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117 JAHRE EINSAMKEIT

Bittere Armut trieb 304 Tiroler und Rheinländer vor 150 Jahren dazu, ihre Heimat zu verlassen und eine bessere Zukunft in Peru zu suchen. In der Kolonie Pozuzo kamen aber nur 156 an.


"Pfiat enk!" Am 16. März 1857 verabschiedeten sich 184 Tiroler von ihrem Heimatort Silz. Was den Auswanderern auf dem Weg nach Peru widerfahren ist, lässt sich nur als Unglück im Unglück bezeichnen. Und es gibt niemanden, dem man die Schuld daran geben könnte.

Die peruanische Regierung wollte um die Mitte des 19. Jahrhunderts 10.000 Europäer "importieren". Diese sollten beim Bau einer Eisenbahnstrecke von Lima zum Amazonas mitarbeiten: Peru wollte eine Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik schaffen, um die Hauptstadt Lima zu einem wirtschaftlichen Zentrum zu machen. Europa wurde von einer lang anhaltenden Wirtschaftskrise geplagt, welche eine Massenemigration auslöste: Zwischen 1820 bis 1930 verließen 50 Millionen Europäer ihre Heimat; das entspricht etwa einem Fünftel der damaligen Gesamtbevölkerung. Die Auswandererströme bewegten sich fast ausnahmslos in Richtung USA. Um die Menschen nach Südamerika zu bekommen, bedurfte es einiger Anstrengungen.

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Eines von mehreren peruanischen Besiedlungsprojekten – und das einzige realisierte – wurde von dem jungen Weltenbummler Kuno Damian von Schütz-Holzhausen geleitet, dem die peruanische Regierung versprach, den Einwanderern Grundstücke und Felder sowie eine Versorgung bis zur ersten Ernte zur Verfügung zu stellen – und eine Straße zum versprochenen Tal zu bauen.

Schütz warb zuerst in Deutschland um Ausreisewillige. Wegen zu geringen Interesses wandte er sich bald an die Tiroler Bevölkerung. Dort verursachten Missernten existenzielle Not in den – infolge der Napoleonischen Kriege – zerstörten Städten und Dörfern. Im Oberinntal und im Vinschgau schickte man die Kinder über den Sommer ins Schwabenland arbeiten. Die Landesregierung erließ ein Heiratsverbot für alle, die nicht nachweisen konnten, dass sie eine Familie zu ernähren imstande waren.

Die armen Tiroler waren für die viel versprechenden Peru-Inserate empfänglich. Schütz wusste zu diesem Zeitpunkt selbst nicht, dass er seine Zusicherungen nicht würde halten können. Er beabsichtigte vielmehr, eine Musterkolonie zu errichten, und plante, den Auswanderern mittles eines Lehrers und eines Geistlichen in der Fremde Halt zu geben. Über kirchliche Vermittlung kam er an den Richtigen: an Pfarrer Joseph Egg, der die Emigranten auswählte, erwies sich als Stütze der Menschen bei der katastrophalen Reise und später beim Aufbau von Pozuzo.

Massenhochzeiten


Im März 1857 legten die Auswander die erste Etappe zu Fuß zurück – 120 Kilometer bis nach Augsburg, aus späterer Sicht ein Spaziergang. Dort trafen sie auf 120 deutsche Emigranten und wurden mit dem Zug nach Antwerpen gebracht, wo – weil das Heiratsverbot hier nicht mehr galt – eine Massenhochzeit abgehalten wurde. Gleich darauf folgte die erste Enttäuschung: Mehr als ein notdürftig umgebauter Frachtsegler hätte Schütz‘ Budget überschritten. So waren die Reisenden in kleinen, rasch errichteten Kojen im Frachtraum untergebracht, der nur von vier kleinen Luken belüftet wurde – nicht jedoch bei Schlechtwetter, und es herrschte oft Schlechtwetter auf dieser knapp vier Monate dauernden Seefahrt, während der sieben Menschen starben und drei Kinder zur Welt kamen.

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Endlich in Peru angekommen, wurden die Einwanderer von Schütz mit einer Notlüge empfangen: Sie sollten eine vorläufige Ansiedlung beziehen, um sich ans Klima zu gewöhnen. Er verschwieg, dass noch nicht einmal damit begonnen worden war, die versprochenen Straße ins Siedlungsgebiet zu bauen. Ein Regierungswechsel und gezielte Intrigen gegen die katholischen Einwanderer durch einflussreiche protestantische Kreise im Land hatten dies verhindert.

Nach kurzer Erholung ging es für die Immigranten zu Fuß weiter. Drei Wochen brauchte man für die erste Etappe über 200 Kilometer bei schlechter Versorgung in immer unwegsamerem Gebiet. Vor und währender der Rast im – auf 4360 Metern Höhe liegenden – Cerro de Pasco sprangen viele der ledigen Handwerker ab und suchten sich Arbeit. Die Familien – von den Indios als "Zigeuner" bezeichnet, so zerlumpt und verhungert sahen sie aus – hatten noch 340 Kilometer vor sich. Mehr als zehn Kilometer am Tag vermochte diese Truppe im hochalpinen Gelände nicht zu schaffen. Bald wurde es so unwegsam, dass man auf Tragtiere verzichten und die komplette Ausrüstung selbst schleppen musste. Nach fünf Wochen erreichte man den Ort der "vorläufigen Ansiedlung" – kurz bevor die Regenzeit anbrach. Rasch errichtete man provisorische Hütten, in denen die Auswanderer dahinvegetierten.

