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Das Zimmermodell

Ich habe MS (= Multiple Sklerose), bin auf den Rollstuhl angewiesen, in Armen und Händen kraftlos; die letzten Jahre verschlechterte sich mein Zustand rapid, und ich habe zu erwarten, dass das auch in Zukunft so weitergehen wird.

Wie wohl die meisten schwer erkrankten Menschen bediene ich mich eines subjektiven Krankheitsmodells, das mir ein Leben in dieser Situation sowohl überschaubarer und leichter macht als auch die Voraussetzung dafür bildet, dass ich nicht von der MS überrollt werde und ich mich nicht verliere - eben des Zimmermodells.

Erstens gibt es mir eine sehr genaue Standortbestimmung und Halt während einer Krise. Zweitens gibt es mir ein klares Ziel und damit eine Richtung vor und weist so in die Zukunft.

Die Entstehung des Zimmermodells

Im Jahr 2000 musste ich umziehen, da meine Wohnung, die im zweiten Stock lag, für mich kaum noch zu erreichen war. Dadurch, dass ich in die neue – ebenerdige – Wohnung zog, machte ich die Erfahrung, dass sich mir dadurch ein Frei-Raum auftat, in dem ich wieder leben konnte und ich wieder eine gute Lebensqualität finden konnte, obwohl sich an meiner Behinderung nichts zum Besseren hin verändert hatte.

Beschreibung des Zimmermodells

In der Folge machte ich oft die Erfahrung, dass ich mir einen neuen Lebensraum eröffnen musste – bildlich gesprochen: dass ich „in ein neues Zimmer ziehen“ musste – wenn Fähigkeiten und dadurch auch Möglichkeiten verloren gingen –, um weiterhin gut leben zu können, – und wenn ein Leben „im alten Zimmer“ zu belastend wurde. War es deshalb, weil „der Boden schon knarrte“ und ich „den Halt hätte verlieren können“ oder weil „der Verputz der Wände schon abbröckelte“ und ich „an Sicherheiten einbüßte“, war es deshalb, weil mir „die Einrichtung“ – als Symbol dafür, was ich im Leben mag und ebenso für mein Eigenes – „nicht mehr entsprach“, oder deshalb, weil „ich mich darin gar nicht mehr fand“.

In meinem Zimmermodell geht es nicht nur um Halt und Sicherheiten, sondern auch um das Wert- und Sinnvolle in meinem Leben, um meine Individualität und somit letztlich um mich. In einem Zimmer ist ja auch nicht nur der Raum, es ist auch die Einrichtung von Bedeutung. Es geht darum, dass, wenn Fähigkeiten verloren gehen (und ich mein Zimmer wechseln muss), ich gerade im neuen Zimmer neue Möglichkeiten für mich eröffnen kann. Das Wort „Möglichkeiten“ hat eine etymologische Verwandtschaft mit dem Wort „Mögen“ und befindet sich in einer wechselseitigen Beziehung mit diesem: So regt gerade das, was ich mag, was wertvoll und gut für mich ist, meine Fantasie und Kreativität dazu an, nach Möglichkeiten zu suchen, das für mich Wertvolle auch zu erreichen. Und gerade das Erkennen meiner Möglichkeiten eröffnet mir erst den Weg zu dem, was ich mag. Auch wenn ein Verlust von Fähigkeiten manchmal einen Verlust an Möglichkeiten bedeutet, werden Möglichkeiten offenbar erst dann zu Möglichkeiten, wenn sie gesehen werden. Und offensichtlich nehmen chronische Krankheit und körperliche Behinderung nicht unabwendbar die Fähigkeit und das Können, Möglichkeiten zu sehen und zu ergreifen.

Zusammenfassend kann ich sagen, dass ich einen „Zimmerwechsel“ durchführe, wenn ich im „alten Zimmer“ meine Fähigkeiten und/oder meine Möglichkeiten nicht mehr voll entfalten kann, sodass ich mich darin nicht mehr finden könnte und ich mir in Folge verloren ginge.

Die Schwelle

Das Wesentliche meines Zimmermodells ist der Durchgang von einem Zimmer zum anderen, die Schwelle. Ihre Besonderheit liegt darin, dass sie sich zwischen zwei Zimmern befindet – dass sie also ein „Dazwischen“ ist. Das alte Zimmer hat seine Bedeutung als Lebensraum verloren. Um wieder ins Leben zu kommen, ist es notwendig, diesen Raum aufzugeben, um mir einen neuen zu eröffnen. Die Zimmertür versperrt mir die Sicht auf das Neue, und ich bin gezwungen innezuhalten. Die Zimmertür aufzumachen kostet Kraft, und die Unsicherheit oder Angst vor dem, was mich erwartet, erschwert diesen Schritt zusätzlich. Die Sicherheiten, die ich habe, sind erstens das Vorwissen, dass ich immer nur eine begrenzte Zeit auf bzw. an der Schwelle, an dem Ort des Ringens, der Auseinandersetzung bleibe, zweitens die Ahnung, dass dahinter ein Raum ist, den ich für mich in meiner Lebenssituation wieder bewohnbar machen kann, und schließlich drittens, dass es immer solche Räume geben wird – Orte, an denen ich wieder Platz finde und frei durchatmen kann, – der letzte wäre der physische Tod. Aber auch jede Schwelle birgt die Erfahrung eines „kleinen“ Todes in sich, denn bevor ich in den nächsten Raum übertreten kann, muss ich das Ende von Fähigkeiten und Möglichkeiten erkannt, verschmerzt und letztlich mich selbst innerhalb der neuen Gegebenheiten angenommen haben.

Was ist?

