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Europa im Wandel

Das Antlitz Europas hat sich in den letzten Jahren grundlegend verändert. Wer hätte 1988 gedacht, daß unsere östlichen Nachbarstaaten in zehn Jahren eng mit der Europäischen Union assoziiert sein werden und mit den Beitrittsverhandlungen begonnen haben? Mehr als vierzig Jahre hat der Systemkonflikt zwischen Ost und West die politischen Realitäten in Europa geprägt, als im Mai 1989 die Außenminister Österreichs und Ungarns den Eisernen Vorhang zwischen ihren Ländern zerschnitten. Damit wurde der friedlichen Revolution das erste Denkmal gesetzt. Inzwischen ist es für uns zur Selbstverständlichkeit geworden, daß Freiheit und Demokratie in den mittel- und osteuropäischen Ländern herrschen.

Mit dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs wurde eine neue Ära der Europäischen Integration eingeleitet: Die Anwendung des "Erfolgskonzepts Europäische Union" auf den gesamten Kontinent. Die Union hat die Chance erkannt und mit dem historischen Versprechen des Europäischen Rates in Kopenhagen 1993 geantwortet: Die assoziierten mittel- und osteuropäischen Länder, die dies wünschen, können Mitglieder der Europäischen Union werden, wenn sie bestimmte politische und ökonomische Kriterien erfüllen. Dazu zählen – kurzgefaßt - insbesondere eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, die Wahrung der Menschenrechte und eine funktionsfähige Marktwirtschaft, sowie die Fähigkeit zur Übernahme des Gemeinschaftsrechtsbestands. Zwischen 1994 und 1996 haben dann 10 mittel- und osteuropäische Länder Beitrittsansuchen gestellt.

Österreich profitiert von der Erweiterung

Die Öffnung der Grenzen zu den mittel- und osteuropäischen Ländern hat eine rasante Dynamik auf unserem Kontinent ausgelöst, von der vor allem Österreich jetzt schon profitiert hat. Als einziges Land der Union grenzt Österreich an vier Beitrittswerber und auch die historischen Verknüpfungen mit den Ländern der ehemaligen Donaumonarchie bringen Österreich einen unbezahlbaren Startvorteil. So haben viele österreichische Firmen die neuen Marktchancen genützt, der Handelsbilanzüberschuß gegenüber den mittel- und osteuropäischen Ländern wuchs von 1,2 Mrd öS im Jahr 1989 auf 28,9 Mrd öS 1997. Der Anteil der Exporte in diese Region an den Gesamtexporten Österreichs stieg von 5% 1989 auf 13,8% 1997 und hat sich somit fast verdreifacht. Letztes Jahr hat Ungarn die Schweiz als drittwichtigsten Handelspartner Österreichs abgelöst. Dank der Erweiterung wird Österreich geographisch in den Mittelpunkt der Europäischen Union rücken und damit auch geistig – kulturelle Mittlerfunktionen zwischen den "Alt-" und "Neu" – Mitgliedern übernehmen können.

Der Erweiterungsprozeß muß gut vorbereitet werden

Die Kommission strebt die Erweiterung bei gleichzeitiger Vertiefung und Stärkung der Union an. Mit dem Vertrag von Amsterdam ist eine Basis für die Reform der Institutionen und Entscheidungsprozesse geschaffen worden. Diese Basis muß allerdings noch ausgebaut werden, um die Handlungsfähigkeit, Effizienz und demokratische Legitimation der Union auch nach einer Erweiterung zu garantieren. Die Agenda 2000 ist ein besonderes Reformpaket der Europäischen Kommission. Zum einen beinhaltet sie die Stellungnahmen zu den einzelnen Beitrittsanträgen und zum anderen die Vorschläge zur Reform der beiden größten Politikbereiche der Union, den Strukturfonds und der Agrarpolitik. Die Umsetzung der Reformvorschläge der Agenda 2000 ist auf jeden Fall notwendig. Aufgrund der Erweiterung der Union bekommt sie aber eine neue Dimension. In der Agenda 2000 hat die Europäische Kommission die Strategie für den Erweiterungsprozeß entworfen und im Jänner ist die Task Force für die Beitrittsverhandlungen ins Leben gerufen worden.