Sobald es das Wetter erlaubte, machten sich die Erschöpften und Hungernden mit moralischer und physischer Unterstützung durch Pfarrer Egg daran, statt der Straße wenigstens einen Saumpfad anzulegen. Als man im Mai 1858 endlich Pozuzo erreichte, waren von den 304 aufgebrochenen Auswanderern 35 gestorben und etwa 120 abhanden gekommen.
Unter der Aufsicht von Egg teilte man das Land auf und blieb dabei "unter sich": Tiroler und Rheinländer errichteten getrennte Siedlungen – vorerst als "Pendler". Die Männer machten das Land urbar, bauten Häuser (und selbstverständlich eine Kirche) und sahen von Zeit zu Zeit nach ihren Frauen und Kindern, die in der provisorischen Siedlung ein Jahr lang auf den großen Tag warteten. 1859 konnte man endgültig in die neue Heimat übersiedeln; der 25. Juli wird seither als "Kolonistentag" gefeiert.

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Von nun an ging‘s bergauf: Das Klima auf 825 Höhenmetern war auch für Europäer erträglich und der Boden fruchtbar. Ein Indiobauer versorgte die neuen Nachbarn mit Setzlingen, die Ernte – Mais, Jukka, Reis, Bananen – war reichlich, es wurden Rinder, Hühner und Schweine gehalten, zudem versorgte man sich auf der Jagd mit Rehen, Wildschweinen, Tapiren und Nagetieren.

Nach etwa zehn Jahren richtete man ein Gesuch an die peruanische Regierung, weitere europäische Auswanderer nach Pozuzo holen zu dürfen. Peru stimmte zu und wollte diesmal 5000 Europäer ins Land holen. In Pozuzo kamen schließlich etwa 180 an.
Da die Verbindungsstraße immer noch nicht in Angriff genommen worden war, lebten die Pozuziner isoliert, hielten ihre Tiroler und rheinländische Tradition aufrecht und pflegten auch ihre Muttersprache. In ihrer Heimat wusste man davon nahezu nichts. Einzig durch die Priester, die lange Zeit aus Tirol kamen, wurde die Verbindung mit der alten Heimat aufrechterhalten.


Freundeskreis für Pozuzo


Erst nach dem Besuch der "Ersten Tiroler Kordilleren-Expedition" im Jahr 1959 wurde der Kontakt intensiviert: Im Unterinntal bildete sich 1962 ein "Kreis der Freunde Pozuzos", der die Pozuziner beim Bau einer neuen Kirche finanziell unterstützte. 1980 wurde eine offizielle Gemeindepartnerschaft zwischen Pozuzo und Silz geschlossen (1997 gesellte sich die Gemeinde Haiming dazu), 1983 wurde in Silz der "Freundeskreis für Pozuzo" gegründet.

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Damals war Pozuzo – endlich – auch per Auto zu erreichen: Die für 1857 versprochene Straße war 1975 (!) tatsächlich fertiggestellt worden. Damit waren – von der Ansiedlung 1858 an gerechnet– 117 Jahre Einsamkeit beendet. Doch der so lange ersehnte Anschluss an die neue Heimat brachte nicht nur Anpassungsprobleme mit sich, da sich immer mehr Peruaner in Pozuzo niederließen, sondern auch eine Verstrickung in die politische Entwicklung des Landes. Denn 1988 rückte der "Leuchtende Pfad" in Pozuzo ein und zwang die Bevölkerung, Koka anzubauen, womit der Terrorismus finanziert wurde: Während in den größeren Städten Attentate und Bombenanschläge an staatlichen Institutionen, Banken und Hotels verübt wurden, kam es in den abgelegenen Regionen des Berglandes zu zahlreichen Massakern an der mehrheitlich indianischen Landbevölkerung. Nicht so in Pozuzo, weil dort eine Art Heimwehr aufgebaut wurde. Dennoch lebte man bis 1994, als viele Terroristen durch ein Amnestieangebot entwaffnet wurden, in ständiger Angst.

Im selben Jahr besann man sich im Ort seiner Wurzeln: Da sich Peru im Zweiten Weltkrieg an die Seite der Alliierten gestellt hatte, war in Pozuzo die Verwendung der deutschen Sprache im Schulunterricht verboten worden. Das führte dazu, dass auch in den Familien zunehmend nur mehr Spanisch gesprochen wurde. Diese wünschten sich nun Sprachlehrer aus der alten Heimat, und mit Hilfe des Freundeskreises begann 1996 der Deutschunterricht. Auch die Österreichische Entwicklungshilfe engagierte sich in Pozuzo, und zwar beim Bau einer Krankenstation und eines Elektrizitätswerkes. Mit Unterstützung von Tiroler Institutionen und Privatpersonen wurde in dem Bauerndorf mit seinen rund 1500 Einwohnern auch ein Museum und ein Kulturhaus errichtet.

Im März 2007 jährt sich die Auswanderung zum 150. Mal. Aus diesem Anlass wird eine Gruppe von Pozuzinern die Heimat ihrer Urgroßväter besuchen. Statt wie ihre Vorfahren zwei Jahre, werden sie für die Reise nur zwei Tage brauchen: für die 472 Kilometer nach Lima benötigt der Bus (der allerdings nicht in Pozuzo hält, weil das letzte Stück Straße nicht asphaltiert ist) rund 15 Stunden, ungefähr so lange dauert auch der Flug nach München. Von dort ist es dann nicht mehr weit nach Silz und bis zur gegenseitigen Begrüßung: "Griaß enk!" ###

© Wiener Zeitung 2007

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