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NEUERE KURZGESCHICHTEN

Um die Wurst - Ausländer rein?

Schon wieder - Eine Blondine

Altes Aas - Die alte Mutter

Forschungsassistent - Kein leichtes Spiel mit Neonazis

Zecke - Der Literaturkritiker

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UM DIE WURST


Ihr Mann war auf die Idee gekommen. Grundsätzlich war sie nicht abgeneigt, praktisch schon. Wie sollte das auch gehen. Sie bewohnen eine Vier-Zimmer-Wohnung, seit die Tochter mit ihrem Freund zusammengezogen ist, zu zweit. Natürlich könnten diese Leute im Kinderzimmer hausen, aber was ist, wenn Marie-Luise plötzlich mit ihren Habseligkeiten in der Tür steht und heult, daß sie zurückkehren möchte, weil … warum auch immer. Was soll man dann der Familie sagen. Wie steht man dann vor den Ämtern da, die einem die Erlaubnis erteilt haben, Flüchtlinge zu beherbergen. Soll man zur eigenen Tochter sagen, es tut uns leid, aber du mußt im Wohnzimmer schlafen.

Und dann, man weiß es ja wirklich nicht, vielleicht tut man denen auch Unrecht, aber was ist, wenn die stehlen. Nicht gleich, wenn sie kommen und froh sind, überhaupt wieder ein Dach überm Kopf zu haben, und ein recht komfortables noch dazu. Kann ja sein, wenn die sich erholt haben von den Schrecken des Krieges, wenn man die hochgefüttert hat, wenn es ihnen also wieder gut geht, daß sie … ja, das ist doch durchaus im Bereich des Möglichen. Wer weiß, vielleicht würde man selbst genauso reagieren, wenn man aus dem Elend kommt und plötzlich all den Überfluß sieht. Da fühlt man sich doch unwillkürlich ungerecht behandelt, vom Leben, nicht von den gönnerhaften Gastgebern. Gab es da nicht sogar eine Untersuchung, daß Leute, denen geholfen wird, aus Scham aggressiv werden, dem Schaden zufügen, bei dem sie sich eigentlich bedanken wollen. Destruktiver Dank, so ein Schwachsinn.

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Und wie ist das, wenn man fortgehen will. Kann man die so ganz alleine in der Wohnung lassen. Gewiß, in wahrscheinlich 98 Prozent den Fälle kann man. Aber wenn man gerade die statistisch erwiesenen zwei Prozent im Schlafzimmer der Tochter hat.

Und was ist, wenn die unverschämt werden und sich ausbreiten und die Wohnung in Beschlag nehmen, vielleicht bringen die allmählich ihre gesamte Familie herauf nach Wien und stellen sich dumm, wenn man ihnen erklären will, daß das nicht geht. Wer weiß, was die alles erlebt haben. Ob man da nicht seltsam wird, irgendwie animalisch. Ob man nicht um sein Leben bangen muß, wenn man abends eine CD mit, was weiß ich, Strawinsky auflegt, und der Familienvater läuft Amok.

Strawinsky. Warum muß sie sich heute gerade Wagner anghören und diesen “Parsifal” noch dazu. Dieses fade, endlose Ding. Ist ja schon gut, wir wissen, daß Amfortas mit Kundry gevögelt hat und vom impotenten Klingsor mit seinem eigenen Speer verwundet worden ist. Auf jeden Fall wird man sich einschränken müssen und Rücksicht nehmen. Jetzt ist endlich die Tochter aus dem Haus, vorläufig zumindest, und man kann sich wieder nicht so gehen lassen, wie man möchte. Man wird wieder leise sein müssen, wenn man miteinander schläft. Man wird wieder nicht streiten können, wenn‘s notwendig ist, sondern warten und dann leise sein, zischeln statt brüllen, in den Kopfpolster schluchzen statt loszuheulen wie ein Kind.

Und was ist mit den Kindern. Die bringen ja sicher Kinder mit, Kleinkinder, Babys (vielleicht werde ich von dem Kerl vergewaltigt), vor denen man wieder alles in Sicherheit bringen muß, die Vasen hoch hinaufstellen, was für ein Geschirr gibt man denen, soll man das alte vom Keller holen, schürt das nicht wieder den Klassenhaß, wenn man Unterschiede macht, aber das sind doch irgendwie primitivere Menschen, wer weiß, was da kommt.

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Warum hat das Arschloch nicht gleich jetzt Mitleid. Warum muß er erst die geile Kundry küssen (schön sprechen) und dann noch eine Pause lang herumirren. Die Nachbarn werden sagen, jetzt haben sich die eine billige Putzfrau geholt, und einen, der ihnen beim Hausbau hilft, ganz legal, die kriegen sogar noch was dafür bezahlt. Keine ausländische Putzfrau, aber Flüchtlinge sind ihnen gut genug. Und ob die Nachbarn damit überhaupt einverstanden sind, offen natürlich nicht, wer traut sich denn einem schon ins Gesicht sagen, daß er was gegen solche Leute hat, aber irgendwie kriegt man das dann schon zu spüren.

Ich bring ihn um. Jedes Jahr am Gründonnerstag schleppt er mich hierher. Das stimmt ihn auf den Karfreitag ein. Obwohl er eigentlich nicht gläubig ist. Genauso wischi-waschi wird er reagieren, wenn ich ihm sage, warum ich meine Wohnung nicht mit Flüchtlingen teilen will. Er wird mich verstehen, weil er dieselben Ängste hat, daß er aber diese gern zu überwinden versucht, und es sei ja gar nicht gesagt, ob man die Bewilligung bekomme, aber irgendwie sei es doch schrecklich, diese armen Menschen. Ich bin arm. Ich muß hier von Fünf bis nach Zehn frauenfeindlichen Schwulst über mich ergehen lassen (sehr zynisch, gnädige Frau). Bestimmt wird er in der Pause zum Würstelstand in der Krugergasse eilen und rasch eine Heiße herunterschlingen wollen.

