Führen in der Ergotherapie

Von Simone Erbert, Dipl.Ergotherapeutin, BcHOT (NL)

 

Als Ergotherapeutin möchte ich meine KlientInnen dazu befähigen, Handlungen, die ihnen wertvoll sind und ihnen ein Selbst(wert)gefühl geben, auszuführen. Denn ich sehe den Menschen als ein handelndes Wesen, welches durch Handlungen an seiner Umwelt teilhaben kann.

Sonja ist es seit längerer Zeit nicht mehr möglich, selbständig ihre Arme, Hände und Beine zu bewegen. Aus therapeutischer Sicht ist es erstaunlich, wie gut sie dennoch ihren Körper spüren kann – wenn z.B. die Kleidung nicht richtig sitzt oder ihre Haltung unbequem ist, sagt sie Bescheid. Normalerweise geht mit einer zunehmenden Bewegungsunfähigkeit auch eine verschlechterte Wahrnehmung für Körpergrenzen, Körperhaltung und Bewegungen einher. Das liegt unter anderem daran, dass sich der “Informationsfluss” zwischen Körper und Gehirn verändert und die “Informationsqualität” sinkt (sh. Grafik): Wenn mein Gehirn weniger oder keine Informationen z.B. zur Körperhaltung erhält, kann es auch keine angemessenen Reaktionen auf veränderte Körperhaltungen mehr planen und einleiten. Durch die unangemessenen Reaktionen verändert sich auch die Wahrnehmung – so nimmt eine spastische Hand die Oberfläche und Form eines Glas anders wahr als eine normal bewegliche Hand.

 

  Informationsverarbeitung im Gehirn

 

Das erste ergotherapeutische Ziel war es, Sonja durch geführtes Eincremen zu ermöglichen, ihre Körpergrenzen wahrzunehmen. Es hat sich aber in unserer Arbeit herauskristallisiert, dass es noch viel mehr bedeutet, geführt zu werden. Sonja genießt es, ihren Körper selbst zu erspüren und zu erfahren.

Sie hat normalerweise keine Möglichkeit, sich selbst zu berühren, ihren Körper selber zu erfahren! Stellen Sie sich vor, sie können folgende Dinge nicht mehr tun: Die juckende Nase kratzen... Haare aus dem Gesicht wischen... sich eincremen nach dem Baden... nach einem anstrengenden Tag die schmerzenden Füße massieren... Wie fühlt man sich dann? Ich habe festgestellt, daß solche kleinen, ganz “normalen”, “selbstverständlichen” Handlungen einen viel größeren Stellenwert bekommen. Sie werden wertvoll. Diese Handlungen geben uns ein ganz konkretes Selbstgefühl – so fühlt sich meine Nase an, die Haut an meinem Bauch, meine Ferse, usw. Und sie können uns ein Selbstwertgefühl geben – ich bin es mir wert, mich zu pflegen, mich zu streicheln oder zu massieren.

Sonja und ich haben die gemeinsame Erfahrung gemacht, dass es etwas komplett anderes ist, beim Eincremen geführt zu werden als von einer anderen Person eingecremt zu werden. Für mich als “Führende” werden folgende Dinge sichtbar: Die Muskelspannung (Tonus) in den Armen sinkt und die Beweglichkeit wird besser. Wenn Sonja sich die Füße eincremt, sinkt auch hier der Tonus und der übliche Klonus nach Anstrengung tritt viel seltener auf. Vor allem die Haut bekommt eine rosige, gesundere Farbe – die Beine und Füße sind offensichtlich besser durchblutet. Und dieser Effekt hält länger an, als wenn eine andere Person Sonja eincremt.

   

Meine Theorie zu den genannten Wirkungen ist, dass es durch den doppelten Input (also das Streicheln fühlen als Empfänger und Ausführender) zu einer anderen (physiologischeren) Informationsverarbeitung im Gehirn kommt und sich somit die Körperreaktionen verändern. Denn eine Tonussenkung bei einer Spastik setzt eine physiologische (d.h. “normale”) Verarbeitung der empfangenen Reize im Gehirn und eine entsprechend “normale” Reaktion voraus (sh.o. Grafik).

Aus meiner Sicht als Ergotherapeutin kann ich es Betroffenen nur empfehlen, sich führen zu lassen. Es ist offensichtlich eine gute Erfahrung und hat viele positive Auswirkungen auf die Körperwahrnehmung. Für die Führenden mag es anstrengend sein – man muss auf eine gute eigene Haltung achten und immer aufmerksam die Bedürfnisse des Geführten wahrnehmen. Aber einer Person wieder zu ermöglichen, eine für sie wertvolle Aktivität auszuführen, motiviert mehr als diese für sie auszuführen.