Auf den Rollstuhl angewiesen zu sein bedeutet für mich, Sachen nicht mehr angehen zu können. Eines wird mir jedoch in der jetzigen Übergangssituation immer bewusster, nämlich dass sich Rahmenbedingungen permanent ändern. So habe ich erfahren, dass Rollstuhlfahrer nicht gleich Rollstuhlfahrer ist. War es mir früher z.B. noch möglich, in viele Gaststätten, Kinos oder auf Konzerte zu gehen, weil meine Gehfähigkeit ausreichte, ein „normales“ WC zu benutzen, so kann ich jetzt ausschließlich Lokalitäten mit „Behinderten“-WC besuchen. Allein dieses Beispiel verdeutlicht, wie erschwert mein Zugang in die Welt ist. In meiner Freizeitplanung beschränke ich mich deshalb großteils auf mir bekannte Orte, weil sie für mich berechenbar sind und ich meinen Handlungsspielraum im Vorhinein abstecken kann. Wenn nun aber zu dem „Ich-kann-es-nicht-Angehen“ noch Resignation hinzukommt, ist der Schritt zum „Was-ich-nicht-angehen-kann,-geht-mich-nichts-an“ und somit zu Isolation und Unberührbarkeit nicht mehr weit.

Meine Behinderung ist nun so weit fortgeschritten, dass ich mittlerweile meine Gedanken nicht mehr selbst zu Papier bringen kann, sondern sie diktieren muss, weil die Funktion meiner Hände und Arme zu stark eingeschränkt ist. Demnach kann ich Sachen nicht nur nicht angehen, sondern auch nicht mehr anpacken. Ich bin also verstärkt auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen. Nicht mehr selbst anpacken und Hand anlegen zu können heißt für mich, von der Zeit und der Methodik anderer abhängig zu sein. In diesem Kontext kann es schon passieren, dass meine Gewohnheit und meine Art, Handgriffe und Prioritäten zu setzen, mit der Eigenart der helfenden Person kollidiert und das Meine aufgrund einer mir fremden Art der Durchführung zu kurz kommt. Das ärgert mich und kann zu meinem Rückzug führen, wenn mein Ohnmachtsgefühl überhand nimmt, obwohl ich von wohlmeinenden Menschen umgeben bin.

Das Phänomen, etwas nicht mehr „be-greifen“ zu können, macht die alltägliche Routine zunehmend kompliziert. So sind sogar Banalitäten und Normalitäten wie Schnürsenkel-Binden, Duschen, Anziehen, … im Tagesablauf fix zu planen, werden dadurch stark ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, verlieren ihre Beiläufigkeit und ermüden mich einfach.

Der Alltag wird für mich zunehmend erschöpfend, und mein Leben erschöpft sich immer mehr im Alltag.

Um dieser Überforderung zu entgehen, gebe ich Routinehandgriffe immer mehr aus meinen Händen in die Hände von Hilfspersonen und verliere in Folgezunehmend den Überblick über den Alltag.

Vor allem das letzte halbe Jahr war durch eine kontinuierliche Verschlechterung meines Gesundheitszustands gekennzeichnet, und auch ein sechswöchiger Kuraufenthalt brachte keine Verbesserung meiner Funktionalität, sondern nur meiner Ausdauer. Trotz hoher Motivation und nicht geringer Anstrengungen konnte ich keinen Einfluss auf das Fortschreiten meiner MS nehmen. Meine derzeitige Lebenssituation und Befindlichkeit erschweren ein erfülltes Da-Sein, denn natürlich kommen mir in dieser Lage häufiger Gedanken, was sein wird: totale Pflegebedürftigkeit, nichts mehr können – außer „Ich-Sein“, oder werde „ich mich“ irgendwann auch verlieren? Mag sein, dass das irgendwann der Fall sein wird, dass ich dem Druck meines Verfalls nicht mehr gewachsen sein werde, aber noch nicht morgen, denn die Schwelle ermöglichtmir den Übertritt in ein Morgen, in dem die Rahmenbedingungen wieder neu auf mich abgestimmt – wieder stimmig – sein werden und in dem ein Mögen entstehen kann.

Was wird sein?

In dieser Fragestellung geht es um das Faktische der näheren Zukunft. Ich kann meinen Krankheits- und Behinderungsverlauf auf ein bis zwei Jahre relativ genau vorhersehen. Wenn es mir heute aufgrund von Tagesschwankungen schlechter geht, so weiß ich, dass das innerhalb dieses Zeitraums der Status quo sein wird.

Zwei neue Schwierigkeiten werden während dieser Krafteinbrüche sichtbar: Erstens wird mein bisheriger Rollstuhl aufgrund der Kraftlosigkeit meiner Arme und des hohen Grades an Immobilität in meinem Rumpf zunehmend für den Außenbereich untauglich. Zweitens wird während einer Phase der Schwäche ein selbstständiger Transfer vom Rollstuhl ins Bett nicht mehr möglich sein. Es ist also vorhersehbar, dass mein derzeitiger Rollstuhl nur noch kurze Zeit für mich geeignet und ein selbstständiger Transfer bald generell undurchführbar sein wird.

Wenn ich nun das sehen kann, was sein wird, stellt sich mir unweigerlich die Frage:

Was brauche ich, damit ich auch in einem Jahr Rahmenbedingungen vorfinden werde, die mir ein möglichst gutes Leben gestatten?

Hierbei geht es nicht um ein resignatives „Wie-soll-es-nur-weitergehen?“, sondern darum, dass ich meine Möglichkeiten weitgehend erhalte, indem ich mich a priori über Hilfsmittel erkundige und diese organisiere.

Tatsächlich habe ich bereits um einen Elektrorollstuhl angesucht, um meinen Radius in der Außenwelt aufrechtzuerhalten oder vielleicht sogar wieder auszudehnen. Außerdem habe ich mir einen Deckenlifter angeschafft, den ich gut alleine bedienen kann, um meinen selbstständigen Transfer vom Rollstuhl ins Bett auch in Zukunft zu gewährleisten.