Und da sie steht nun, während ihr Mann schnaufend ein Paar Bratwürste bestellt, und schiebt einen Plastikteller mit dem Rest von einer Wurst auf die Seite. Diese Frau taucht auf wie aus dem Nichts und keppelt mit ihrem ausländischen Akzent und will nicht gehört haben, daß es sich hier um ein Versehen handelt. Ich habe Sie nicht gesehen. Wo waren Sie denn. Was regen Sie sich so auf, wir rücken schon zur Seite.

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Nein, diese Frau (Polin? Türkin? Jugoslawin? wer kennt sich da schon aus) kreischt herum, daß man sie verdrängen wollte, weil sie eine Ausländerin sei, daß man sie am liebsten des Landes verweisen würde, was aber nicht ginge, weil sie österreichische Staatsbürgerin sei, da staunen aber, was, das hätten nicht gedacht, daß Tschusch sein können Österreicher, du Schlampe in Pelz.

Herbert fleht mit seiner weinerlichen Stimme, sie solle doch aufhören, man habe sie nicht beleidigen wollen, sie soll doch bitte so gut sein und seine Entschuldigung annehmen. Daß gerade sie, Eveline, seine Frau, beleidigt worden ist, scheint er gar nicht wahrgenommen zu haben, als ihr, Eveline, seiner Frau, das passiert, was er, und in der Öffentlichkeit überhaupt, nicht leiden kann: Sie fällt in Ottakringer Dialekt. Und ihr fallen viele Worte ein, die sie schon lange vergessen zu haben geglaubt hat.

Wie zwei Marktweiber kreischen sie jetzt aufeinander ein, die mit ausländischen und die mit inländischem Dialekt sprechenden Österreicherinnen, während der Würstelverkäufer auf seine Arme gestützt amüsiert zuhört, bis die Frau ihren Plastikteller nimmt, Eveline auf die Pelzjacke drückt, grindend Fett und Senf verreibt. Eveline ruft ihren Herbert zur Hilfe, es rührt sich nichts, sie dreht sich um, er ist fort, hat sich weggeschlichen wie immer, wenn sie ihre Herkunft nicht verleugnet, hat sie nicht kennen wollen, jetzt soll diese Tschuschin ihre Wut zu spüren bekommen wie damals die Klassenkollegin, die ihr die Bluse mit Tinte vollgespritzt hatte, doch die läuft schon bei der Post vorbei, und da kommen ihr die Tränen, und der Würsteverkäufer weiß, daß er jetzt besser nichts sagt, daß er jetzt besser so tut, als hätte er schon die ganze Zeit in seinen winzigen Fernseh-Apparat geschaut, sie dreht sich um, stampft auf, stöhnt martialisch: Diese Scheiß-Ausländer, und ist gleich darauf froh, daß ihr scheinbar niemand zugehört hat. ###

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SCHON WIEDER

Schon wieder. Dieser abschätzige Blick. Gerade jetzt. Dieses Schwein. Jetzt bin ich schon wieder uninteressant. Eine dumme Blondine. Das stellt man fest, und dann kann man den Blick schon wieder schweifen lassen, ob sich nicht doch was Besseres ergibt für heute Nacht.

Abgehakt. Vielleicht in zwei Stunden bin ich für ihn das Begehrenswerteste dieses Abends. Wenn keine andere mehr dasteht. Außer einer abgrundtief Häßlichen.

Der Franz sitzt da und quatscht. Was? Ob er mich langweilt mit seinen beruflichen Problemen? Aber nein, Franz. Sicher. Was glaubst denn du? Ich kann mir nichts Spannenderes vorstellen, als daß du vergessen hast, dein Handy aufzudrehen, und daß dir deswegen dieser Auftrag durch die Lappen gegangen ist. Wie faszinierend, ein Mann mit Beruf, ein Mann, der sich abrackert für sein Loft am Alsergrund, seinen Porsche irgendwas. Wir passen doch so gut zusammen, die dumme Blonde und der braungebrannte Computerhändler und Börsenspekulant mit seinem Bett, von dem man aus die Sterne betrachten kann. So hast du mir‘s doch gestern erzählt, nicht? Komm doch noch mit rauf, von meinem Bett aus kann man die Sterne betrachten. War wohl mein Handy nicht eingeschaltet. Ich hab dich nicht gehört. Es hat nicht gepiepst. Geklingelt. Da bist du natürlich bös geworden, nach allem, was du in meine Möse investiert hattest. Zuerst auf Kultur. Es ist für mich kein Problem, für irgendein Theater jederzeit die besten Tickets zu bekommen. Klappst wohl dein Handy, schwungvoll, wie dein goldenes Feuerzeug, tippst die Nummer auswendig ein, sprichts zu einem “guten Bekannten”, dem du einen Computer billig verkauft hast, damit er dich in guter Erinnerung behält. Und kriegst für deine Kammerspiele natürlich Karten. Wenn man aber lieber ins Akademietheater gehen würde, hat der andere gute Bekannte heute ausnahmsweise frei, und natürlich vergessen, seiner Vertretung zu sagen, Herr Martinelli bekommt immer Karten. Ärgerlich. Und dem hast du zwanzig Prozent gegeben.

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Mein Gott, du aufgeblasenes Arschloch! Wahrscheinlich bist du mit dem Kassafräulein von den Kammerspielen in die Schule gegangen. Wahrscheinlich würdest du dich im Akademietheater, bei “Totenauberg”, nach der Pause anrufen lassen, damit du aus diesem blöden, weil anstrengenden Stück entfliehst. Aber lassen wir es lieber nicht darauf ankommen. Herr Soundso hat heute frei. Herr Soundso hat vergessen (vergessen!), seiner Vertretung den V.I.P. Franz Martinelli ans Herz zu legen. Herr Soundso bekommt nie wieder zwanzig Prozent. Die muß er sich erst wieder verdienen.

Wie viel ich verdiene in meiner Werbeagentur, hat er mich gestern gefragt. Was, für diesen Hungerlohn hänge ich zehn, zwölf Stunden pro Tag am Telefon? Ist ja nicht zu fassen. Und dann hat er sich wahrscheinlich gedacht: Naja, dummes Blondinchen, ein gutes Präsentationsobjekt, macht sicher keine Mucken in meinem Himmelbett.

