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DAS TELEFON LÄUTET. NOCH.

Der Mann weint. Der Mann sitzt im Wohnzimmer vor seiner Stereo-Anlage und weint. Der Mann sitzt im Wohnzimmer vor seiner Stereo-Anlage und ungefähr 4.500 CDs und er hat Angst, eine einzige davon zu spielen.


Vor einer Woche war die Welt noch in Ordnung. Vor einer Woche hat sich der Mann, bevor er das Haus verließ, wie jeden Morgen noch eine CD ausgesucht, um sie auf dem Weg zur Arbeit in der U-Bahn anzuhören. Mittels seines tragbaren CD-Players.

Der Mann setzt sich auf einen freien Platz im Wagon, schaltet den CD-Player ein, schließt die Augen und lehnt sich genüßlich zurück. Die Menschen um ihn herum verschwinden, unsichtbar, unhörbar. Einzig die stakkato-artig durch die verschlierten Fenster hereinblitzenden Sonnenstrahlen vermögen ihn in jener Welt zu stören, in welche seine Musik ihn versetzt.

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Plötzlich reißt der Mann die Augen auf und das nicht wegen der Sonne: Der CD-Player hat eine ganze Nummer übersprungen. Übersprungen ist nicht der richtige Ausdruck: Der CD-Player ist über eine Nummer drübergewischt , hat ab und zu ein paar Musikfetzen übertragen, die man schwerlich als Musik identifizieren kann.

Der Mann sieht sich um. Hat die U-Bahn geruckelt? Ist jemand an ihn angestoßen? Es hat nicht den Anschein. Der Mann holt seinen CD-Player aus der Tragetasche heraus, drückt auf „Stop“, wieder auf „Play“, ruft die ausgelassene Nummer ab. Und der CD-Player macht, was er soll. Störungsfrei.

Der Mann beruhigt sich. Ist ja nichts passiert. Ein kleiner, unerklärlicher Zwischenfall, nichts weiter.

Aber bei der Heimfahrt passiert es schon wieder. Aufgebracht nimmt der Mann die CD heraus, untersucht sie eindringlich, ohne auf die Leute zu achten, die ihn dabei verstohlen beäugen. Keine Spur von Kratzern oder Verschmutzung. Der Mann legt die CD wieder ein, drückt auf „Play“ – und hört eine tadellose Wiedergabe. Er läßt sich zurücksinken. Nur die Augen wollen nicht geschlossen bleiben. Der Mann ist skeptisch geworden.

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Daheim reinigt er die CD und spielt sie ab, nur um festzustellen, ob sie in Ordnung ist. Sie ist es. Er spielt sie nochmals ab. Er sitzt da und hört unaufmerksam Musik. Er spekuliert damit, ob atmosphärische Störungen auf einen CD-Player einwirken können – oder Handies. Er verwirft das. Die CD ist zu Ende und er legt keine neue ein. Ihm steht jetzt nicht der Sinn nach Musik. Er grübelt.

Am nächsten Tag wiederholt sich die Störung seines morgendlichen Genusses. Im Laufe der Woche wiederholt sich dies immer öfter. Der Mann verfällt zusehends. Er schläft schlecht, er ist unaufmerksam bei der Arbeit, er steigt in der U-Bahn-Station in die falsche Fahrtrichtung ein, er interessiert sich immer weniger fürs Essen, er spielt CDs nur noch ab, um zu überprüfen, ob sie sich auch abspielen lassen.

Und er bleibt alleine mit seinem Problem. Er traut sich nicht, irgendjemanden einzuweihen. Er käme sich blöde vor, anderen von so einer Sorge zu erzählen.

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Doch nach einer Woche meint er, daß er jetzt genug gelitten hätte. Nach der Arbeit betritt er ein Hifi-Geschäft und gesteht sein Dilemma. Der Verkäufer lächelt. Das sei ganz normal, sagt er. Der Laserstrahl habe sich verstellt. Das passiert so nach drei, vier Jahren bei jedem tragbaren CD-Player, sagt der Verkäufer. Das ließe sich zwar reparieren, aber das zahle sich nicht aus. Am besten, der Mann kaufe sich einen neuen, sagt der Verkäufer.

Der Mann ist erstarrt. Er hat kein Problem damit, sich einen neuen CD-Player zu kaufen, er hat vielmehr ein Problem mit dessen absehbarer Selbstauflösung. Und es geht ihm auch nicht so sehr um den tragbaren, sondern vor allem um den CD-Player zu Hause, den nicht-tragbaren sozusagen. Verstellt sich bei diesem der Laserstrahl ebenfalls, fragt der Mann, das wäre untragbar, findet der Mann.

Der Verkäufer meint: Naja, schon. Es dauert halt länger. Wie lange, das kann er mit Bestimmtheit nicht sagen. – Und zahlt sich eine Reparatur dabei aus? Das komme auf das Gerät an. In der Regel aber eher nicht.

Aber eher nicht.

Der Mann bedankt sich mit eiserner Miene, verläßt das Geschäft, winkt sich ein Taxi herbei, läßt sich heimfahren, schweigsam, beherrscht.

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Jetzt weint der Mann. Er sitzt im Wohnzimmer vor seiner Stereo-Anlage und ungefähr 4.500 CDs und er hat Angst, eine einzige davon zu spielen.

Er erinnert sich an jene Zeit, als die CD-Player aufkamen. An seine erste CD. Daß er sich aus Bequemlichkeit bald keine LP mehr anhörte – und weil diese Kratzer hatten und knisterten. Daß er seine ungefähr 2.500 LPs allmählich gegen CDs austauschte. Er sieht es noch vor sich, wie sich Freunde und Bekannte über die Gratis-LPs hermachten. Nur den Plattenspieler behielt er, aus Sentimentalität.

Dort steht er, auf dem ausladenden Hifi-Regal, abgestaubt, unbenutzt. Bei dem hatte er früher nur die Nadel austauschen müssen, wenn sie sich verbogen hatte oder verschlissen war. Einfach eine Nadel kaufen, die alte herausnehmen, die neue einsetzen. Und spielen.

Der Mann überlegt, ob er sich wieder Platten kaufen sollte. Aber es gibt ja kaum noch welche! Nur noch diese verhaßten, praktischen CDs.

Der Mann überlegt, ob er sich seine CDs auf Cassetten aufnehmen soll und in der U-Bahn seinen alten Walkman benutzen. Aber dafür müßte er ja den CD-Player mehr als 4.500 Stunden in Betrieb nehmen! Ob der Laserstrahl das aushält?

Der Laserstrahl. Wann wird er sich verstellen? Wann wird er den CD-Player wegwerfen können?

Der Mann sieht von Plattenspieler zu CD-Player, wieder zurück, hin und her. Er erblickt sein Schnurlos-Telefon. Seinen Laptop. Seinen Videorecorder. Sogar die TV-Fernbedienung macht ihm angst. Lebe ich mit vielen kleinen Zeitbomben, fragt sich der Mann. Bedrohung legt sich wie ein schwerer Mantel um ihn. Er friert. Das Telefon läutet. Noch. ###

© spectrum 2000

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