Dadurch ist die Zukunft nicht mehr so bedrohlich, da ich mich mit diesen technischen Möglichkeiten anfreunden kann, und es entspannt mich auch in der Gegenwart, da ich weiß, dass es weitergehen wird.

Der erste Schritt auf der Schwelle ist nun das Gewahrwerden dessen, „was ist“ – einfach das Hinschauen auf die Tatsache, Fähigkeiten und Möglichkeiten verloren zu haben – z.B. die reduzierte Funktion der Arme und Beine, die geringere Leistungsfähigkeit sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich, die eingeschränkte Freizeitgestaltung.

Was aber gibt mir in dieser Situation Halt? Es ist das Vertrauen darauf, dass ich, indem ich den Fuß auf die Schwelle setze, indem ich das Faktische betrachte, bereits Veränderung auf ein besseres Leben hin intendiert habe, und dass die weiteren Schritte auf der Schwelle diese Veränderung bewirken werden. Dieses Vertrauen nährt sich nicht aus einer vagen Hoffnung, sondern aus meiner konkreten Erfahrung und nährt wiederum seinerseits die Gewissheit, dass mein Leben weiter-ge-hen wird. Das Hinschauen auf das, was ist, bringt mir aber auch Klarheit darüber, was noch da ist – was noch funktioniert, und welche Ressourcen und Wege noch vorhanden sind. Es zeigt mir also, ob etwas da ist, was ich mitnehmen und worauf ich aufbauen kann.

Wie ist es?

Wie geht es mir damit, dass ich Sachen nicht mehr selbst anpacken und ausführen kann und ich so stark auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen bin? Früher fühlte ich mich relativ autonom, da ich vieles selbst machen konnte – und diese Autonomie machte mich frei. Der Umstand, von der Zeit, der Methodik und der Gewohnheit anderer abhängig zu sein, beengt mich, und manchmal kommt das Gefühl auf, „gleich aus meiner Haut fahren zu müssen“, nämlich dann, wenn etwas so ganz anders erledigt wird, als ich es täte, und ich es gern selbst in die Hand nehmen würde, weil manchmal doch die Vorstellung hereinspielt, ich könnte es eigentlich besser. In solchen Momenten bin ich mit der ganzen Härte meines Nichtmehrkönnens konfrontiert. Und dieses Faktum kann mich frustrieren, wütend machen, kann mich manchmal in die Resignation treiben, aber schlussendlich tun mir meine Ohnmacht und Hilflosigkeit weh. Die Aufforderung „Kannst du bitte…!“ ist inzwischen zu einem fixen Bestandteil meines Alltagslebens geworden. Das prozessuale Wechselspiel des Verlustes, aber auch der Aufgabe meiner Souveränität verlief in unterschiedlichen Stadien: War es mir anfangs unter Anstrengungen noch möglich, mein Nichtkönnen zu kaschieren, zu überspielen und zu verharmlosen, so reichten diese Strategien ab einer gewissen Schwere der Behinderung nicht mehr aus, und ich musste mich gezwungenermaßen meiner Beeinträchtigung stellen und somit mein Dasein als Bittsteller hinnehmen. Die andere Möglichkeit wäre nur noch die Verweigerung dieser Wirklichkeit bis hin zu einem „Verlust der Realität“ gewesen.

Wie geht es mir angesichts der Abnahme meiner beruflichen Leistungsfähigkeit? Die Lähmung meiner Beine und Arme erschwerte zwar meine Tätigkeit als Lehrer, der Grund meiner Leistungsschwäche liegt aber eindeutig im Mangel meiner Vitalität und in einem höheren Zeitbedarf für die Erholung.

Einerseits liegt das Müdigkeitssyndrom in der MS begründet, andererseits wird es aber von den anstrengenden Lebensumständen, in denen sogar Banalitäten und Nebensächlichkeiten mühsam sind, und zeitweise von einer depressiven Grundstimmung genährt. Außerdem speist sich der Vitalitätsmangel aus sich selbst, da jeder Versuch seiner Überwindung wiederum anstrengend ist. Vergleichbar ist er durchaus mit dem Empfinden bei einer Verkühlung – er geht also mit einer Lust-und Antriebslosigkeit, einem erhöhten Schlafbedürfnis und einer geringeren Leistungsbereitschaft einher und ist zeitweise von einer depressiven Verstimmung schwer zu unterscheiden. Im Gegensatz zu anderen körperlichen Symptomen, die ich als Behinderung erlebe, fühle ich mich durch meinen Mangel an Vitalität krank. Es gelingt mir zwar, diesen kurzzeitig zu überlisten, aber mittelfristig führt ein Übergehen zur Erschöpfung. Das Erleben, etwas nicht mehr machen zu können, was ich machen mag, macht mich betroffen. Es sind ohnedies schon so wenige Möglichkeiten vorhanden -und dass mir manchmal einfach zusätzlich noch die Kraft fehlt, eine verbliebene Möglichkeit zu nutzen, lässt mich bisweilen schon verzweifeln. So habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt. Daran zu denken, was ich alles verloren habe, macht mich traurig. Das Erleben, dass mein Aktionsradius allein durch meine leichte Erschöpfbarkeit derart schrumpft, lässt aber auch die Sorge aufkommen, wohin das noch führen wird. Weder meine Lebensbedingungen noch meine Zukunftsaussichten sind rosig, und schmerzlich muss ich zur Kenntnis nehmen, dass ein berufliches Aus eher früher als später folgen wird. Viel Luft ist momentan nicht da.