Da hast du aber gestaunt, als sich das dumme Blondchen von lose eingesteckten Tausendern, dem goldenen Feuerzeug, dem unvermeidlich roten Porsche mit CD-Player nicht beeindruckt genug gezeigt hat. Als es gemeint hat, es wäre noch zu früh, um miteinander ins Bett zu gehen. Zu Früh? Aber es ist doch schon Dreiviertelzwei. Mein Gott, nichts kapiert der, nichts.

Dabei hat das so angenehm begonnen. Natürlich gefällt er mir, hat mir gefallen. Sogar das heisere “Na, so allein heute abend?” hab ich überhört. Und mitgespielt. Ich warte auf eine Freundin, hätte ich sagen sollen, dumme Kuh. Ist doch klar, daß man auf Männerfang aus ist mit dem angekündigten Freund, der nach eineinhalb Stunden immer noch nicht erschienen ist. Naja. Jetzt können wir aber schon gehen, der untreuen Seele wird wohl etwas dazwischengekommen sein. Brav trottet die arme Karin hinterher, läßt sich natürlich einladen (damit der ihre abgewetzte Brieftasche nicht sehen muß). Gehen wir noch in die Reisbar? Da war‘s fürs erste mal aus. Peinlich. Gerade dorthin. Ich bin nicht angezogen. Ach was, schaut doch keiner (um mich endlich offen mustern zu können: Sind die Titten groß genug? Ist der Arsch auch nicht zu groß? Ob die unten auch blond ist?). Also gut: Reisbar. Natürlich kennt man ihn dort beim Vornamen. Natürlich passe ich dorthin, mit meinen blond gefärbten Haaren, meiner Seidenbluse. Vielleicht ist die Perlenkette ein wenig zu altmodisch. Vielleicht ist es gerade mal schick, Omas Kette auszuführen. Ist es nicht. Ich komme mir völlig fehl am Platz vor. Dieses Geplauder. Und wer ist denn das? Die Karin tritt an zur öffentlichen Musterung. Sie fällt nicht durch. Wenn sie nur jetzt keinen Fehler macht. Tja, schon passiert: Was machst du? Ich stehe in der Reisbar. — Gequältes Lächeln. Hat wahrscheinlich was zu verbergen, ist vielleicht arbeitslos, will sich einen reichen Typ angeln. Und da stehen sie aufgefädelt, mit dem Sektglas in der einen Hand und dem teuren Feuerzeug in der anderen. Oder dem Autoschlüssel. Klimper-klimper: Ich bin reich, ich hab dir was zu bieten. Zum Beispiel eine schnelle Nummer in meinem Himmelbett.

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Ich bin genauso ungerecht wie das Schwein da drüben mit dem verächtlichen Blick. Was will ich denn? Ich spiel ja mit. Ich steh in der Reisbar und seh genauso aus wie alle anderen Frauen dort auch. Aufgeblondet und eine Diät nach der anderen. Vielleicht kriegt man dort automatisch den dämlichen Blick. Ich bin jung, dumm, naiv. Und willig. Spitz das Schmollmündchen. So sieht das aus, wenn ich dir einen blase. Ich bewundere seinen Mercedes-Stern. Ich bewundere deine Rollex. Ich bewundere deine Sonnenstudio-Bräune. Sieht aus wie Bahamas, Seychellen. Dein Geld macht mich geil. Du zeigst mir, daß du viel Geld machst, und ich lass es mir machen. Ich stöhn dir was vor. War‘s schön?

Wenn du einen hochkriegst. Wenn du nicht so überarbeitet bist, daß du aggressiv werden mußt und mir die Schuld gibst, daß es nicht geht. Und deinen flaschen Freunden morgen erzählst, ich sei viermal gekommen. Und dann hättest du mich rausgeworfen. Weil mehr hast du von mir ja nicht gewollt. Und gekostet hat es genausoviel wie bei einer guten Hure. Und eine gute Hure sei ich gewesen. Hüsch, geil, anspruchslos, unpersönlich. Eine Matratze. Man hat mir keinen Polster über den Kopf legen müssen. Ich hätte auch ganz passable Brüste. Der Arsch ist vielleicht ein bißchen zu wenig ausgeformt, aber besser als zu viel, und dafür sind die Beine hübsch lang. Und blond ist sie natürlich nicht.

Und jetzt sitzt du da, Franz, und beschreibst mir sein Himmelreich. Und wenn ich mitkommen will, wirst du mir — vielleicht, vielleicht auch nicht — in ein paar Wochen anvertrauen, daß du vom ganz großen Geschäft träumst und dann von einem sorglosen Leben auf den Bahamas. Oder daß dir dein Job eigentlich auf die Nerven geht, daß du ganz andere Interesse hast. Golf-Europa-Meister oder so. Oder daß dein Vati immer so gemein zu dir war. Dich nicht beachtet hat. Dir nie etwas zugetraut hat. Und daß du es ihm jetzt beweisen wirst. Und daß du dich jetzt an ihm rächst. Kann sein, daß mir das immer noch gefällt. Doch dann werd ich mehr wollen. Dann werd ich anspruchsvoll, besitzergreifend. Dann will ich mehr von dir wissen und kennen, und mehr und mehr. Und das wirst du mir nicht zeigen wollen. Du wirst auch nicht verlangen, daß ich es dir zeige, daß ich dir sage, wie ich dich erlebe, daß ich dir sage, wie ich uns erlebe. Und was in mir vorgeht.

