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Werther aus der Mottenkiste

Naphthalinhaltiges über die Rezeption eines Bestsellers von Diethard Suntinger

Kurt Cobain

Was hat Werther schon mit Kurt Cobain zu tun? Kurt Cobain ist, besser gesagt war, der Kopf der Popgruppe Nirvana. Sein Name ziert so manche Schulbank. Kurt Cobain ist der heimliche Kronprinz der Generation X, und er, wie kein anderer vor ihm, hat die Katerstimmung im Amerika der 90iger sichtbar gemacht. Kurt Cobain wird als Held gefeiert und Schüler lieben diesen Typen aus Seattle und seine Songs, wie etwa „Come as you are!“ Niemand braucht sich zu verstellen, lautet seine Botschaft und sie verweist auf den Werther! Auf Seelenstriptease und auf Offenheit, auf Rebellion! Liegt hier ein Anknüpfungspunkt?

Laubhüttenhippie

Grunge nennt sich ein Musikstil, in dem Zähneknirschen und leidenschaftliches Knurren, röhrende Gitarren den neue Fluchtpunkt einer unverstandenen Jugend signalisieren. Nowhere, now here! Nirgendwo! Niemandsland! Nervermind, der Titel einer ihrer CDs. 1993 schreit Cobain ins Mikrofon: „Rape me. I am not the only one. Hate me. Do it and do it again!“ Am 8. April 1994 ist es dann so weit, der Fürsprecher einer verzweifelten Generation schießt sich aus der Zeit! Selbstmord! Kopfschuss mit der Schrottflinte. Ein Blutbad! Ein literarisches Schicksal 200 Jahre später? Jerusalem und Werther! Herausgeschrieene Resignation als Botschaft, mit der Cobain zum Millionär wird und schließlich mit wehenden Fahnen untergeht. Auf der anderen Seite der modisch empfindsame „Laubhüttenhippie“ anno 1774. Keine Vergewaltigung, Werther zweifelt nur an Gott und bannt mit einem durchaus sinnlichen Erpressungsgebet seine Leser, die mitfühlen, mit ihm empfinden in schmerzlich genießerischer Manier: „Gott im Himmel! Hast du das zum Schicksale der Menschen gemacht, dass sie nicht glücklich sind! Vater, den ich nicht kenne! Vater! Der sonst meine ganze Seele füllt und nun sein Angesicht von mir gewendet hat! Rufe mich zu dir! Schweige nicht länger! Vor deinem Angesicht will ich leiden und genießen.“ Die Botschaft beider ist über die Zeit gleich geblieben, nämlich, am Rande der Gesellschaft mit dem Gefühl zu stehen, nicht geliebt zu werden! Plenzdorfs Edgar Wibeau, ein Werther in Jeans, der dasselbe meint, erscheint dagegen wie eine Karikatur.

Märtyrer

Werther scheitert zurückgezogen, aber genau von seinem Publikum und später von voyeuristischen Germanistengenerationen beobachtet. In der Sekundärliteratur werden seine Rebellion und sein Tod platt getreten. Werther ist die fiktive Märtyrerfigur seiner Zeit, Cobain der heroingetränkte Säulenheilige des ausgehenden 20. Jahrhunderts, eine Popikone. In den letzten 40 Jahren haben jedoch weitschweifige Selbstzerstörung und spektakuläre Todesfälle als Signal, als Stilmuster für postmoderne Helden ihre potenzielle, revolutionäre und provokative Kraft verloren. „Die Tyrannei der Intimität“ fordert hier, wie Richard Sennett ausführt, ihren Tribut und löst alles Private auf. Elvis Presley, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Al Wilson, Jim Morrison, Kurt Cobain u.v.a. sind tot und liegen lustvoll seziert auf den Operationstischen unserer Medien. Ihre Gräber sind Pilgerorte, Kultstätten.

Selbsterkennungsfieber

Werther nimmt sich dagegen enthüllungsschüchtern und zugeknöpft in blau-gelbem Habitus aus. Das Lesepublikum Europas gierte nach ihm, angefacht von den narzisstischen Reflexionen Rousseaus in seinen Confessions. „Ich beginne ein Unternehmen, das ohne Beispiel ist“, ich werde nur noch von mir reden, tönt es hier im Ton verliebter Selbstbespiegelung. Ich, ich, ich!!! Und nicht zu vergessen die „indiskreten Kleinodien“ des Meisterdenkers Diderot, der mitteilsam Unterleibsbeschaffenheiten durch weibliche Bekenntnislust präsentiert. Das begeisterte Lesepublikum Goethes hätte seinen Jüngling lieber als realen Zeitgenossen erkannt, um nicht in Merkwürdigkeiten und Fantasiegebilde abgleiten zu müssen, angesteckt von diesem seltsamen Selbsterkennungsfieber dieser Zeit. Jene im Werther präsentierte schmerzverzehrte sublime Erotik hätte jeden Trivialromanautor seiner Zeit zweifellos zu pornografischen Szenen hingerissen, weit über das Stürmen und Drängen unseres jungen Frankfurter Rechtsanwaltes hinaus, bar jeder Empfindsamkeit.

Schlüssel

Wie idyllisch hebt sich davon die Brot schneidende Lotte mit ihrer fröhlichen Kinderschar ab. Niemand kümmerte sich um sie. Der auf- und untergehende Stern heißt Werther, der Briefe schreibend seine Leser mit seinem Seelen-Striptease und seinem melancholischen Blues verzaubert. Dabei ist gerade Lotte der eigentliche Schlüssel zur damaligen Rezeption und zum Lektüreverhalten von Goethes Publikum. Kann Lotte überhaupt lesen? Was liest sie? Und wie liest sie es? Woher hat sie ihre Bücher? Wer hat die geschrieben? Diese verlegt? Haben wir es hier mit einer bewusst angelegten, personifizierten intendierten Leserin zu tun? Und warum ist Werther ein Bestseller geworden, worin liegt sein Skandal? Was hat sein damaliges Publikum an- bzw. aufgeregt?
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