Indem ich mich mit meinem Leben emotional auseinandersetze, konfrontiere ich mich mit Enge und Ängsten, Schmerz und Verzweiflung, Minderwertigkeit und peinlicher Berührtheit, Hilflosigkeit und Resignation. Mein Leben ist nicht angenehm, aber lebendig werde ich gerade dadurch, dass ich es lebe – das ist verdammt schwer. Es fällt mir schwer, meinen Ängsten gegenü-ber-zu-stehen. Es fällt mir schwer, meinen körperlichen Abstieg zu erleben und meine Verluste zu betrauern.

Beim zweiten Schritt auf der Schwelle geht es darum, sich von Gewohntem zu verabschieden, Vertrautes aufzugeben und Liebgewordenes zurückzulassen, sonst wäre es unmöglich, sich auf Neues einzulassen, da das Alte den Blick auf sich lenken und ihn nicht frei geben würde. Goethe schrieb: „Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder.“ Ohne Bodenhaftung, ohne das, was ist, zumindest auszuhalten, und ohne Lebendigkeit, die ich momentan vorwiegend als schmerzlich empfinde, wäre es mir unmöglich, die Türe in ein neues Zimmer zu öffnen, und das einzig Sinnvolle, das ich mir in dieser Zeit schenken kann, ist, dass ich mir die Zeit nehme, die ich für mich brauche.

Was heißt das für mich?

Der dritte Schritt schließlich beinhaltet die zentrale Aufgabe der Schwelle, den eigenen Standpunkt in dem, was und wie es ist, zunächst zu klären und letztlich zum eigenen Leben Stellung zu beziehen. Eines ist mir bereits klar geworden: Im Unterschied zu früheren Erfahrungen geht es diesmal vorrangig nicht darum, erneut Rahmenbedingungen und Strukturen zu schaffen, innerhalb derer mein „neues Leben“ gelingen kann, sondern es geht primär um die Frage, wie und ob ich trotz mangelnder Vitalität mein Leben zu gestalten und im besten Fall meine Vitalität wieder zu steigern vermag. Die MS sagt mir in diesem Kontext, dass ich meine Grenzen achten und mich und mein Wollen innerhalb dieser Grenzen positionieren muss. Eine Vorraussetzung dafür ist der durch mein Karenzjahr geschaffene Freiraum, in dem sich meine Lebenskraft neuerlich entfalten kann.

Im Gegensatz zu einer zeitlich begrenzten Verkühlung, bei der es für die eigene Gesundung sinnvoll ist, daheim zu bleiben und das Bett zu hüten, verhält es sich im Falle eines andauernden Energiemangels anders: Um überhaupt Dinge angehen und anpacken zu können, um überhaupt ins Leben zu kommen, halte ich es für wesentlich, diese Blockade von Zeit zu Zeit zu überwinden, denn die Alternative, mein Dasein vorwiegend zuhause und im Bett zu verbringen, stellt für mich keine lebenswerte Option dar. Auf der anderen Seite wäre bloßer Aktionismus, der sich nicht aus einem Mögen, sondern aus einer Verzweiflung speist, eine glatte Lüge und aufgrund meiner reduzierten Kraft auch gar nicht durchführbar.

Der Dünger, der die Vitalität wachsen lässt, ist aber ein Inhalt, etwas, wofür es sich in einer konkreten Situation zu leben lohnt.

Zunächst werde ich nun daran gehen, meine Assistenzstunden zu erhöhen, damit nicht nur das abgefedert wird, was ich nicht mehr kann, sondern um mir vor allem den Zugang zu dem zu erleichtern, was ich mag und gerne tun würde. Falls nämlich mein Vitalitätsmangel und meine Müdigkeit durch eine depressive Grundstimmung genährt werden, könnte dieser Schritt durchaus mein Energiepotential auftanken. Letztlich ist das jedoch nur ein Versuch, und Scheitern ist daher möglich. Aber wenn etwas da ist, wofür ich lebe, dann gelingt mir auch der Schritt ins Leben leichter. Wenn mir z.B. jemand hilft, ein Bild zu malen, indem er die Farben mischt, das Wasser wechselt, die Leinwand richtig positioniert…, mich dadurch kurz gesagt von für mich aufwändigen Nebensächlichkeiten befreit, könnte mir mein Schaffen wirklich Freude bereiten – wie ich es bei meiner letzten Rehab erlebt habe. Gerade im Tun – wie ich es im Augenblick beim Schreiben meiner Arbeit erlebe – fühle ich mich lebendig und trotz einer gewissen Anstrengung eigentlich wach. Dieses Tun eröffnet mir einen Sinn, und gerade der Sinn, den eine Situation hergibt, schenkt mir für diesen Augenblick Kraft und für den nächsten das angenehme Gefühl, etwas für mich getan zu haben.

Das Leben ist bewegend und meineÜberlegung ist die, ob ich durch körperliche Bewegung (z.B. durch Krankengymnastik) nicht auch wieder lebendiger werde, mehr ins Leben komme und sich dadurch eine „Tankstelle“ für meine mangelnde Lebensenergie auftun könnte. Wenn ich mein Tun durch den Aspekt der Bewegung noch erweitere, erhoffe ich mir primär keinen körperlichen Aufbau, sondern letztlich mehr Lebendigkeit. Auch dies ist „nur“ ein Versuch – aber bin ich nicht gerade im Ausprobieren neuer Möglichkeiten schon lebendiger?

Es geht mir in diesem Schritt darum, neue Möglichkeiten für mich zu entdecken und auszuprobieren, ob sie für mich durchführbar sind, mich freuen und ich mich darin wiederfinde.