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Warum hast du nur angerufen heute Nachmittag? (Warum hab ich dir überhaupt die richtige Nummer gegeben?) Was siehst du in mir? Wofür stehe ich? Oder hab ich dich einfach nur gereizt mit meiner Weigerung? Hab ich deinen Ehrgeiz gekränkt. Oder hast du dich tatsächlich verliebt in mich? Und muß ich mich erst auf dich einlassen, um zu erfahren, was du von mir willst. Du wirst es mir nicht verraten, Franz Martinelli. Noch nicht. Erst, wenn‘s dann schon weh tut. Jetzt tut‘s noch nicht weh. Jetzt kann ich noch abwinken (aber warum hab ich dann gleich zugesagt für heute abend, warum hab ich meinen Puls im Hals gespürt, warum haben meine Hände geschwitzt). Such dir eine andere, die du beeindruckst. Such dir eine wirklich Anspruchslose. Ich bin es nicht, Franz. Ich bin ganz anders, als ich mich gebe. Bist du auch anders, als du dich gibst? Oder genügt dir das? Bin ich so was wie ein Mercedes-Stern für dich, mit dem du Eindruck schinden möchtest? Hast du wirklich kein anderes Interesse als schnelles Geld und leichte Unterhaltung? Was wirst du zu meiner Bücherwand sagen? Wirst du betreten schweigen, ein verächtliches Lächeln auf den Lippen? Wirst du es aushalten, daß ich vielleicht intelligenter bin als du? Mich würde das stören. Mich stört jetzt schon so viel an dir. Zu vieles sagt: Spring nicht, Karin, spring nicht. Das kann nicht gut gehen. Geh mit ihm ins Bett, wenn du willst, aber mach dir keine Hoffnungen. Träum nicht von einem Partner. Das hier ist jemand fürs Geld. Wär ja nicht schlecht, einmal eine Weile Geld zu haben. Aber du bist nicht so cool, Karin. Du kannst ihn nicht benutzen. Du wirst dich wieder mal verlieben. Du bist ja schon verliebt. Du kannst es nur ausprobieren. Oder der Versuchung widerstehen.

Und dich wieder mustern lassen, Abend für Abend. Dumme Blondine. Da steht der Typ immer noch. Er schaut dich noch nicht an. Sind noch zu viele interessante Frauen herinnen. Der würde in zwei Stunden pötzlich neben dir stehen mit einsamen Augen, ein trauriger Schwanz, und dich anlügen, daß er dich schon die ganze Nacht beobachtet. Ob er dich einladen darf. Und wenn du ablehnst, wird er nicht einmal enttäuscht sein, sich umdrehen und die nächste schon den ganzen Abend lang beobachtet haben. Und die nächste. Und die nächste. Vielleicht findet er sich morgen eine, oder in drei Wochen. Ich bin Stammgast hier. Man hat mir gesagt, hier macht man tolle Aufrisse. Ich habe seit einen halben Jahr hier keinen tollen Aufriß gemacht. Einmal eine Besoffene, die nicht besonders hübsch war, aber unkompliziert. Kenn ich doch. Vielleicht wär ich heute oder morgen oder in neuneinhalb Wochen die Besoffene gewesen. Aber heute hab ich meinen Franz hier. Für den spricht im Moment nichts, außer daß ich morgen nicht wieder allein herkommen will. Hübsch ist er ja. Ein dummer Brauner. Der dumme Braune mit seiner dummen Blonden geben sich ein Stelldichein. Heute werden sie miteinander schlafen. Unterm Himmelbett. Und du Schwein wirst dir die Zeitung hernehmen und dir einen runterholen zum Tonband-Gestöhne. Und ich werd daliegen mit seinem Saft in mir, und es wird sein, als ob die Sterne schnarchen. ###

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ALTES AAS

Da liegst du ja wieder, altes Aas. Gleich werd ich dich fragen, wie‘s dir geht. Gleich wirst du dich wie immer beleidigt zur Wand drehen. Wenn da eine Wand wäre. Tja, Pech gehabt, Mutti. Links neben dir liegt eine alte Frau, recht neben dir liegt eine alte Frau. Mit der links sprichst du nichts, weil sie nicht dein Niveau hat. Sie ist mir nicht fein genug, sie war nie in der Oper, die hat nie ein Buch gelesen, worüber soll ich denn mit der reden. Dumme Kuh. Zur Strafe liegt rechts von dir Frau Mirhala. Die hat seit Jahren kein Wort mehr gesagt. Die hustst nur ekelerregend durch die Gegend. Ich hab immer Angst, daß sie mich ansteckt. Mit ihrer Runzel-Krankheit. Mit ihrer Debilität. Mit ihrem Gesabber. Aber diese Augen. Als wollten sie erzählen, alles. Von ihrem früheren, menschenwürdigen Leben. Warum bringt man die nicht alle um. Zumindest die, die keiner mehr besucht. Und warum sollte man die anderen nicht auch umbringen. Weil sie Menschen sind. Ach ja.

Warum tu ich mir das zweimal die Woche an. Jedes Mal muß ich heulen. Nicht weil ich Mitleid hätte. Wenn ich Mitleid hätte, würde ich dich wahrscheinlich bei mir zu Hause aufnehmen. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Damit du dasitzt und uns vorwurfsvoll zusiehst, so wie du mich jetzt vorwurfsvoll ansiehst. Daß ich dich da liegen lasse. Daß du lebst. Herrgott, ich bemüh mich doch wirklich. Jedesmal, wenn ich unten durch die Einfahrt gehe, nehm ich mir vor, heute lieb zu dir zu sein. Ich muß es mir vornehmen. Weil ich dich am liebsten packen würde und schütteln, und dich anschreien, daß du mir das hier nicht zum Vorwurf machen kannst. Daß du dir das selbst zuzuschreiben hast. Blödsinn. Natürlich nicht. Ich denke mir nur so, wenn du dich nicht immer mehr zurückgezogen hättest, wärst du vielleicht reger geblieben, müßtest nicht hier vegetieren. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Vielleicht ist es völlig egal. Vielleicht lieg ich selbst mal so da wie du und hasse die, die mich besuchen kommen. Ich versteh dich ja. Ich müh mir hier einen netten Monolog ab und bin eigentlich froh, wenn jemand kommt und sagt, die Besuchszeit ist zu Ende.

Du haßt mich, weil ich es hasse, hierherzukommen. Komisch, ich hasse dich aus demselben Grund. Du Landplage.

