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LIEBER
HÄTTE ER GEARBEITET
„Ich habe nie Dogmen
aufgestellt“, sagt der Dirigent Nikolaus Harnoncourt, dem man genau dies
vorwirft.
© Nikolaus
Similache
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Zerknirscht und bereichert
gestehe ich: Ich habe Nikolaus Harnoncourt von der Arbeit abgehalten. Er hätte
sich lieber auf eine Opern-Aufführung vorbereitet, gewissenhaft und unermüdlich,
wie er nun einmal ist. Statt dessen ließ er sich von mir fragen, ob es
stimmt, was die Leute über ihn sagen und schreiben. Denn Harnoncourt wurde
und wird folgendermaßen zitiert und/oder mit folgenden Schlagworten belegt:
– gegen erstarrte Hörgewohnheiten,
– „man hat im Konzertbetrieb lauter Unsitten kultiviert“,
– dirigiert Werke gegen den Strich (Harnoncourt dazu: „Ich wohne
am Land, wo man Tiere nicht gegen den Strich bürstet“),
– Karajan der alten Musik,
– Gegenmusik für Gegenpublikum,
– Trendsetter,
– Schrullen eines Wichtigtuers,
– fanatisches Bekennertum,
– „bin kein isolierter, einzelgängerischer Wahnsinniger“,
– macht, was er will,
– kreatives Chaos,
– „Kultur ist ein Grundnahrungsmittel“.
Richtig oder falsch
Harnoncourt hat zwar seine Einstellung zur Musik, zum Musikbetrieb und zum Thema
„Musik und Gesellschaft“ in drei Büchern („Musik als
Klangrede“, „Der musikalische Dialog“, „Die Macht der
Musik“) eindeutig dargelegt, behauptet jedoch selbst, dass man aus seinen
Büchern sowieso nur das herausziehen würde, was man schon vorher verstanden
habe. Ich zum Beispiel habe mich in diesen Sätzen wiedergefunden:
– Unbewegt Musik zu hören, erfordert nämlich abwehrende
Konzentration.
– Es wurde bis in die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts gepredigt,
dass Musik eine Sprache in Tönen sei, dass es darin um Dialog, um dramatische
Auseinandersetzung gehe. – Solange die Musik wesentlicher Bestandteil
des Lebens war, konnte sie nur aus der Gegenwart kommen.
– Es gibt zwei grundsätzlich verschiedene Prinzipien in der Anwendung
von Notation: 1) Das Werk wird aufgeschrieben, die Wiedergabe ist aus der Notation
nicht zu erkennen, 2) die Ausführung wird niedergeschrieben … Generell
ist die Musik etwa bis 1800 nach dem Werkprinzip notiert, danach als Spielanweisung.
– Wollen wir Musik spielen, die in der Werknotation aufgeschrieben ist,
fehlt uns die genaue „Gebrauchsanweisung“.
– Noch bis vor kurzem hat man in der Musikästhetik und auch in der
Instrumentenkunde einen Standpunkt eingenommen, den man in der Kunstgeschichte
längst verlassen hat, nämlich den, dass es sich um Entwicklungen aus
primitiven Anfangsstadien, mittels ständiger Verbesserungen, zu einem stets
in der Gegenwart befindlichen Optimum handelt. Dieser Standpunkt lässt
sich weder von der Ästhetik noch von der technischen noch von der historischen
Seite her aufrechterhalten. Wir haben es mit wertfreien Akzentverschiebungen
zu tun. ... Für jede Verbesserung auf einer Seite muss mit einer Verschlechterung
aus der anderen Seite bezahlt werden.
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– Inzwischen hat sich herausgestellt, dass man auf alten Instrumenten
genausogut musizieren kann, wie auf den anderen, es kommt also darauf an, warum
ein Musiker sich für dieses oder jenes Klangmittel entscheidet.
– Wir müssen die Überzeugungskraft in der Wiedergabe suchen
und nicht das „Richtige“ oder „Falsche“.
Rockkonzerte
Im Gespräch will ich den Rest auch noch verstehen: An der Musikakademie,
sagt Harnoncourt, habe er bald gewusst, dass er in Ensembles immer eine führende
Position einnehmen werde; nicht aus einem Machtstreben, sondern aus gesteigertem
Interesse heraus. Und an der Musikakademie habe man also behauptet, alte Musik
sei einfach, und er habe wie alle anderen geglaubt, Barockmusik sei langweilig.
Nun sei er aber durch seine Beschäftigung mit Kunst und Kunstgeschichte
stutzig geworden: Wieso sollte gerade die Musik in einer Epoche wie dieser fad
gewesen sein? Man könne doch nachlesen, dass sich das Publikum bei Konzerten
oft auf den Boden geworfen und seine Kleidung zerrissen habe, wie man das heute
nur mehr bei Pop- und Rockkonzerten erlebe. Daraufhin habe er sich mit der alten
Musik ernsthaft zu beschäftigen begonnen, den Concentus gegründet,
mit dem er vor allem weg vom gängigen Repertoire wollte. Aber nicht historisierend.
Mit der Zeit sei er allerdings draufgekommen, dass die alte Musik auf modernen
Instrumenten nicht adäquat wiedergegeben werden könne. Im Kunsthistorischen
Museum habe der Concentus dann (mit Erlaubnis des Direktors) auf historischen
Instrumenten herumprobiert und entdeckt, dass sich diese für die Musik
ihrer Zeit besser eignen würden als die „modernen“. –
Und sofort seien die Concentus-Musiker als Spezialisten bezeichnet worden.