Ich werde eine Möglichkeit dann annehmen, wenn ich das, was sie mir eröffnet, mag und sie ablehnen, wenn ich das nicht mag. Die Durchführbarkeit, die Freude und meine Identifikation sind die Kriterien, nach denen ich mich schließlich für oder gegen eine dieser Optionen entscheide. In meiner Entscheidung stelle ich für mich fest, was die beste Möglichkeit für mich ist, die die jeweilige Situation hergibt. Mit der Entscheidung nähere ich mich nun meiner Ausgangsfrage, ob ein erfülltes Leben mit chronischer Krankheit möglich ist. Erfülltes Leben kann nur entschiedenes Leben sein. Die Entscheidung macht mich frei, mich auf mich und mein Leben einzulassen. „Freiheit, des hoaßt ka Angst hab´n vor nix und neamands.“1 Mich hat dieser Liedtext von Konstantin Wecker immer schon betroffen gemacht, auch wenn ich früher nicht wusste, warum. Meine Freiheit ist es, keine Angst davor zu haben,was mein Leben an Überraschungen und Unvorhersehbarem parat hat, was es mir hergibt, aber vor allem nimmt, keine Angst vor der Konfrontation mit mir und meinem Schmerz angesichts meiner Ohnmacht zu haben. Meine Freiheit ist es, mich einfach auf mich und meinen Weg einlassen zu können, mich fallen zu lassen und im nächsten Zimmer zu landen. Erfülltes Leben ist freies Leben und der Schlüssel für mein nächstes Zimmer ist meine Freiheit…

Das Zimmermodell und die Existenzanalyse

1. Das Zimmer

„… und meine Freiheit ist das Zimmer.“

„Freiheit, des hoaßt ka Angst hab´n vor nix und neamands.“1

Die Freiheit, die ich in meinem Zimmer genieße, „des hoaßt ka Angst hab´n“ vor meinem Leben und vor meinem Schmerz.

Es gibt zwei Voraussetzungen dafür, dass ich in meinem Zimmer angekommen bin: Erstens habe ich mir meinen Freiraum geschaffen, zweitens bin ich innerlich frei geworden.

Die MS beschneidet meinen Lebensraum oder anders gesagt: Sie gibt mir die Rahmenbedingungen vor, innerhalb derer sich mein Leben abspielen kann. Ich erfahre es als Aufgabe, mich meiner aktuellen Krankheitssituation, aber auch der vorhersehbaren Krankheitsentwicklung zu stellen. Wenn ich das sehen kann, was ist bzw. was in näherer Zukunft sein wird, ergibt sich fast wie von selbst die Frage: „Was brauche ich bzw. welche Hilfestellungen gibt es überhaupt, damit ich möglichst gut leben kann?“ In dieser Phase halte ich die Augen offen, höre mich um und informiere mich über konkrete Hilfsangebote. Durch die Hilfe (persönliche Assistenz, E-Rollstuhl, Deckenlifter…) erweitert sich mein Handlungsspielraum. Dadurch entsteht für mich ein Freiraum.

Der Freiraum ist der Raum, in dem potentiell innere Freiheit entstehen kann, aber noch nicht entstehen muss. Damit Freiheit entstehen kann, reicht meine Offenheit gegenüber meiner MS und den erforderlichen Hilfsangeboten nicht aus. Es reicht nicht aus, dass ich auf Krankheitseinbrüche gut reagiere oder mit diesen gut umgehe. Es reicht nicht aus, dass ich dafür Anerkennung von außen bekomme.

Das Wesentliche ist vielmehr, dass ich spüre, dass ich in diesen schwierigen Situationen letztlich mit mir gut umgehe und mich selbst als Wert erlebe. In dieser wertschätzenden Haltung mir selbst gegenüber wird mir warm ums Herz. Durch meine Wertschätzung komme ich mir nahe, und erst, wenn ich ‚Ich’ bin, bin ich frei. Viktor Frankl schrieb: „Die Freiheit ‚hat‘ man nicht – wie irgend etwas, das man auch verlieren kann –, sondern die Freiheit ‚bin ich‘ .“ (Frankl 1997, 218)

Aus dem Lied „Willy“ von Konstantin Wecker.

Viktor Frankl beschäftigte sich mit dem Sinn des Leidens, und er brachte seine Gedanken dazu auf den Punkt, indem er Yehuda Bacon zitierte: „Das Leiden hat einen Sinn, wenn du selbst ein anderer wirst.“ (Frankl 1998, 34) Die Frage, ob die MS für mich einen Sinn hat, kann ich nicht beantworten, aber ebenso wenig die Frage, ob sie sinnlos für mich ist. Den Umgang mit ihr erfahre ich aber als Aufgabe und Herausforderung, und insofern werde ich das Zitat für mich umformulieren: Mein Leiden stellt an mich die Aufgabe, dass ich mir unter geänderten Rahmenbedingungen nahe bleibe; und wenn es mir gelingt, diese Aufgabe zu lösen, erlebe ich das als Sinn.

Da ich mich jedoch in einer dialogischen Auseinandersetzung sowohl mit der Welt als auch mit mir befinde, werde ich ein anderer. Aber ich empfinde diese Tatsache als Begleiterscheinung des Prozesses des „Ich-Bleibens unter geänderten Rahmenbedingungen“.

Bedeutung des Zimmermodells
Gelassenheit Standortbestimmung
Weil durch mein Vorwissen mehr Freiraum und
Sicherheit entsteht.
Berührbarkeit Durch Angstkonfrontation weitet sich meine Enge.
Durch Trauerarbeit kann ich mit Verlust umgehen und mich Neuem öffnen.
Ich-Stärkung Indem ich mich der neuen Situation stelle und mich darin neu definiere und
ich mir unter geänderten Rahmenbedingungen nahe bleibe.
Sinnfindung Indem ich die wertvollste Möglichkeit in der Situation finde

Tabelle 1: Bedeutung des Zimmermodells

Würde ich im neuen Boden der geänderten Lebenssituation nicht wieder Wurzeln schlagen, wachsen und reifen, würde ich verkümmern. Ich kann „Ich“ sein, indem ich (ich) werde.