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Nein, du bist keine Landplage. Du bist meine Mutter. Du hast mich geboren und ohne Vater großgezogen. Du hast dir mein Studium von deinen Opernbesuchen abgespart. Du hast mir so viel ermöglicht. Alles? Und ich bin dir ja so dankbar. Wirklich. Ich bin dir dankbar. Ich bin dir dankbar. Ich bin dir dankbar. Ich kann dir doch nicht mein Leben lang dankbar sein, daß du mir das Leben geschenkt hast. Daß du dir nichts geschenkt hast. Daß du mich nicht auf die Akademie hast gehen lassen. Daß ich bis heute nicht weiß, ob ich eine berühmte Malerin geworden wäre. Talentiert war ich ja. Ich war doch talentiert. Meine Zeichenprofessorin hat dich sogar zu Hause besucht. Hat sie dich nicht angefleht, mich wenigstens die Aufnahmeprüfung versuchen zu lassen. Wenn sie die nicht schafft, dann kann sie ja immer noch Übersetzerin studieren. Dein Sprachfimmel. Wer Sprachen kann, kommt weiter. Jaja. Weil du mit deinen Scheiß-Sprachen weitergekommen bist. Bis ins Altersheim, Schätzchen, bis hierher.

Daß du mir den Hans ausgeredet hast, verzeih ich dir nie. Der ist doch nichts, der hat doch nichts. Was willst du denn mit dem. Warum bin ich dir damals nicht davongerannt, mit Hans nach Paris. Hans leitet jetzt eine Galerie. Das hörst du nicht, wenn ich dir‘s sage. Und wenn du mich fragen würdest, geht sie gut, müßte ich nein sagen. Nein, die Galerie geht nicht gut. Aber immerhin macht er, was er immer machen wollte. Und wenn ich mit ihm mitgegangen wäre, würde er mich jetzt vielleicht verkaufen in seiner Galerie, oder ich wär gar nicht mehr angewiesen auf ihn. Oder auch nicht. Ich hätt es nur so gern versucht. Warum hab ich‘s denn nicht. Was hat mich denn gehindert. Dasselbe, was mich hierherkommen läßt. Du bist meine Mutter. Das hat mich gehindert. Deshalb komme ich hierher. Eigentlich bist du mir egal. Eigentlich besuche ich eine Fremde. Ich liebe dich. Ich liebe dich, Mama. Was liegst du da und siehst weg. Warum ist dein Blick so kalt. So nichtssagend. Weil ich dir nichts sage. Weil ich dir nicht sagen kann, daß ich dich liebe. Weil du es mir auch so schwer machst. Ich kann es dir nicht sagen, weil du es mir so schwer machst. Du machst es mir so schwer, weil ich es dir nicht sage. Schön blöd. Da sitzen wir zwei, ich weiß, ich weiß, ich sitze, du liegst. da sind wir hier also beisammen und tun so, als ob wir uns nichts zu sagen hätten, und quälen uns, und heulen, wenn wir gehen. Heulst du, wenn ich gehe. Immer schon wollte ich jemanden fragen. Aber wen denn? Die barsche Pflegerin. Und sonst haben wir hier wohl nichts zu tun, als zu schauen, ob Ihre Mutter weint, wenn sie fortgehen. Die Mirhala? Die, die so gern redet, mit jemandem reden würde. Ich kann sie doch nicht in deiner Anwesenheit fragen. Ich wart, bis du gestorben bist. Dann frag ich die Schwatzhafte, ob du

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Nein. Mutti. Zieh doch deine Hand nicht weg. Fühlst du, was ich denke. Ich wünsch dir den Tod nicht. Ich wünsch ihn dir. Was machst du hier noch. Was soll das alles. Hast du dir nicht was anderes verdient. Du warst doch ein guter Mensch. Und siehst du, es ist egal, ob man gut ist oder nicht. Man liegt hier mit den einen wie mit den anderen zusammen. Das hier ist weder Strafe noch Belohnung. Belohnung. Blödsinn. Das hier ist Strafe für die Guten und für die Bösen. Oder gar keine Strafe. Es ist einfach … das Lebensende. Manche geben in deinem Alter noch Latein-Nachhilfe. Andere hocken im Park und schwatzen herum. Andere gehen wenigstens in den Pensionistenclub. Das war dir doch alles zu minder. Was soll ich denn da, mit den alten Leuten. Die haben doch mein Niveau nicht. Gell, dummes Stück, hier haben alle das gleiche Niveau. So 60, 70 Zentimeter werden‘s schon sein. Und wenn sie schlimm sind, werden sie lange nicht gewickelt. Oder nicht am Rücken eingeschmiert. Das tut dann so schön weh.