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Er sei aber doch als Orchestermusiker der Symphoniker und als Mitglied zahlreicher
Kammermusik-Ensembles alles andere als ein Spezialist gewesen. Und schon deshalb
nie durch die Jahrhunderte der Musikgeschichte gewandert, wie ihm jetzt unterstellt
werde. Er habe sich immer für alles interessiert, manches allerdings aus
Überzeugung nicht gemacht, für anderes halt länger gebraucht.
Harnoncourt sieht verstohlen auf die Uhr.
Im Gegenteil
Ich behaupte rasch, dass man ihm die meisten Dogmen doch ohnedies nur unterstelle
und ihm dann vorwerfe, diesen untreu geworden zu sein. Aber ja! antwortet er.
Allerdings würde ihm das, sagt er, hauptsächlich von den Kritikern
vorgeworfen. Man müsse nämlich wissen, dass die Concentus-Konzerte
von Anfang an gestürmt worden seien. Auch Veranstalter und Plattenfirmen
seien alsbald vorstellig geworden. Es sei ihm vorgekommen, als würde er
mit Konzerten alter Musik ein schlummerndes Bedürfnis befriedigen.
Und nicht alle Kritiker hätten den Concentus als „im Grunde spinnert“
gefunden. Aber das Negative falle halt mehr auf. Auch bei den Symphonikern sei
er anfangs schief angesehen worden, aber schon nach kurzer Zeit wollten immer
mehr mitspielen, und schließlich wollte man sogar, dass in den Concentus-Programmheften
erwähnt werde, dass dieses Ensemble vor allem aus Symphonikern bestehe.
Und er habe nie Dogmen aufgestellt – im Gegenteil. Er sei einmal zu einem
Lautinisten-Kongress eingeladen gewesen, wo man sich etwa darüber gestritten
habe, wo man den kleinen Finger aufsetzen oder wie man die Laute halten müsse.
Und innerhalb von kurzer Zeit seien Gruppen entstanden, die die anderen Gruppen
nicht mehr als Lautinisten bezeichnet hätten, weil sie den kleinen Finger
so halten oder die Laute dort aufsetzen würden.
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Das seien doch alles lächerliche Streitereien. Er selbst habe kein Problem
damit, ein Naturhorn in einem „normalen“ Orchester einzusetzen –
wenn es der Sache dienlich sei. Es gehe doch darum – Harnoncourt sieht
nicht wirklich heimlich auf die Uhr –, Musik besser zu verstehen, und
nicht, ob irgendetwas richtig ist oder falsch.
Tagtäglich
Ob er über die Jahre optimistischer geworden sei, will ich noch wissen,
weil er in seinen Anfängen behauptet hatte, dass wir uns dadurch in einer
ausweglosen Lage befinden würden, dass Musik nicht mehr zu den Grundpfeilern
unserer Kultur, unseres Lebens gehören würde, und 1980, bei der Verleihung
des Erasmus-Preises in Amsterdam: „Wenn ich sehen müsste, dass dies
die unwiderrufliche Situation unserer Kunst ist, würde ich sofort aufhören,
Musik zu machen.“ – Nun, er sei von Natur aus Pessimist, antwortet
er. Aber er sehe auch, dass man nicht notwendigerweise so sein muss: Seine Frau
Alice (die Konzertmeisterin des Concentus musicus kopiert während des Gesprächs
Noten), sei grundsätzlich Optimistin. Und er sei überzeugt –
Harnoncourt sieht demonstrativ auf die Uhr –, dass er durch sein Wirken
vermitteln konnte, dass Musik eine uns direkt ansprechende, betroffen machende,
uns verändernde Aussage sei.
Bevor er sich erheben kann und weil immer und überall angenommen wird,
Künstler sein habe mit Arbeit nichts zu tun (und Dirigenten wären
eigentlich unnötig), will ich von ihm abschließend noch wissen, wie
ein durchschnittlicher Harnoncourt-Tag aussieht. Damit habe ich nicht gerechnet:
Er spricht von 15, 16 Stunden Arbeit. Tagtäglich. Wenn er etwa eine Brahms-Symphonie
zu dirigieren beabsichtigt, informiert er sich so umfassend wie möglich
über deren Hintergrund, den des Komponisten und seiner Zeit. Und dann studiert
er, man weiß das, die Autographe der jeweiligen Werke.
Harnoncourt vergleicht sie Note für Note mit den gedruckten Fassungen,
korrigiert Übertragungs- und sonstige Fehler. Was man nicht weiß:
Für eine Partiturseite braucht er ungefähr eine Stunde. Die Partitur
der „Belle Hélène“, die er gerade dirigiert, hat ungefähr
500 Seiten. Diese zu überarbeiten müsste ihn also 33,3 Tage beschäftigt
haben. Oder, auf die 36-Stunden-Woche umgelegt, fast 14 Wochen.
Aus der Beschäftigung mit dem Hintergrund und den Autographen erarbeitet
er seine eigene Werksicht. Und das ist erst die Vorbereitung. Dann kommt die
Realisierung unter ihren jeweils eigenen, nicht immer förderlichen Umständen.
Währenddessen, bedauert Harnoncourt, ist an Nachforschungen nicht zu denken.
Aber, sagt er im Aufstehen, er sei der festen Überzeugung, dass Dirigenten
dafür bezahlt würden, sich diese eigene Werksicht so genau und umfassend
wie nur möglich zu erarbeiten.
Ein paar Photos noch? Harnoncourt stöhnt.
Nun gut, sage ich nach dem Shooting, das Harnoncourt beherrscht über sich
ergehen lässt, dann stören wir nicht länger. Ja, antwortet er
erleichtert, ich muss jetzt endlich die „Belle Hélène“
durchgehen für heute Abend. ###
© SIM-Verlag 1994
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