2. Existenzanalytische Anthropologie und Zimmermodell

Viktor Frankl beschreibt den Menschen als eine „Unitas multiplex“ (Frankl 1990, 125), „denn wir behaupten keineswegs, der Mensch sei ‚zusammengesetzt aus‘ Leib, Seele und Geist. All dies ist er vielmehr in einem; aber erst

das Geistige konstituiert und nur das Geistige garantiert dieses ‚Eine‘ … Immer nimmt der Mensch als Geist zu sich als Leib und Seele Stellung, immer steht der Mensch zu sich selbst als Leib und Seele gegenüber.“ (ebd. 112)

Das Geistig-Personale des Menschen ist das, was durch sein Psychophysikum „durchtönt“ (per-sonare heißt durchtönen) und den Menschen befähigt, zu sich Stellung zu beziehen und in Folge in Umgang mit sich und der Welt zu treten. Die Person stellt gleichsam die Mitte des Menschen dar – im religiösen Denken würde man von der Seele des Menschen sprechen.

Die Fähigkeit des Menschen, sich selbst gegenübertreten zu können, nannte Viktor Frankl Selbstdistanzierung (Frankl 1996, 161). Mein Zimmermodell ist ein Modell, das mir gute Dienste erweist, aus meiner „körperlichen Gefangenschaft“ auszubrechen, die durch den Verlust körperlicher Funktionen während einer Krankheitsverschlechterung

verursacht wird.

Durch mein Zimmermodell komme ich zweifach auf Distanz zu meinem Psychophysikum:

Erstens wird meine Enge in einer akuten Krise schon dadurch geweitet, als ich mittlerweile aus Erfahrung weiß, an welchem Punkt der Schwelle ich gerade stehe und welche Arbeitsschritte noch vor mir liegen. Das ist Selbstdistanzierung im Franklschen Sinn: Ich habe als Person die Freiheit, meinem Psychophysikum und meiner Lebenssituation gegenüberzutreten.

Zweitens bringt mich der Prozess des Wahrnehmens, des Erlebens und der Stellungnahme auf Distanz zu meinem angeschlagenen Psychophysikum und mich mir wieder nahe. Ich befinde mich also in einem Dialog mit mir selbst. „Eine Erweiterung und Akzentverschiebung erfuhr das Personkonzept durch A. Längle, der vom Verständnis der Person als ‚dem in mir Sprechenden’ ausgeht, zu dessen Wesensbestimmung der Dialog gehört.“ (Längle 2000, 30) Die Person ist demnach nicht nur befähigt, sich selbst gegenüberzutreten, sondern auch sich selbst zu begegnen.

Durch den Prozess des Wahrnehmens, des Erlebens und der Stellungnahme gelingt es mir aber nicht nur, mich selbst unter den geänderten Rahmenbedingungen neu zu definieren, sondern ich komme unter diesen geänderten Rahmenbedingungen letztlich auch wieder in einen Austausch mit meiner Umwelt. Nach Viktor Frankl langt der Mensch über sich selbst hinaus nach etwas, „das nicht wieder er selbst ist, nämlich entweder nach einem Sinn, den zu erfüllen es gilt, oder nach anderem menschlichen Sein, dem zu begegnen und das zu lieben es gilt“ (Frankl 1997, 35). „Je mehr er [der Mensch, Anm. d. Verf.] sich selbst übersieht, je mehr er sich selbst vergißt, indem er sich hingibt einer Sache oder anderen Menschen, desto mehr ist er Mensch, desto mehr verwirklicht er sich selbst.“ (ebd. 184)

In den Schritten der Schwelle erarbeite ich mir die Vorraussetzungen, die notwendig sind, um über mich überhaupt hinaussteigen zu können und mich wieder auf anderes oder andere einlassen zu können. In einer Krise, dem Zustand eines Auf-mich-Zurückgewor-fenseins und meiner Isolation von der Außenwelt, ist es mein Ziel, auf Distanz zu meinem Leid zu kommen, um mich meiner Umwelt wieder öffnen zu können. In einer Krise ist es mein Ziel, aus dieser heraus in ein neues Zimmer zu kommen. Im Kontext der Selbsttranszendenz kann ich sagen, dass mein Zimmer ein Bild für gelungene Selbst

2

Ursprünglich von V. Frankl als „Kopernikanische Wende“ in der Psychotherapie formuliert: „Das Leben selbst ist es, das dem Menschen Fragen stellt. Er hat nicht zu fragen, er ist vielmehr der vom Leben her Befragte, der dem Leben zu antworten – das Leben zu verantworten hat.“ (Frankl 1990, 96)transzendenz ist.

„Längle hat ab 1986 die Struktur des dreidimensionalen Menschenbildes unter einen existentiellen Gesichtspunkt gestellt. Dadurch verwandeln sich die drei Dimensionen zu unterschiedlichen Aufgaben, vor die der Mensch gestellt ist, um seine Existenz bewältigen zu können. Anders gesagt: Existieren bedeutet, diese Aufgaben zu erfüllen. Durch diese „existentielle Wende“2 entsteht ein rein dynamisches Menschenbild, das sich nicht mehr mit der Natur bzw. der Substanz der Dimensionen, ihrem Verhältnis zueinander und mit den Unterschieden ihrer Gesetzmäßigkeiten befaßt, sondern Pole beschreibt, zwischen denen sich das Menschsein abspielt.

In einem existenzanalytischen Verständnis des Menschen lautet daher die anthropologische Frage: Zwischen welchen Polen ist der Mensch eingespannt?