Friedrich geht‘s gut. Glaube ich. Ich weiß es nicht. Naja, er ist nicht viel daheim. Wie das wohl in der Pension wird, wenn er dann da ist. Ob ich mich daran noch gewöhnen will. Werd ich wohl müssen. Meine Mutter gewöhnt sich ja auch an das hier. Die Kinder werden dich bald wieder besuchen. Wenn du ihnen Geld dafür geben würdest, würden sie öfter kommen. Oder, ich weiß nicht. Mich besuchen sie alle zwei Wochen. Regelmäßig. Sie gehen, und ich weiß nicht, wie es ihnen geht. Wir sitzen beisammen, wir essen, wir plaudern über dies und das. Wenn ich persönliche Fragen stelle, sehen sie mich an, als ob mich das nichts anginge. Ich bin doch ihre Mutter. Zu der kann man doch Vertrauen haben. Das ist doch ganz natürlich. Zur eigenen Mutter hat man Vertrauen. Ich erzähl dir jetzt zum Beispiel, daß ich … daß ich …. Daß ich mich verliebt habe in einen jungen Kollegen. Die alte Frau Haderer hat sich in einen Fünfundzwanzigjährigen verliebt. Und sie sagt es ihm nicht. Sie liebt ganz still und leise vor sich hin. Sie quält sich ein bißchen, aber das ist nicht so schlimm. Sie ist ja schließlich schon alt und abgeklärt. Sie weiß, daß sich das nicht gehört. Sie würde sich ja nur lächerlich machen vor dem jungen Spund. Er sieht wie Hans aus. Wie Hans, als er jung war. Manchmal denkt ich mir, ich könnt es nachholen, was ich damals versäumt hab. Vielleicht steht er auf ältere Frauen. So was soll‘s ja geben. Ich könnte seine Mutter sein. Vielleicht will er endlich einmal mit seiner Mutter schlafen. Und dann soll er mir den Vater erschlagen. Nein. So ist das alles ja gar nicht. Ich lieb den Friedrich. Ich hab ihn ja schließlich geheiratet. Ich … kenne ihn. Und was ich kenne, mag ich. Wirklich. Wir haben‘s halt nie geschafft, wirklich intim zu werden. Er hat irgendwie nie was gesagt. Ich bin mir so allein vorgekommen neben ihm. Ich hab mich daran gewöhnt. Und es ist ja auch wirklich nicht schlimm. Es ist normal, ja, es dürfte normal sein. Eine ganz normale Ehe. Man liebt sich immer noch. Man begehrt sich nicht mehr sehr. Man schläft halt miteinander. Das gehört dazu. Vielleicht schläft er auch mit anderen. Es interessiert mich nicht. Es würde mir entsetzlich weh tun. Vielleicht tut er‘s eh nicht. Er scheint zufrieden. Er hat eine Frau und zwei Kinder und eine Dachgeschoßwohnung in Margareten. Wenn er nicht arbeiten muß, führt er mich am Wochenende ins Grüne. Schweigsam. Ich rede. So wie ich hier rede. Rede und rede. Irgendwas. Schwachsinn. Damit die Zeit vergeht. Damit ich nicht platze. Daß ihr nicht platzt, alle beide, du, und er. Oder ich. Daß wir nicht manchmal schreien müssen, einfach so. Stundenlang schreien. Tiergeräusche. So wie diese widerliche Frau da Tiergeräusche von sich gibt. Bis sie mit einem Rülpser einschläft. Bis du mit einem Rülpser einschläfst. Auf Wiedersehen, Frau Edelmayer. Ich muß jetzt eh. Mach‘s gut. Gib mir wenigstens einen Kuß. Laß mich dich wenigsten küssen. Laß mich hier nicht so stehen. Oder ich komm dich nie wieder besuchen. Komisch, das hab ich vor drei Tagen auch schon gesagt. ###

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FORSCHUNGSASSISTENT

Gewalt ist die Einflußnahme von Strukturen sowie von individuellen und gruppenbezogenen Haltungen und Handlungen auf Dritte, welche durch diese Einflußnahme in ihrer freien Willenentscheidung beeinträchtigt werden oder psychischen und körperlichen Schädigungen ausgesetzt sind, hatte der Jurist und Forschungsassistent an einer deutschen Universität geschrieben, der auch journalistisch tätig ist. Jetzt aber hat er, der wenig von Feldforschung hält, eine Autopanne. Und natürlich hat er diese Autopanne vor einer unscheinbaren Kneipe im ehemaligen Ost-Berlin, in der sich mehrere arbeitslose Jugendliche mit wenig Ausbildung und einschlägigen Lebensläufen den sinnlosen Nachmittag mit Biertrinken auf Adolf Hitler vertreiben.

Hätte die Klimaanlage der Universität in einem der alten Bundesländer Deutschlands den Geruchssinn unseres journalistisch tätigen Juristen und Forschungsassistenten nicht beeinträchtigt, oder, besser gesagt, wäre sein Sinn für die Realität nicht vom aufklärend gemeinten Formulieren über diese Realität fast zur Gänze beansprucht, vielleicht würde er das Hakenkreuz neben der Eingangstür nicht übersehen. Oder wegrationalisieren. Er aber betritt die Kneipe, das Jackett auf den Beifahrersitz des Kabrioletts gelegt, die Krawatte gelockert, den Kragenknopf des weißen, aber schweißfleckigen Hemds geöffnet, und fragt vielleicht auch noch in gebrochenem Deutsch – sein Name deutet zumindest auf im Ausland geborene Eltern hin – nach einer BMW-Vertragswerkstätte.

Das ist denn doch zuviel. Hat er doch selbst als einen der Hintergründe selbst für politisch nicht motivierte Gewaltbereitschaft die in Medien und Werbung vermittelten Statussymbole erkannt, die für jugendliche Mitglieder der sozial schwachen Familien meistens nicht realisierbar wären. Eine Auswahl dieser erhebt sich wie ein Mann von ihrem Stammtisch und fällt augenblicklich (und weil solche Menschen aufgrund ihrer Bildung nur zu einfachen Erklärungen neigen) einer Zwei-Schritt-Kausalität anheim wie folgt: “Wenn die Ausländer weg sind, gibt es Arbeitsplätze, Wohnungen und mehr Sozialhilfe für alle, die zu unserer Gruppe gehören”. Und BMWs. Da der Staat zu wenig Geld für Erziehung und soziale Bereiche aufwendet, da außerdem die Medien eine Verstärkerfunktion bei Gewalteinstellungen eingenommen haben, anstatt viele Informationen über die Ursachen und Folgen des Geschehens darzustellen, wird unser journalistisch tätiger Jurist und Forschungsassistent jetzt von einer nicht nur nach Bier stinkenden, einschlägig uniformierten Horde umringt. Und einer daraus – wahrscheinlich das Bandenoberhaupt – verlangt in knappen Worten, daß ihnen der Autoschlüssel ausgehändigt werde.

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Nun läßt sich wohl darüber spekulieren, ob es unserem Forschungsassistenten mit ausländischem Namen in der Folge besser ergangen wäre, wenn er die Herausgabe des Verlangten nicht schüchtern oder auch ängstlich verweigern hätte wollen. Da jedoch in der ehemaligen DDR die Auseinandersetzung mit fremden Kulturen nicht wie in Westdeutschland möglich gewesen ist, weil es keinen Auslandstourismus im eigentlichen Sinn gab, da viele Jugendliche Angst- und Ohnmachtsgefühle haben, weil alles, was bisher in der Ex-DDR aufgebaut wurde, negativ abgewertet wird, da die Bereitschaft zur Diskriminierung bei ihnen besonders ausgeprägt ist, da anscheinend nichts anderes als ihre “Rasse” existiert, worauf sie stolz sein können, muß sich das gesamte Aggressionspotential unserer Neonazis zunächst gegen diesen greifbaren Ausländer richten, selbst wenn ihre wahren Probleme Arbeitslosigkeit, Orientierungslosigkeit, Wohnungsnot und ungleiche Sozialverteilung sind.

