erfahrung … "Ist er denn frei?"
"Ich denke schon - irgendwie …" Dr. Beaumont hüstelte verlegen.
"Irgendwie?" Die Ärztin starrte ihn an, eine steile Falte zwischen den Augenbrauen. "Was soll das heißen, irgendwie?"
"Nun ja," Dr. Beaumont hüstelte noch einmal. Er schien ein Problem mit der Kehle zu haben, fuhr sich mit dem Zeigefinger unter den Hemdkragen, wie um ihn zu lockern. Aber der Kragen war ohnehin offen. "Dr. Goldstein ist Privatdozent."
"Dr. Goldstein?" Monas Hand verharrte auf Ruperts Rücken. Sie blickte den Arzt an als sähe sie ihn jetzt zum ersten Mal …
"Wo?" fragte die Ärztin. Die Falte stand tief zwischen ihren Augen.
"Was doziert er denn?" fragte Dr. Saebius, nicht sonderlich neugierig. Seine Stimme klang wie ein Kätzchen das schnurrt. Nur in einer viel tieferen Tonlage.
"In Wien." Der Blick des Arztes wanderte von einem Fragesteller zum anderen. "Psychiatrie," sagte er.
"Psychiatrie?" Dr. Fraisers Stimme klang eine halbe Oktave höher.
"Ist sein Vorname vielleicht Isaak?" wollte Mona wissen. Ihre Finger krabbelten auf Ruperts Rücken und der junge Mann wand sich mit vernehmbarem Stöhnen. Dr. Saebius grinste wie die Katze im Sprichwort die gerade ihre Maus verspeist hat.
"Ja," erwiderte Dr. Beaumont sichtlich erstaunt und -
"Wozu brauche ich einen Psychiater!" sagte, nein, rief Dr. Fraiser.
"Kennen Sie ihn?" fragte Dr. Beaumont, seine kleinen Äuglein erstaunt auf Mona gerichtet.
"Er ist auch Physiologe," sagte Mona.
"Dr. Beaumont," sagte Dr. Saebius, und der Ton in dem er sprach ließ den Angesprochenen erschrocken zusammenfahren. "Rufen Sie ihn an, Dr. Beaumont! Machen Sie Dr. Goldstein klar, daß wir ihn sofort hier brauchen! Versprechen Sie ihm das Blaue vom Himmel, aber stellen Sie sicher, daß er kommt!"
Zu Dr. Fraiser gewandt fuhr er fort, "Wenn Ihre Mittel nicht reichen lege ich das Nötige drauf. Wir brauchen ihn, denn er ist der beste Arzt den ich kenne!"
Als er ihr Gesicht sah, auf dem sich Verblüffung, Sorge, Hoffnung und wohl auch ein bißchen Entrüstung spiegelten, sagte er milde, "Außer Ihnen, selbstverständlich, Dr. Fraiser!"
Das Kompliment war nicht unverdient aber Dr. Saebius war auch nicht unerfahren.
Der Fraiser öffnete den Mund um zu entgegnen - Dr. Beaumont war bereits geräuschvoll in das Arbeitszimmer der Chefärztin geeilt wo sich das nächste Telefon befand - als Schritte auf der Treppe polterten. Dr. Severance kam eilends herunter, in der Hand eine große Reisetasche.
Vor Dr. Fraiser blieb er stehen. "Den Rest meines Gepäcks lasse ich abholen," sagte er barsch. Er blickte auf die vor ihm Sitzende hinunter, augenscheinlich im Begriff etwas hinzuzufügen, und in diesem Moment erscholl draußen eine Autohupe.
Er sah auf. "Mein Taxi!" Er machte kehrt und verließ raschen Schritts das Haus. Seine Absätze klickten hart auf den Fliesen.
Von draußen drang undeutliches Stimmengemurmel herein. Autotüren klappten und ein Getriebe kreischte als der Gang eingelegt wurde. Ein Automotor überdrehte …
Kies knirschte. Dann Stille …
Dr. Severances Abschied war kurz, geräuschvoll und schmerzhaft. Jedenfalls was die Ohren angeht …
Die Zurückgebliebenen sahen einander an und blickten dann vor sich hin. Niemand sprach. Dr. Fraiser drehte nervös einen Bleistift zwischen ihren Fingern und Hilde die ihr gegenüber saß blickte fasziniert darauf …
Mona fiel Ruperts Prädikament ein und sie machte sich daran ihm vehement den Rücken zu kratzen. Er bäumte sich verzückt unter ihrer geschickten Manipulation und Dr. Saebius sah amüsiert zu …
Spätestens wenn das Jucken in Schmerz überging würde er ihm sagen müssen warum Ruperts Rücken so heftig juckte …
In der Tür zu Dr. Fraisers Arbeitszimmer erschien Dr. Beaumont. Er hielt die rechte Hand hoch, Daumen nach oben, und grinste, wie wenn er gerade den Hauptgewinn in der Lotterie gezogen hätte …
Dr. Saebius nickte ihm zu …
Dr. Fraisers Bleistift zerbrach. Das Knacken hallte in der allgemeinen Stille wie ein Pistolenschuß, alle zuckten erschrocken zusammen und Marie gab erneut einen Schrei von sich …
Die Sitzung, durch Dr. Severances rüdes Verhalten jäh unterbrochen, nachdem sie kaum begonnen hatte, ging ergebnislos zu Ende und dennoch: da war irgend etwas, ein winziges Detail das alle übersehen hatten …
Fortsetzung folgt


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