Unter Einbezug der existentiellen Wende erhalten diese Pole eine Dynamik, weil sie zur Anfrage an den Menschen werden. Die rein anthropologische Frage mutiert daher zur existentiellen Frage: Was haben wir zu „besorgen“, damit unser Leben gelingen kann?“ (Längle 1005, 73)

Das Menschsein ist nach Alfried Längle zwischen folgenden Polen eingespannt:

  1. Gesundheit und Krankheit auf der körperlichen Ebene,

  2. Lust und Unlust auf der psychischen Ebene,

  3. Erfüllung und Leere bzw. Glaube und Verzweiflung auf der geistigen Ebene. (ebd.)

Insofern ich mein Leben auf der Schwelle als Aufgabe begreife, stehe ich auch auf dieser im Leben. Ich erlebe es aber als ein reduziertes Leben, da mir zwar meine Selbstdistanzierung im Wesentlichen gelingt, die Selbsttranszendenz aber nur rudimentär und streckenweise gar nicht.

Dem dynamischen Menschenbild, welches zwischen den Polen Gesundheit und Krankheit, Lust und Unlust und Erfüllung und Leere bzw. Glaube und Verzweiflung eingespannt ist, kann ich sehr viel abgewinnen. Denn gerade auf der Schwelle erlebe ich mich zwischen diesen Polen eingespannt. Meine Aufgabe auf der Schwelle ist es, aus der destruktiven Umklammerung der Krankheit, der Unlust und der Leere bzw. der Verzweiflung zu entkommen. Und es ist sehr wohl möglich, dass ich mich trotz chronischer Krankheit gesund fühle, dass ich die Anziehung der Welt und anderer Menschen spüre und Lust empfinde und mein Leben als ein erfülltes wahrnehme. Das ist dann der Fall, wenn es mir gelingt, durch mein erkranktes Psychophysikum hindurch mir selbst ganz nahe zu kommen. Wenn ich mir ganz nahe komme, stellt sich ein Paradoxon ein, nämlich, dass ich mich selbst vergessen und mich auf andere(s) einlassen kann.

3. Personale Existenzanalyse undZimmermodell

Alfried Längles Verdienst ist es, dass er das philosophische Menschenbild Viktor Frankls dynamisiert hat, indem er die Person in das Mensch-Sein einbettet und die Ganzheitlichkeit des Menschen betont. Die geistige Person kann sich nicht nur gegenüber dem „antigeistigen“ Psychophysikum frei verhalten und gegen dieses opponieren, sondern der Mensch ist als Person ansprechbar, verstehend und antwortend. Insofern, als die Person ansprechbar und antwortend ist, revolutionierte Alfried Längle das Franklsche Personverständnis. Die Fähigkeit der Person zum Ja- oder Neinsagen in der Stellungnahme bewahrt den Franklschen Personbegriff auch in der heutigen Existenzanalyse (Längle 1999b).

Als therapeutisches Konzept findet die heutige existenzanalytische Anthropologie ihren Ausdruck in der Personalen Existenzanalyse.

Primär ist der Mensch zunächst in seine Realität eingebettet, und seine erste Aufgabe ist es, diese wahrzunehmen (PEA 0). Wenn sich der Mensch seiner Realität aussetzen kann, entsteht bei ihm ein emotionaler Eindruck, den er verbunden mit einem ersten Impuls als angenehm oder unangenehm empfindet (PEA 1). Das faktische Wahrnehmen der Realität, das Erleben der eigenen Emotionen und das Verstehen von sich selbst bilden die Vorraussetzungen für eine Stellungnahme (PEA 2) der Person, aus der erst ein stimmiges Umgehenkönnen mit sich und der Welt resultiert (PEA 3).

Das Zimmermodell ist die Verbildlichung der PEA auf meine Situation und meine Person hin. Vor allem im Prozess innerhalb der Schwelle wird mir offenbar, dass gerade die faktische und die emotionale Auseinandersetzung mit meiner Wirklichkeit mit der MS, in der meine Fähigkeiten und Möglichkeiten immer geringer werden, eine schwere Aufgabe für mich darstellt. Ohne diese Auseinandersetzung würde mein Handeln jedoch nur ein bloßes Agieren und Reagieren bleiben, und ich würde mich leer fühlen, da ich – ohne zu sehen, was ist, und ohne zu erleben, wie es ist, – meine Position innerhalb meines Lebens nicht finden könnte. Stellungnahme bedeutet, dass ich mich – mit meinen Gefühlen und meinem Gespür für das für mich Richtige – sowohl der konkreten Lebenssituation als auch mir stellen kann. Indiz dafür, dass ich mich in meinem Leben gefunden und positioniert habe, ist das Gefühl der Freiheit. Freiheit ist für mich als grenzenlose Freiheit undenkbar (Frankl 1997, 53) und für mich spürbar, wenn ich definiert (begrenzt) bin. Erst wenn ich frei bin, mich für oder gegen eine konkrete Situation zu entscheiden, stellt sich die Frage nach meiner Verantwortung für mich und meine Umwelt. Erst durch meine Freiheit wird es mir möglich, mit mir und meiner Umwelt stimmig und aktiv umgehen zu können.