Da hier unter Berücksichtigung der Erkenntnisse des gerade Prügel beziehenden journalistisch tätigen Juristen und Forschungsassistenten keine spektakulären Gewalttaten und “erfolgreiche” Täter gezeigt werden sollen, sei bloß angemerkt, daß die Bande sich nicht begnügte, ihr gebildetes Opfer kampfunfähig zu machen, sondern es tötete.

Wo der Sinn des Lebens zu kurz kommt, besteht daher die Gefahr, daß die Gewaltausübung für Jugendliche eine sinnstiftende Bedeutung bekommt, steht in einem der auf der Rückbank des Kabrioletts aufgefundenen Bücher, die während der Spritztour unter bedrohlich anmutendem Gröhlen auf Passanten geschleudert werden.
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ZECKE

Ich hasse Bücher.
singt
Bücher, ihr seid mein Leben.
fegt einen Stapel Neueingänge vom Schreibtisch, beobachtet befriedigt, wie Buchrücken knicken oder kleine feine Eselsohren entstehen
Früher hatte ich ein erotisches Verhältnis zu euch
nimmt einen Schluck Mineralwasser aus der Flasche
ein sehr ordentliches erotisches Verhältnis
schmunzelt gequält
Früher hätte ich gelitten über Zigarettenasche, die auf eine Seite fällt. Von Kaffeetropfen gar nicht zu reden. Kaffeetropfen auf einer jungfräulich-reinen Seite! Wenn meine Frau euch achtlos in ihre von Schminkzeug verschmierte Tasche gestopft hat, hab ich gespürt, wie ihr Falten und Knicke bekommt, wie ihr beschmutzt werdet
steht auf und tritt in den Bücherhaufen
I ch leide immer noch. Ja, ich leide. Ich liebe euch, ich bereite euch Schmerzen, es gefällt mir und es tut weh. Da
deutet auf seine Brust, geht ein Stück, nimmt Anlauf und hüpft auf die Bücher
Schund, nicht als Schund. Wo seid ihr, Autoren? Eine Kiste Mineralwasser für ein Genie. Und einen Musenkuß
schmatzt sich auf den Handrücken
verehrte Dichter, geht eurem Beruf nach
schreit
und mutet mir nicht mehr zu, von eurem Zehenkäse kosten zu müssen.
geht hinter den Schreibtisch, läßt sich in seinen gepolsterten Stuhl fallen
Meine Damen und Herren. Hier sehen Sie den gefürchteten Kritiker Harald Fleischer
zwinkert
Fleischer!
kichert boshaft
Der eben seinen zweihundertfünfzigtausendsten Verriß verfaßt hat
läßt das Wort Verriß auf der Zunge zergehen
und der sich eben zum hundertfünfzigtausendsten Mal entschlossen hat, seinen Beruf an den Nagel zu hängen. An den Nagel. Hängen. Den Beruf. Er. Ich: Harald Fleischer. Ich, Harald Fleischer, will erst wieder zu lesen beginnen, wenn Uwe Johnson von den Toten aufersteht. Wenn Igor
zwinkert
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Dostojewksi von den Toten aufersteht. Wenn Gerhard Roth nicht mehr publiziert wird. Wenn John Irving nicht mehr publiziert wird. Wenn Stephen King von einem seiner Monstren hingerichtet worden ist. Wenn Peter Handke noch einmal einen “Hausierer” schreibt. Wenn Graf Leon Tolstoj die Fortsetzung von “Krieg und Frieden” dichtet, während er Anna Karenina im offenen Kamin verbrennt, diesen Schwachsinn. Das muß er doch gewußt haben, was das für ein Schwachsinn wird. Das kann er mir doch nicht antun, daß er “Anna Karnina” bei vollem Bewußtsein geschrieben hat.
er blickt auf seinen Schreibtisch, stapelt Bücher übereinander, bis er sich dahinter verstecken kann. Er richtet sich auf, schaut hinter seinem Bücherturm hervor, versteckt sich wieder, taucht wieder auf.
Und wer bitte ist
gedehnt
Thomas Bernhard. Dieser Kreistrottel. Dieser verhinderte Opernsänger. Dieser Claus-Peymann-Verführer. Und wer bin ich? Ich habe keine Macht. Ich habe kein Mandat. Ich habe keine Mandarinen. Ich habe keine Ehrfurcht vor den Düchtern. Ich habe keine Wohnung mehr. Ich habe ein Antiquariat. Ich sammle Bücher. Ich hab schon so viele, daß ich mir ein Lager mieten müßte, damit ich wieder wohnen könnte wie ein Mensch.
theatralisch
Wie ein Mensch.
stöhnt
Ich bin kein Mensch nicht mehr.
piepst
Bin ich je einer gewesen? Bin ich nicht ein Bücherstaub fressendes Mottentier? Ein Wörter-Kanibale. Ein Zwischen-den-Zeilen-Sauger. Eine Zecke.
klatscht in die Hände
Ich bin die Zecke des Literaturbetriebs.
glucksend
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Ich lasse euch alterne Kastraten schreiben und dann schreibe ich, daß ihr alterne Kastraten seid.
aufbrausend
Dazu bräuchte ich eure Bücher gar nicht erst anzulesen. Dazu müßte ich nur in eure schwammigen, versoffenen Fratzen schauen.
hebt die Flasche
Mineralwasser. Ja, ihr seht recht: Mineralwasser. Minderungswasser. Behindertenflüssigkeit. Mineralhältiger Schweiß von Bergen, von der Natur. Hinterhältiges Gezücht! Was wißt ihr denn schon.
singt
W as wißt ihr denn schon.
rülpst
Einen kalten, verschimmelten Kaiserschmarren. Prost
trinkt, wischt sich den Mund ab.
Ich verrat euch jetzt alles: ihr seid schuld, daß ich nutzlos bin. Ihr schreibt keinen geraden Satz mehr, ihr habt keine Ahnung von Dramaturgie, von Poesie, von Bogenscheißen. Ihr seid Kegelbrüder, ihr tumben Kugeln, ihr fritierten Margarine-Würmer. Literatur-Preise. Und ich,