Als Grundsatz für die Verhandlungen gilt, daß der Besitzstand der Union vom ersten Tag des Beitrittes an angewendet werden soll. Es soll keine Formen einer Mitgliedschaft zweiter Klasse oder Opt-outs geben. Damit die Kandidaten bereits vor Beginn ihrer Mitgliedschaft den "Acquis" in großen Teilen übernehmen können, wird die Heranführungsstrategie intensiviert. Hierfür wurden Beitrittspartnerschaften geschaffen, die alle Unterstützungsformen der Union in einem einheitlichen Rahmen zusammenfassen. Die Gesamtkosten des Erweiterungsprozesses für die Jahre 2000 – 2006 werden in der Agenda 2000 mit rund 80 Mrd Ecu veranschlagt, 22 Mrd Ecu für die Hilfe zur Vorbereitung der Beitritte und 58 Mrd Ecu für die Finanzierung der Beitritte. Die jährlichen Aufwendungen entsprechen somit ungefähr 4 % des BIP von Estland, Polen, Slowenien, der Tschechischen Republik und Ungarn. Derzeit erhalten zum Beispiel die beiden Kohäsionsländer Griechenland und Irland ebenfalls 4% ihres BIP an Unterstützung durch die Partner in der Union. Die Investitionen in die Erweiterung sind also rational kalkuliert und halten sich in überschaubaren Grenzen.

Die Beitrittsverhandlungen

Der Rat hat am 31. März dieses Jahres, den Empfehlungen der Kommission folgend - neben Zypern, das schon 1993 einen positiven Avis bekommen hat - die konkreten Verhandlungen mit Estland, Polen, Slowenien, der Tschechischen Republik und Ungarn aufgenommen. Derzeit wird in einem Screening-Prozeß den Beitrittskandidaten das EU-Recht schrittweise vorgestellt und der Stand der Umsetzung untersucht. Wenn die notwendigen Fortschritte erreicht sind, können auch die anderen 5 Beitrittswerber - Bulgarien, Lettland, Litauen, Slowakei und Rumänien - in den konkreten Verhandlungsprozeß einsteigen. Diese Differenzierung stellt keine Diskriminierung dar, die Aufnahme- und Verhandlungsbedingungen sind für alle Kandidaten dieselben. Für die Kommission ist vor allem eines relevant: die Erreichung und Einhaltung der objektiven Kriterien, wie sie der Europäische Rat 1993 in Kopenhagen aufgestellt hat.

Österreich steht ein halbes Jahr an der Spitze Europas

Das junge Mitgliedsland hat routinemäßig als erster der neuen Mitgliedstaaten das Amt der Präsidentschaft der Europäischen Union übernommen. Somit steht Österreich ein halbes Jahr lang an der Spitze der Union und wird alle notwendigen Verhandlungen leiten. Die Zahl der Aufgaben für Österreichs Präsidentschaft ist groß. Durch die Art der Verhandlungsführung und sein Engagement kann Österreich zum Gelingen der Reformvorhaben wesentlich beitragen. Gerade kleinere Mitgliedstaaten haben in der Vergangenheit mehrmals ihre Fähigkeit bewiesen, gute Ratspräsidentschaften zu absolvieren.

Zeitlich betrachtet fällt die österreichische Präsidentschaft in eine Phase intensiver Reformprozesse. Die Europäische Kommission hat deshalb gegenüber der österreichischen Präsidentschaft relativ hohe Erwartungen. Zum einen geht es dabei um die internen Reformprozesse, die auch als Unionsbasis für die Erweiterung betrachtet werden können und um die Verhandlungen für die Erweiterung. So wird es die Aufgabe der österreichischen Präsidentschaft sein, für die Beschlußvorbereitung der Reformen der Agrar – und Strukturpolitik, wie sie in der Agenda 2000 vorgeschlagen wurden, Sorge zu tragen und den Finanzplan für die Jahre 2000 – 2006 mit der Finanzierung der Erweiterung beschlußreif zu machen. Darüber hinaus müssen die Verhandlungen für die Erweiterung intensiv fortgesetzt werden und dazu bedarf es des Engagements der Präsidentschaft.

Alles in allem ist dies eine ehrenvolle Herausforderung, die belohnt wird mit dem historischen Verdienst, die Vereinigung Europas wieder ein Stück weitergebracht zu haben.

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