4. Grundmotivationen und Zimmermodell

Alfried Längle begann 1992 einen Vortrag mit den Worten: „Ich möchte heute Abend darüber sprechen, was uns als Menschen bewegt – was uns in unserem Menschsein bewegt.“ (Längle 1999a, 18) Er machte in unzähligen Existenzanalysen die Beobachtung von vier fundamentalen Strebungen des Menschen: „Diese fundamentalen Strebungen sind die Seinsfrage, die Wertfrage, die Rechtfertigungsfrage und die Sinnfrage der Existenz.“ (ebd. 18f.) Ausgeschrieben lauten die Fragen: „Ich bin – kann ich sein?“ (= 1. GM = 1. existentielle Grundmotivation); „Ich lebe

– ist es gut, dass ich lebe?“ (2. GM);„Ich bin Ich – darf ich so sein, wie ich bin?“ (3. GM); „Ich bin da – wofür ist es gut, dass ich da bin?“ (4. GM). „Der Kampf ums Dasein, um den Wert des Lebens und um die Behauptung der Eigenständigkeit der Person bilden die personalen Vorausetzungen für erfüllte Existenz. In der Sinnsuche erfährt dieses Streben schließlich seine Abrundung, wenn der Mensch sich in größeren Zusammenhängen findet. Und in ihrem Horizont sein Leben vollzieht.“ (ebd. 19)

In meinem Zimmermodell bin ich in doppelter Hinsicht mit diesen vier Grundfragen konfrontiert:

Auf der Schwelle ist es definitiv ein Kampf um mein Daseinkönnen, um den Wert meines Lebens und um meine Identität innerhalb geänderter Rahmenbedingungen. Diesen Kampf kann ich zunächst einmal nur dann aufnehmen, wenn ich das Vertrauen habe, dass ich

– auch wenn ich aufgrund einer Krank-heitsverschlechterung falle – letztlich auf einem Boden landen werde (1. GM). Ein krisenhafter Einbruch tut mir weh. In einer solchen Situation meint es mein Leben nicht gut mit mir. Aber ist es deshalb schon schlecht, dass es mich gibt? Würde ich diese Frage bejahen, würde ich nicht kämpfen. Allein die Tatsache, dass ich den Kampf aufnehme, zeigt, dass ich mich als wertvoll erlebe (2. GM).

Bei der Frage: „Darf ich so sein, wie ich bin?“ drängt sich momentan eine andere Frage vor: „Darf das Leben so (gemein) zu mir sein?“. Es stellt sich hier aber nicht die Frage des Dürfens, sondern das Leben kann mir eben als eisiger Wind entgegenblasen. Hier zeigt sich aber schon ein wesentliches Kriterium der 3. GM, nämlich dass ich mich demgegenüber, was nicht ich bin, abgrenze. Meinen Einsatz für mich auf der Schwelle erlebe ich nicht einfach als Leistung, sondern viel mehr als Anerkennung und Wertschätzung meiner Person. „Es bleibt letztlich an mir und stellt eine ganz persönliche Leistung in meinem Leben dar, dieses ‚Ja zu mir’ als Person hervorzubringen und in der Treue zu sich zu halten. Dann wird leben authentisch.“ (ebd. 28) In der „inneren Stimmigkeit“ (Längle 2000, 5), die ich in der Authentizität erlebe, begegne ich der Freiheit.

Die Freiheit ist mein Zimmer. Auch mein Zimmer kann ich hervorragend am Portfolio der Grundmotivationen erklären: Es ist der Ort, an dem ich meine Rahmenbedingungen akzeptiert habe und nicht nur aushalte (1. GM). Dadurch, dass ich meine Begrenztheit sein lassen kann, ist Ruhe in mir eingekehrt, und ich kann mich - oder besser gesagt -, ich mag mich wieder auf das, was mir wertvoll ist, einlassen. Durch die innere Ruhe mag ich mir wieder die Zeit nehmen, mich von meiner Umwelt berühren zu lassen, und ich erlebe das Leben wieder als geschmackvoll (2. GM). Im Zimmer ist auch wieder das Gefühl da, es passt schon so, wie ich bin (3. GM) und auf dem fruchtbaren Boden der Zu-frieden-heit mit mir selbst, wächst die Pflanze der Offenheit – oder anders gesagt: Wenn ich mit mir meinen Frieden habe, kann ich mich wieder uneingeschränkt der Welt öffnen. Durch meine Offenheit erlebe ich eine Paradoxie, die als „kopernikanische oder existenzielle Wende“ in die existenzanalytische Literatur eingegangen ist: „Das Leben ist es, das Fragen stellt, Fragen an uns richtet – wir sind die Befragten! Wir sind die, die da zu antworten haben, Antwort zu geben haben auf die ständige, stündliche Frage des Lebens, auf die ‚Lebensfrage’. Leben selbst heißt nichts anderes als Befragtsein, all unser Sein ist nichts weiter als ein Antworten – ein Ver-Antworten des Lebens.“ (Frankl 1996, 89) Wenn ich die für mich wertvollste Möglichkeit aus den Anfragen der Welt in einer konkreten Situation wähle, erlebe ich Sinn (vgl. Längle 1998, 121) (4. GM) – auch trotz meiner Einschränkungen.

Literatur

Frankl V (1990) Der leidende Mensch. Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie. München: Piper

Frankl V (1996) Die Sinnfrage in der Psychotherapie. München: Piper, 6° Frankl V (1997) Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn. München: Piper, 7° Frankl V (1998) Das Leiden am sinnlosen Leben. Freiburg: Herder, 9°

Längle A (1998) Lebenssinn und Psycho-Frust. Zur existentiellen Indikation von Psychotherapie. In: Riedel L (Hg) Sinn und Unsinn der Psychotherapie. Basel: Mandala

Längle A (1999a) Was bewegt den Menschen? Die existentielle Motivation der Person. Existenzanalyse 16, 3, 18-29

Längle A (1999b) Die anthropologische Dimension der Personalen Existenzanalyse. Existenzanalyse 16, 1, 18-25

Längle A (2000) (Hg) Lexikon der Existenzanalyse und Logotherapie. Wien: GLE-Verlag

Längle A (2005) Lehrbuch zur Existenzanalyse (Logotherapie). Grundlagen. Wien: Gle-Verlag, 3°


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