trommelt sich mit den Fäusten auf die Brust
ichichichichich – ich will Schmerzensgeld, jawoll. Ich leide an eurer Lihderadur. Ich leideleideleideleideeeeeeeee!
furzt
Mal so dahingesagt, Herr Doktor, ist es heilbar? nein, nicht spritzen, ich will auch ganz brav sein, so
hebt die Hände wie ein Häschen.
Das ist gut so, Herr Fleischer, ruhig, ganz ruhig
summt
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Wissen Sie, ich habe sie geliebt. Wissen Sie, man sollte seine Träume nicht zum Beruf machen, man sollte in die Bundestheaterverwaltung gehen, wenn man Bücher liebt. Das hält man nicht durch. Das tötet die … die Nervenenden, die Gehirnhälften, die Libido. Ich krieg ihn nicht mehr hoch, Herr Doktor. Ich kann meine Hefte anschauen, solange ich will, ich kann ins Sexkino gehen, ich kann fünf Stunden auf dem Gürtel herumspazieren, ich kann sogar erotische Literatur lesen – es nützt nichts. Meine Frau hat sich scheiden lassen, weil ich ihn nicht mehr hochkriege. Sie hat gesagt: Zuerst faselst du dein Leben lang von Büchern, und jetzt kriegst du ihn nicht mehr hoch. Dabei habe ich ihr das Lesen beigebracht. Die Literatur. Ich konnte nicht darüber hinweggesehen, daß sie weiterhin ihren John Irving verschlungen und hinter der Weimarer Goethe-Ausgabe versteckt hat. Die hat die Bücher gekauft! Weil ich ihr meine Rezensenions-Exemplare nicht gegeben habe. Das hatte erzieherischen Wert! Doch sie … sie! Aus purem Trotz hat sie mein Geld für Unterhaltung und Spannung ausgegeben. Diese Schlampe. Anstatt auf die Zweitwohnung zu sparen. Eine Wohnung ohne Bücher. Stellen Sie sich das mal vor. Kein einziges Buch, nicht einmal eine Zeitschrift. Nicht einmal der “Wiener”. Nichts. Keine Zeitung. Alle Aufschriften überklebt.
wie besessen
Kein einziger Buchstabe. Wissen Sie, wie schwer das ist? Eine Wohnung ohne einen einzigen Buchstaben? Das war mein Traum. Heimkommen aus meinem Büro, und daheim keinen einzigen Buchstaben vorfinden. Und am besten nichts reden. Reden ist Sprache.
angeekelt
Sprache. Sprechen. Würgen. Kotzen.
steht auf
So, jetzt ist‘s aber genug. Jetzt wird wieder gearbeitet. Lesen Sie, Herr Fleischer. Bitte lesen Sie meinen unveröffentlichten Roman. Als ob man nichts besseres zu tun hätte. Die “Jahrestage” wiederlesen zum Beispiel. Hab ich schon achtmal gelesen. Das ist das Großartigste, was je geschrieben worden ist. Uwe Johnson, “Jahrestage”. Sie haben ja keine Ahnung. Lassen Sie mich in Ruhe. Verschwinden Sie aus meinem Zimmer. Verschwindet! Bücher, Bücher, nichts als Bücher, keine Fotze, nur Bücher.
scheinbar ruhig
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Mir steht er eh nicht mehr. Es ist völlig egal. Fotze hin oder her. Mir bleibt die Literatut, meine geliebte Literatur. Uwe Johnson, “Jahrestage”. Tolstoj, “Krieg und Frieden”. Peter Handke, “Der Hausierer”. Warum schreibt der Mann nicht wieder so was? Warum erzählt er mir von seiner Müdigkeit. Was weiß denn der von Müdigkeit! Hat der je versucht, alle Neuerscheinungen einer Saison zu lesen? Hat der das je versucht? Kann der von sich behaupten, die Müdigkeit untersucht zu haben, wenn er noch nie versucht hat, alle Neuerscheinungen einer einzigen Saison zu lesen? Zumindest anzulesen, so zwanzig Seiten, den Klappentext noch, und fertig ist die Buchbesprechung. Hähä. Sie glauben doch nicht, daß ich all das hier lese? Das glauben Sie doch nicht allen Ernstes. Hihi.
zwinkert
Ich bin doch nicht verrückt. Ich spinn doch nicht. Ich erledige das ruckzuck. Anlesen, Klappentext, Besprechung. Da müßte ich ja nichts anderes tun als lesen. Den ganzen Tag lesen, stellen Sie sich das einmal vor! Ich hab doch noch was anderes zu tun. Ich muß ja noch all die entzückenden Möschen glücklich machen. Meine Sekretärin zum Beispiel.
blickt wie über sich selbst entrüstet.
Naja. An die Arbeit, Herr Fleischer. So ein kleiner Ausbruch ab und zu wirkt Wunder, sag ich Ihnen. Sollten Sie auch mal probieren. Oder wie wär‘s mit Lesen?
lacht wie über einen gelungenen Scherz.
Aber nicht diesen Schund hier. Johnson, Uwe Johnson. Da kommt heute keiner mehr ran.
horcht auf.
Mittagspause schon beendet? Fleißiges Ding.
ruft
Fräulein Hinterseer? Versuchen Sie bitte zuerst, Handke zu erreichen. Ob er die Güte hätte, mit mir über seinen “Versuch über die Müdigkeit” sprechen zu wollen
leise
das Arschloch
wieder laut
Und bis auf Handke persönlich noch immer keine Anrufe, bitte, ich muß noch zwei Bücher fertigmachen bis drei Uhr.
Er nimmt einen Schluck Mineralwasser, schlägt ein Buch auf, beginnt zu lesen, macht sich Notizen, nimmt einen Schluck Mineralwasser, liest, macht sich Notizen, liest, Notizen, Mineralwasser, liest, Notizen, Mineral. ###

© Werner Schuster

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